3. Hochsensibilität
Zu allen äußeren Umständen hat meine Wesensart die Auswirkungen verstärkt. Ich war schon immer ein sehr feinfühliger, dünnhäutiger Mensch, habe eine erhöhte Wahrnehmung und tiefere Informationsverarbeitung. Das führte dazu, dass ich später im Leben das Gefühl hatte, nicht in diese Welt zu passen.
Es gab damals noch keinen Namen für diese Hochsensibilität. Es hatte noch keiner auf dem "Schirm". Deshalb hörte ich auch Sätze wie "Nimm Dir das alles doch nicht so zu Herzen!" oder "Du bist so sensibel!", die ja völlig stimmten, aber nicht als Wesensart verstanden oder eingeordnet werden konnten, da schlichtweg das Wissen darüber fehlte. Und wieder schlussfolgerte ich, dass ich nicht verstanden werde, mit mir etwas nicht stimmt und ich falsch bin. Über dieses Entwicklungstrauma, welches durch meine Hochsensibilität nur noch verstärkt wurde, konntest Du gerade den Fachbeitrag im 1. Kapitel lesen. Die Hochsensibilität war dabei nicht das Problem, sondern der Umgang damit.
Heute weiß ich, dass es sich bei mir um eine angeborene Hochsensibilität handelt. Manche Symptome sind durch das Verarbeiten des Traumas zurück gegangen und somit ist auch die erworbene Sensibilität zurück gegangen. Ein Symptom ist aber immer an eine Krankheit gebunden, was die angeborene Hochsensibilität überhaupt nicht ist - somit lässt sie sich auch nicht diagnostizieren oder behandeln. Um es ganz kurz zu beschreiben, würde ich sagen: Hochsensible Menschen reagieren neurologisch schneller auf nervliche Impulse, die gleichzeitig weniger gefiltert werden, weil das Nervensystem durchlässiger ist. Der intensiven Wahrnehmung folgt eine ebenso intensive Verarbeitung der Reize. So lässt sich beispielsweise eine erhöhte Geräusch- und Lichtempfindlichkeit erklären. Außerdem haben hochsensible Menschen eine starke Gefühlswelt. Ausführlicher kannst Du es im folgenden Fachbeitrag nachlesen:
FACHBEITRAG: Was ist Hochsensibilität?
Der Begriff wurde in den 1990-er Jahren von Elaine Aron geprägt und beschreibt ein psychologisches Modell. Ganz wichtig: Hochsensibilität nach Aron, die angeboren ist (es gibt auch eine erworbene Hochsensibilität durch Trauma) ist KEINE Krankheit, daher lässt sich Hochsensibilität auch nicht diagnostizieren. Hochsensibel IST man, man HAT keine Hochsensibilität.
Auf der Basis von Arons Forschungen ergeben sich 4 Merkmale dieser Hochsensibilität (nachfolgend HS genannt):
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eine tiefere Informationsverarbeitung
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eine leichtere Erregbarkeit des Nervensystems
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eine starke Gefühlswelt
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eine höhere Wahrnehmung auch für leichte Reize
15 - 20 % der Bevölkerung werden zu den Personen mit dem Wesensmerkmal der HS gezählt. HS wird vererbt, manchmal überspringt sie auch eine Generation. Als einen weiteren Faktor sieht Aron die Sozialisation, also den Umgang der Umwelt mit dieser Andersartigkeit:
In welchem Maße erfährt der kleine Mensch Rückhalt und Bestärkung seines Wesens? Wird die Selbstständigkeit gefördert und auch angemessen wahrgenommen, wann Hilfe benötigt wird?
Wie steht der hochsensible Elternteil zu seiner eigenen Hochsensibilität: Kann er sie annehmen oder versucht er, bei seinem Kind die HS "abzutrainieren" oder es in Watte zu packen, weil er diese Begabung bei sich selbst unterdrücken musste?
Hochsensibilität und Test
Wie bereits oben erwähnt, ist die HS eine Charakterprägung und keine Krankheit gemäß ICD 10. Somit kann HS auch nicht diagnostiziert werden. Oftmals ist der Wunsch nach einer Diagnose der damit verbundene "Beweis" der eigenen Andersartigkeit für die Umwelt und die Hoffnung, jetzt endlich besser verstanden zu werden und sich abgrenzen zu können.
HS ist ein psychologisches Modell, das die Facetten, die eine angeborene HS mit sich bringt, verstehbarer und handhabbarer machen möchte. Gleichzeitig ist die HS kein Stempel oder eine Schublade, denn wir sind alle immer noch Individuen.
Zu differenzieren, wo HS anfängt und wo sie aufhört, ist schwer zu sagen, da hochsensible Personen (HSP's) oftmals auch Trauma in sich tragen.
Kritik am Modell der Hochsensibilität
Kritiker sind der Meinung, dass das Modell der HS immer einen pathologischen Hintergrund hat. Wenn auch gleichwohl dies der Fall sein kann, bestreitet Aron die Beständigkeit dieser Aussage vehement. Auch ich selbst als hochsensible Person kann dieser Behauptung nicht zustimmen.
Es gibt aktuell keine mir bekannte neurophysiologische Theorie, die das Modell der HS anerkennt, auch wenn es gleichzeitig viel empirisches Wissen darüber gibt. Der Nutzen des Modells ist jedoch aus meiner Sicht (und auch aus dem Erfahrungsalltag von Kollegen) eine enorme Bereicherung für Menschen mit einer hohen Sensitivität: Hierin finden sie sich wieder, können aufatmen, "weil es noch andere gibt, denen es so geht wie mir", "ich bin also gar nicht so verkorkst" usw.
Worin genau die Ursache der hohen Sensibilität liegt, ist noch nicht völlig erforscht: Liegt es an einem feiner ausgeprägten Nervensystem, dass wir differenzierter und tiefer wahrnehmen? Bilden HSP mehr Rezeptoren im Gehirn aus, werden mehr Botenstoffe produziert oder haben wir mehr Spiegelzellen, aufgrund derer wir uns so gut in andere Menschen hineinversetzen können?
Die Eigenschaft der Hochsensibilität gibt und gab es übrigens in allen Völkern und Kulturen. Unterschiedlich ist, wie diese Begabung geschätzt und willkommen geheißen wird.
Die Anlage zur Hochsensibilität beschränkt sich nicht nur auf Menschen, man findet sie auch im Tierreich wieder.
Die Hochsensibilität bringt viele positive Aspekte mit sich, zum Beispiel die Fähigkeit, Gefühle intensiv wahrzunehmen. Hochsensible Menschen gelten häufig als gute Zuhörer, sind empathisch und zeichnen sich durch eine gute Körperwahrnehmung aus. Hochsensible sehen typischerweise die Stärken anderer oft klar und deutlich, nur die eigenen Stärken werden mit Sätzen wie "Das ist doch selbstverständlich und nichts Besonderes" oder "Das kann doch jeder" heruntergespielt.
Als ich in meiner Selbstfürsorge und der Fähigkeit, gute Grenzen zu setzen noch am Anfang stand, habe ich mich im Winter viel wohler gefühlt als im Sommer, da in dieser Jahreszeit weniger Menschen draußen unterwegs sind, man wird nicht so oft zu Feiern eingeladen, für die man sonst irgendwelche Ausreden bräuchte, weil die Menschenmassen und die Lautstärke und überhaupt alle Eindrücke über viele Stunden einfach zu viel sind für hochsensible Menschen. Oft überging ich meine Grenzen, weil ich einfach dazugehören wollte - einer von mehreren Punkten, wo ich mir durch die Betäubung von Alkohol "Hilfe" erwartete und diese auch kurzfristig bekam - allerdings unterm Strich zu einem hohen Preis.
FACHBEITRAG: Stärken hochsensibler Menschen
HSP's sind Meister darin, die Stärken bei anderen Menschen zu erkennen; ihre eigenen Stärken stellen sie meist unter den Scheffel. Eigene Fähigkeiten erscheinen ihnen oft ganz selbstverständlich.
Auch fällt HSP's eher das auf, was sie nicht so gut können und wo ihre Schwächen liegen.
Deshalb ist es wichtig, den Fokus auf die Stärken zu lenken - und davon gibt es eine ganze Menge:
HSP's verarbeiten Informationen auf einer tieferen und vernetzteren Ebene. Das bedeutet, dass sie in ihre Überlegungen viele Faktoren mit einbeziehen, diese dann in Zusammenhang bringen und abwägen. HSP's denken nicht langsamer, sondern mehr!
HSP's sind sehr reflektiert und an persönlicher Weiterentwicklung und Bewusstheit interessiert. Diese Reflektiertheit lässt sich bereits im Kindesalter erkennen.
Auch ökologisches Denken ist eine Stärke: Es werden nicht nur kurzfristige, sondern auch mittel- und langfristige Folgen einer Entscheidung mit einbezogen, was z. B. besonders bei größeren beruflichen Projekten sehr nachhaltig ist.
Apropos Nachhaltigkeit: Auch bei Ernährung und Umwelt setzen viele HSP's einen Schwerpunkt und leisten einen positiven Beitrag. Überdurchschnittlich häufig ernähren sich HSP's vegetarisch oder vegan.
Hochsensible haben eine große Empathiefähigkeit. Das heißt, sie können sich sehr gut in andere hineinversetzen, sind sehr mitfühlend und können die Gedankengänge anderer verstehen. Wenn die eigene Abgrenzungsfähigkeit noch nicht so stabil ist, kann diese Empathiefähigkeit manchmal so weit gehen, dass HSP's in den Gefühlen ihres Gegenübers "schwimmen". Es kann sich dann anfühlen, als ob die Gefühle des anderen die eigenen Gefühle sind.
HSP's sind sehr werteorientiert! Ethische und soziale Werte wie Rücksichtnahme, Gerechtigkeit und Verschwiegenheit sind vielen HSP's überaus wichtig. Wenn sie z. B.im Berufsleben gegen ihre Werte und Überzeugungen...