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Es gab da diese Geschichte, über die ich seit Tagen nachdachte. Das heißt, eigentlich dachte ich seit zwanzig Jahren darüber nach, doch ich hatte erst vor Kurzem erkannt, dass es eine Geschichte war. Sie hieß Das Meer hinter dem Hochhaus, und das Problem war, sie passte in einen einzigen Satz:
Neunzehnhundertsechsundachtzig ließen sich meine Eltern scheiden und ich habe diesen Sommer bei meiner Großmutter in einer großen Stadt verbracht, wo ich das Meer nur vom Dach des Hochhauses sehen konnte.
Ich war so besessen von dieser Geschichte, dass ich beschloss, so bald wie möglich meine Großmutter zu besuchen, die noch immer im neunten Stock desselben Hochhauses wohnte. Meine Großmutter war mittlerweile ziemlich alt, aber sie ging immer noch täglich zum Wellenlegen zum Friseur und buk mit Tante Micika Torten und verzierte sie mit Marzipankarotten und -blumen. Die verkauften sie dann an Geburtstagen und zu ähnlichen Anlässen.
„Wenn du bloß gesagt hättest, dass du kommst, dann hätte ich Kaninchenbraten mit Gnocchi gemacht.“ Sie wirbelte in der Küche herum. „Du bleibst doch zum Essen?! Hättest du mich bloß früher angerufen, zum Kuckuck!“
Den Sommer verbrachte meine Großmutter damit, auf den Markt zu gehen und zum Friseur, wo viele Frauen unter Hauben saßen. Großmutter kochte oft mein Lieblingsessen: Kaninchen in dunkler Soße mit Gnocchi. Nachmittags ging ich zu Tante Micika Torten backen, die wir mit bunten Marzipankarotten belegten …
„Du hast mich angeschwindelt, dass du deine Hausaufgaben machst, dabei bist du auf die Dachterrasse gerannt, um mit deinem Zane Donkov zu spielen.“
Zane Donkov büffelte für eine Nachschreibeklausur in einer kleinen Einzimmerwohnung, die er mit seinem Vater oben im Hochhaus bewohnte. Er rauchte, ging in die siebte Klasse, vielleicht würde er es in die achte schaffen, das hing davon ab. Ich hatte nichts mit solchen zu tun, die rauchten und Klausuren nachschreiben mussten.
Eines Nachmittags beschloss ich, mit dem Lift in den vierzehnten Stock zu fahren, dann die sechs schmalen Treppen hinaufzusteigen und die rote Metalltür so weit wie möglich zu öffnen … Von der Terrasse konnte man das Meer sehen. Ich kämpfte mich durch die Wäsche, einen Wald von Strümpfen, ein Feld von Bettlaken. Am Ende meines Weges sah ich einen Jungen auf der Balustrade sitzen. Seine Beine baumelten über dem Abgrund und er blies Rauchringe in den Himmel. Sein nackter Rücken war kupferbraun, er trug nur Hawaii-Bermudas, war barfuß und sein verletzter Zeh blutete. Er balancierte wagemutig auf der Brüstung, von der aus die Autos wie Spielzeug aussahen. Zane Donkov hob zum Zeichen des Grußes sein Bein und streckte mir seinen zerschundenen Zeh entgegen:
„Ohne Pflaster.“
„Aha“ — ich nickte, nicht gerade begeistert.
Zane hatte blonde lockige Haare. Er wusste vieles, was ein Junge seines Alters eigentlich nicht wissen sollte. Jeden Tag, wenn Großmutter zu Tante Micika ging, ließ ich meine Hausaufgaben liegen und eilte in den vierzehnten Stock. Dort war er Sawyer, Huckleberry Finn. Ich war manchmal Pippi, aber meistens Alice im Wunderland. Er nannte mich Rotznase, das störte mich nicht. Wenn wir nichts Besseres vorhatten, balancierten wir auf der Mauer über der Stadt. Unten konnte man, wie in einem Bilderbuch, hinter den Häusern, Parks, Plätzen und Straßen den Strand, den Hafen und ein bisschen Meer sehen, ganz blau, mit Papierschiffchen …
Großmutter breitete das Tischtuch aus und ich half ihr den Tisch fürs Mittagessen zu decken. Sie war noch immer aufrecht und schlank, färbte sich regelmäßig die Haare. Wenn sie lachte, und sie hatte ein breites Lachen wie ich, dann sah man ihren goldenen Fünfer und Siebener, links oben. Sie fragte, ob sie die goldenen durch Porzellanzähne ersetzen sollte. Früher waren Goldzähne Mode. Ich sagte ihr, dass sie schön sei, so wie sie war, dass ihre Zähne schön seien und dass Popstars sich heute Diamanten in die Zähne einsetzen ließen und dass doch alles ein und dasselbe sei. Sie war zufrieden und sagte, alle anderen Zähne bis auf die beiden seien noch ihre eigenen. Darauf schien sie sehr stolz zu sein. Die Tomatensoße duftete aus dem Topf, doch zuerst musste ich Suppe essen.
Die kräftigsten Zähne der Welt hatte Zane Donkov. Dieser Junge öffnete Flaschen mit den Zähnen, er konnte alles damit durchbeißen. Er behauptete, dass er einmal einer Taube, die immer auf die Wäsche kackte, den Kopf abgebissen habe. Zane Donkov war furchteinflößend.
Eines faulen heißen Nachmittags lagen wir unter aufgespannten Bettlaken und Frauenslips, die an der Leine hingen.
„Einmal habe ich hier Frauenunterhosen geklaut. Mein Vater hat mich verprügelt. Jetzt nehme ich sie nur kurz, wenn niemand da ist und hänge sie sofort wieder zurück.“
„Was willst du mit Frauenunterhosen?“
„Ach, du Baby. Haha, was ich damit will? Na, alles Mögliche, an ihnen riechen …“
„Igitt.“
„Aber das ist besser, wenn sie schmutzig sind.“
„Du bist widerlich und ein elender Lügner!“
„Meinst du? Ich beweise dir, dass ich das nicht bin. Na, was guckst du denn so erschrocken, fang mir bloß nicht an zu heulen. Haha, bist du ein Grünschnabel. Bestimmt hast du noch nie in echt einen nackten Menschen gesehen.“
„Stimmt nicht, jeden Morgen sehe ich den Hintern meiner Großmutter, wenn sie ihr Nachthemd auszieht!“
„Den Arsch deiner Großmutter. Pff, das zählt doch nicht, ich werde noch verrückt mit dir!“
Er stützte sich auf die Ellbogen und schüttelte wichtigtuerisch seinen schönen Kopf, dann nahm er die letzte Zigarette aus der Schachtel. Ich nahm die ersten zwei Züge, unterdrückte die Tränen in den Augen und den Husten im Hals:
„Mir reicht’s, ich habe heute keine Lust“, brachte ich gerade noch hervor.
Er stieß Rauchwolken durch die Nase aus und erzählte:
„Ich war noch jünger als du, da hatte ich schon die Ärsche von fast allen Mädchen in der Schule gesehen. Ich ging immer ins Mädchenklo, kletterte auf die Klobrille und linste über die Trennwand ins Klo nebenan. Bis eines Tages die Lehrerin von den Erstklässlern Durchfall kriegte und ins Frauenklo gerannt kam. Das hat so gestunken, ich also raus wie der Blitz und da haben sie mitgekriegt, dass ich aus dem Frauenklo kam. Ein paar Petzen haben sich beschwert, dass sie mich beim Spannen gesehen hätten und der Schulrat ist mir aufs Dach gestiegen. Aber das war echt Kinderkram. Kennst du Vanessa aus der Siebten?“
Ich kannte Vanessa, sie kam in diesem Jahr aufs Gymnasium und wohnte gegenüber von Tante Micika.
„Also, sie hat mich rangelassen, ich meine, ich durfte sie bumsen. Schon dreimal.“
Er schaute mir in die Augen und spuckte den Zigarettenstummel bis zum Rand der Terrasse. Ich fühlte, wie mein Gesicht brannte.
„Willst du sehen, wie?! Guck, so!“
Er rollte sich über mich und drückte mir einen Kuss auf die Lippen. Mmmmmm … ich konnte weder mein Gesicht abwenden, noch meine Hände unter seinen wegziehen … alles was ich konnte, war … genau — ihn in die Nase beißen! Und nicht mehr loslassen.
„Aaaaaa. Lass los. Bar doch nur ein Bitz, Kleine. Du bist doch bein kleiner Kumpel. Bist du böse, beil ich dich geküsst habe? He, lass los! Bach ich nie bieder, Ehrenbort!“
Innerhalb von einer Sekunde war ich einige Stockwerke tiefer. Rote Peperoni, aber nicht ganz so scharf.
Sie reichte mir schon den zweiten Teller mit Nudeln und streute gelben Parmesan über die rote Tomatensoße.
Im alten Kassettenrekorder lief ständig dieselbe Kassette: A-Seite — Tereza Kesovija, B-Seite — Oliver Dragojević, überspielt von der Top Ten. Das war mein Werk, begonnen, wie es der Moderator akustisch dokumentierte: am ersten Samstag im August des Jahres sechsundachtzig. Meine Eltern ließen sich scheiden und ich habe diesen Sommer bei meiner Großmutter in einer größeren Stadt verbracht, wo man das Meer nur vom Dach des Hochhauses sehen konnte.
Ich dachte an meine Ein-Satz-Geschichte. Alles, was ich darüber hinaus hinzufügen könnte, schien mir überflüssig. Die ganze dramatische Spannung, Atmosphäre, Verwicklung, der Höhepunkt und die Auflösung dieses Sommers passten in einen Satz. Ich könnte weiter erzählen, nach der verlorenen Zeit suchen, auf zweiunddreißig Seiten lamentieren, mit der Türklinke von Großmutters Wohnungstür in der Hand. Ich könnte auch erzählen und lügen, ich weiß, aber ich werde ehrlich...
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