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Alles Zurufen, Pfeifen und Winken hatte nichts gebracht. Der Nackte, der da oben auf dem First des alten Mausoleums saß, sicherlich acht Meter über dem Erdboden, schien wie entrückt.
Für die Männer der Freiwilligen Feuerwehr Gmünd war es eine Hetz, eine noch nie da gewesene Ablenkung. Sie riefen Dimsch zu, er solle doch herunterkommen, in der Hoffnung, dass er es nicht täte, schrien, er möge doch bitte Vernunft annehmen, und fürchteten für diesen Fall um einen Einsatz, über den noch ihre Enkelkinder reden würden. Gegenüber dem Lokalreporter, den sie herbeigerufen hatten, sprachen sie von einer großen Herausforderung, könnten sie hier, mitten auf dem Friedhof, doch weder mit dem Einsatzwagen anrücken noch die automatische Leiter verwenden. Neben Bürgermeister, Pfarrer, Verwandten, Bekannten und Polizei wurde auch die Familie Habsburg-Lothringen informiert, war es doch das Mausoleum ihres Urahns Erzherzog Sigismund von Österreich, des kaiserlich-königlichen Feldmeisters und ehemaligen Inhabers des Infanterieregiments 45, auf dessen Dach ein nackter Irrer hockte.
Nach ausgiebigem Fachsimpeln und Beratschlagen gab der Feuerwehrkommandant endlich den Befehl, eine ausziehbare Leiter flach gegen die Dachschräge zu lehnen. Möglichst sachte freilich, möglichst leise, der Irre sollte nicht verrückt gemacht werden.
Es war bemerkenswert still, stiller noch als sonst auf dem Friedhof in Gmünd, als die Aluminiumleiter scheppernd aufschlug. Drei, vier Dachziegel lösten sich, polterten nach unten, krachten auf den Asphalt. Einige Zuschauer sprangen erschrocken zur Seite. Nur einen rührte das Spektakel nicht: den Mann auf dem Dach. Alles, was er tat, war, seinen Blick vom Himmel zu lösen. Jetzt erst bemerkte Dimsch, weshalb er derart fror die längste Zeit. Er war ja nackt!
Der junge Feuerwehrmann, der hinaufstieg, hatte keine allzu konkrete Vorstellung, was zu tun sei, würde der Wahnsinnige nicht rechtzeitig, also bevor er bei ihm angelangt wäre, vom Dach springen.
Spring, Narrischer, bitte spring, dachte er in einem fort, betete es geradezu. Unten standen die Kollegen mit einem Sprungtuch, der Kommandant hatte Vorkehrungen getroffen.
Wie, dachte der rotbackige Bursch und stieg höher von Sprosse zu Sprosse, wie redet man eigentlich mit einem Verrückten? Und was, wenn er mich attackiert? Was, wenn er zu toben beginnt? Wie handeln, wenn er überhaupt nicht reagiert? Und wo, verdammt, den Nackerten angreifen? Die Kameraden würden sich gewiss bucklig lachen, packte er aus Versehen an einer dummen Stelle zu. Bang kletterte er weiter.
Als er nur noch eine Körperlänge vom Dachfirst und also vom Verrückten entfernt war, hatte seine Fantasie ausreichend Zeit gehabt, ihn in Panik zu versetzen. Seine Knie schlotterten und seine Beine zitterten so hochfrequent, dass es sich anfühlte, als gingen die Knochen eine Legierung mit der Leiter ein. Der Angstschweiß stand ihm im Nacken, klebte ihm am Rücken und kroch langsam Richtung Arschritze. Verflucht, bestimmt hatten es alle Schaulustigen da unten schon bemerkt. Bei der Feuerwehr lernst du, dich in den Griff zu kriegen. Bei der Feuerwehr wirst du ein Mann, kriegst du eine Ausgehuniform. Die Verdienstmedaille in Bronze mit dreieckig eingeschlagenem rot-gelb-blauem Band hatte er sich tatsächlich gleich beim ersten Einsatz unter den Nagel gerissen. Niemanden gerettet zwar, nicht einmal eine Katze vom Baum, dafür eine Rauchgasvergiftung abbekommen, das galt auch. Lieber Gott, hoffentlich geht der Krampf in den Haxen weg, sonst haut's mich da noch runter. Tapferer Jungfeuerwehrmann bei Einsatz von Leiter gestürzt. Nach Verdienstmedaille in Bronze: Verdienstmedaille in Silber. Im Spital nach langem heldenhaften Kampf seinen inneren Verletzungen erlegen: Verdienstmedaille in Gold. Vater stolz. Mutter tränenreich. Foto in der Bezirkszeitung.
Er blickte nach unten. Dort nickte ihm der Kommandant auffordernd zu, fuchtelte energisch mit den Händen. Als der Bursche wieder nach oben sah, war der Verrückte aufgestanden.
Lautlos und mit traumwandlerischer Sicherheit schritt der Nackte den First entlang. Und teils unter Raunen, teils unter Empörungsrufen der Umstehenden nahm er an dessen Ende das steinerne Kreuz Christi zwischen die Schenkel. Aus Granit gemeißelt war das Kreuz, erhöhte plan die Vorderseite des Mausoleums, vierteilte dort oben die Luft und vereinte die derart getrennten Himmel gleichsam in seinem Zentrum.
Dimsch hatte sich auf dem Querbalken niedergelassen und umschlang das Symbol der Heiligen Römischen Kirche. Für die aufgewühlten, zumeist älteren Schaulustigen musste es wirken, als wollte der Nackte das Kreuz beschlafen. So sehen die Gaffer da unten meinen Pimmel nicht, dachte Dimsch. Das Kreuz, glaubte er, wäre ihm Schutz.
Die Feuerwehrmänner stolperten mit dem Sprungtuch zum Portal. Dimsch indes sah zur Seite. Wie violett der Himmel war und wie weit zu sehen an diesem Morgen! Bis weit ins Tschechische. Im Südwesten der Madelstein, der Wachtberg, bis zum Freiwald reichte der Blick. Und über all dem dieser herrliche Himmel, diese lichtdurchdrungene Farbenpracht: Zyklam, Rosa, leuchtendes Orange! Dimsch atmete ein. Die Farben des Himmels schmeckten wie kühles Engelshaar.
Den anderen schien der Himmel einerlei, sie gierten nur nach ihm. Dimsch streckte den Arm aus, rief »Schaut doch!«. Und als all die Menschen sich umwandten und ihren Blick in den Himmel dieses klaren, kalten Morgens tauchten, nutzte Dimsch die Gelegenheit, stieg auf den Querbalken des Kreuzes, schloss die Augen und sprang. Die Feuerwehrmänner erschraken, als wie aus dem Nichts etwas vom Himmel raste. Als schösse ein Cherub, weißhäutig, spinnenbeinig, stoppelglatzig, in ihre Mitte. Dimsch klatschte ins Tuch.
Die beiden Polizisten wollten bei all den Leuten keinen mimosenhaften Eindruck hinterlassen. Kurzerhand zerrten sie Dimsch vom Sprungtuch, fixierten ihm die Arme auf dem Rücken. Die Raffinesse bestand darin, den Nackten sicher im Griff zu behalten und dennoch nicht allzu intensiv mit ihm in Berührung zu geraten. Als müssten sie radioaktiven Stoff entsorgen, schoben sie Dimsch mit gestreckten Armen Richtung Friedhofsausgang und waren überrascht, wie professionell die Sache vonstattenging.
Beim Wagen angelangt, kam den Beamten der Gedanke, eine Decke wäre nicht schlecht, zum Schutz der Rückbank. Weiß Gott, zu welchen Sauereien der Nackerte imstande war.
»Gebt ihm wenigstens eine Decke!«, rief beinahe zeitgleich eine Frau.
Da bemerkten die beiden, dass sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten. Etwas umständlich wickelten sie die Pannendecke um den Verhafteten, verfrachteten ihn in den Fonds des Wagens.
Blaulicht und Sirene wären nicht nötig gewesen, aber wann, wenn nicht jetzt, sollten sie das Signalhorn einschalten? Die Stimmung schrie geradezu danach. Mit quietschenden Reifen verließ die Polizeistreife den Friedhofsparkplatz, driftete um die Ecke, kollidierte dabei ums Haar mit einem parkenden Auto und verschwand schließlich aus dem Blickwinkel der Schaulustigen.
»Rast doch nicht so«, bat Dimsch im Wageninneren.
Nach wenigen Hundert Metern bremste sich das Dienstfahrzeug vor dem Polizeigebäude ein.
Die Niederschrift des Protokolls besorgte der Fahrer, das Vorlesen sein Kollege. Er beugte sich nach vorne und stellte, langsam vom Blatt rezitierend, vier Straftatbestände fest: Hausfriedensbruch, Beschädigung fremden Eigentums, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Störung der Totenruhe.
Dimsch schüttelte über alles nur den Kopf. Ihm war mulmig vom vielen Bier und er war schrecklich müde. Als der Beamte allerdings auch von Leichenschändung zu reden begann, geriet Dimschs spontane Reaktion heftig, sodass noch Vandalismus und Widerstand gegen die Staatsgewalt hinzukamen. Der Irre war gefährlich, es war nicht anders zu erwarten gewesen.
Die Polizisten waren gespannt, was Doktor Porsts, der alte Amtsarzt, zu dem Fall sagen würde. Er wusste gewiss mit dem Verrückten umzugehen. Doktor Porsts galt als Legende in der Gegend, als Arzt alter Schule, der mit jeder Verzwicktheit zurande kam. Nachdem sich die Polizisten telefonisch angekündigt hatten, klopften sie an die Tür seines Behandlungszimmers.
Porsts war ein schmächtiges Männlein mit einem weißen, bleistiftschmalen Oberlippenbärtchen. Ruhigen Blicks beäugte er Dimsch, der ihm in Handschellen zugeführt wurde, besah diesen langen, schlaksigen Kerl, der, in eine schäbige Decke gewickelt, schließlich vor ihm auf dem Holzsessel kauerte und seinen kahlen Schädel rieb. Und sonst nichts tat. Nichts sagte, nichts antwortete, auf nichts reagierte. Obgleich Porsts gelernter Zahnarzt war und nicht Psychiater, fiel es dem Amtsarzt leicht, neben Unterkühlung und Alkoholisierung hochgradige Verwirrtheit sowie Apathie zu diagnostizieren. Da ihm das als Diagnose bei einem ganz offensichtlich Geistesgestörten unzureichend schien, fügte er kurzerhand auch noch Wahnvorstellungen hinzu. Das, sagte er sich und zupfte an seinem...
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