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RICHARD
Paris, Juni
Inga Beart verlor so vieles in Paris, dass es ihren Biografen gar nicht einfiel, ihre Schuhe zu erwähnen. Damals berichteten mehrere Zeitungen, sie sei barfüßig an Bord des Schiffes gegangen, das sie zurück nach New York bringen sollte. Es hieß, sie habe den helfenden Arm des Schiffsarztes zurückgewiesen und sei dann auf Zehenspitzen übers Deck getappt. Meines Wissens jedoch hat niemand je zu klären versucht, was eigentlich genau mit ihren Schuhen passiert ist. Sie waren rot, mit hohen, schmalen Absätzen, und Historiker meinen, während ihrer gesamten Karriere sei sie in der Öffentlichkeit kaum jemals ohne diese Schuhe gesehen worden. Als sie Frankreich 1954 verließ, waren ihre roten Schuhe einer ganzen Generation von Lesern ebenso bekannt wie die blassen Augen und tintenfleckigen Lippen auf dem Umschlagfoto oder die Art und Weise, wie sie noch der schlichtesten Phrase etwas Feines, etwas Lyrisches entlocken konnte.
Ich mache den Biografen keinen Vorwurf, dass sie ihren Füßen kaum Aufmerksamkeit gewidmet haben. Im Vergleich mit dem gewalttätigsten Ereignis in Inga Bearts kurzem Leben wird ihnen der Umstand, dass ihre Schuhe fehlten, wie ein geringfügiges Detail erschienen sein, und Gelehrte konzentrierten sich stattdessen auf die letzten Zeilen, die sie auf dem Schiff zurück nach Amerika geschrieben hatte - ein Geständnis, obwohl niemand es glauben mochte, in die Farbe ihrer Koje geritzt, mit einem Bleistiftstummel, den sie unter der Zunge versteckt hatte. Denn da war ihr alles andere natürlich längst genommen worden.
Von allen offenen Fragen, die in Bezug auf Inga Bearts letzte Monate geblieben sind, beschäftigt mich das Verschwinden ihrer roten Schuhe am meisten. Jahrelang hatte ich daran gedacht, nach Paris zu fahren, um vielleicht selbst herauszufinden, was damit passiert sein mochte, obwohl ich natürlich wusste, dass es so gut wie unmöglich wäre, knapp fünfzig Jahre später noch Hinweise auf das Schicksal eines Paars Schuhe zu finden. Ich hatte einige Historiker danach gefragt, doch die zuckten nur mit den Schultern oder musterten mich skeptisch - diesen alten Mann, der sich für ein Paar Pumps interessierte, die längst zu Staub zerfallen waren. Sie müssten wohl in Paris geblieben sein, erklärte man mir. Mit diesen Schuhen hätte sie ohnehin nichts mehr anfangen können, nachdem die Krankenschwestern ihre Sachen gepackt und sie auf den Heimweg geschickt hatten.
Damit könnten die Historiker Recht haben. Ich weiß über Inga Beart nicht mehr als alle anderen. Ich bin meiner Mutter nur ein einziges Mal begegnet, und als ich ihren Besuch datieren wollte, war niemand bereit, mir dabei zu helfen. Nicht nur Tante Cat, auch der Rest der Familie bestritt rundweg, dass dieser Besuch je stattgefunden hatte. Ich weiß nur, dass ich nicht älter als drei gewesen sein kann, denn an meinem vierten Geburtstag war sie schon in Paris, und als sie dann zurückkam, hätte natürlich niemand zugelassen, dass ich sie in ihrem Zustand zu sehen bekam.
Die Details jenes Tages, an dem sie mich besuchen kam, haben sich derart mit Szenen aus alten Filmen und Bruchstücken ihrer zahllosen Biografien vermischt, dass ich nicht mehr sicher sein kann, was damals tatsächlich passiert ist und was ich mir in meiner Fantasie später ausgemalt habe. Die Erinnerung ist zu detailliert für einen kleinen Jungen, das will ich gern zugeben, aber ich habe gelesen, dass die Erinnerung an scheinbar wahllose Informationen bei Kindern in diesem Alter manchmal bemerkenswert zutreffend ist. Und obwohl es recht selten vorkommt, muss es wohl auch auf mich zutreffen, denn ich erinnere mich so deutlich an die Schuhe meiner Mutter, dass ich sie noch heute vor mir sehe, wenn ich nur die Augen schließe.
Die Erinnerung ist umrahmt von etwas, das wie eine Spitzendecke aussieht, vermutlich aber Tante Cats Plastiktischdecke ist, was mich zu der Vorstellung veranlasste, ich hätte mich während des Besuchs meiner Mutter unter dem Tisch versteckt. Der Rest meiner Erinnerung - eine blaue Tür, eine zerbrochene Teetasse - passt nicht recht zu Tante Cats Küche. Das alles muss später hinzugekommen sein. Doch der Anblick dieser Schuhe gehört mir allein. In den Stunden oder auch nur Minuten, die ich dort unter dem Tisch verbracht habe, während sie und Tante Cat sich unterhielten, konnte ich mir einen Teil von Inga Beart aneignen, der sämtlichen Verlegern und Forschern und Fans und Reportern und selbst Tante Cat und den Ärzten entgangen war. In der gesamten Literatur findet sich - so detailliert ihr Leben auch beschrieben sein mag - keine einzige Erwähnung ihrer Schuhe, die so präzise wäre wie meine Erinnerung. Einigen Biografen habe ich zu erklären versucht, dass ich sie mir genau ansehen konnte, aber niemand schien sich dafür zu interessieren, und in ihren Büchern schrieben alle das, was Tante Cat gesagt hatte, dass nämlich Inga Beart nie bei uns gewesen sei.
Man kann sich im Leben jedoch nur weniger Dinge wirklich gewiss sein, und wahrscheinlich hatten diese Biografen und Uniprofessoren ihr Kontingent an Gewissheit schon anderweitig verbraucht. Einmal bin ich ihr begegnet, das weiß ich genau, und im Laufe der Jahre habe ich mir, wenn ich nicht schlafen konnte, die Füße meiner Mutter eingeprägt. Ich sah, wie ihre Knöchel zuckten, als flatterten kleine Vögel unter der Haut. Ich kannte das weiche Leder und das Rot dieser Schuhe genau, und ich sah die Stellen, an denen sie zerkratzt und geflickt waren. Für mich war das alles kein Zufall: Ich sah, dass ihre Sohle gebrochen war, bevor irgendwer sonst es bemerkte - es war die linke Sohle, einmal quer über den Fußballen gespalten, als hätte sie auf Zehenspitzen gestanden, lange, sehr lange.
Ich denke, es dürfte wohl am sinnvollsten sein, meinen Bericht mit jenem Morgen zu beginnen, an dem ich in Paris eintraf. Ich habe versucht, mich an meine ersten Momente in der Stadt zu erinnern. War da ein Geräusch, das etwas Bekanntes in mir wachrief? Oder ein Geruch, der mir fremd und doch vertraut war? Die Wahrheit ist, dass mir nach den vielen Stunden im Flugzeug alles neu und fremd vorkam. Ich weiß nur noch, dass mir - als ich endlich aus dem Airport-Shuttle auf den Boulevard de Sébastopol hinaustrat - auffiel, wie früh am Morgen es noch war.
Zu dieser Uhrzeit herrscht eine ungewöhnliche Stille, die ein Mensch vom Lande der Stadt gar nicht zutraut. Lose Fahrradspeichen klimperten ihre kleine Melodie auf dem Kopfsteinpflaster einer Gasse, und das erste Sonnenlicht fiel auf endlose Reihen milchfarbener Steinhäuser. Doch war mir nicht danach, mich an der Stille zu erfreuen. Ich machte mir Sorgen um den alten Koffer meiner Tante Cat. Die Verschlüsse hatten nachgegeben, und auf dem Gepäckkarussell lag der Koffer in einer Plastikwanne, mit Klebeband umwickelt, auf dem stand, dass mein Gepäck während des Fluges beschädigt worden war.
Ich hätte wissen sollen, dass der Koffer die Reise nicht überstehen würde, und traute mich nicht, das Klebeband zu lösen und den Koffer gleich dort auf dem Flughafen zu öffnen - ich bezweifelte, dass ich ihn je wieder zukriegen würde. Zum Glück hatte ich meine Notizen und alle wichtigen Dokumente in meiner Tasche bei mir. Im Koffer waren nur Kleidung und ein paar Bücher. Erst als der Shuttlebus schon anfuhr, fiel mir ein, dass sich unter den Büchern auch die neueste Biografie über meine Mutter befand, erst vor wenigen Monaten erschienen. Dieses Buch brauchte ich dringend für meinen Termin am nächsten Tag im Französischen Nationalarchiv, und ich war nicht sicher, ob davon in Paris ein neues Exemplar aufzutreiben wäre.
Als mir der Busfahrer also mein Gepäck aushändigte, kniete ich auf dem Bürgersteig und fing an, das Klebeband abzureißen. Ich hatte das Buch als Letztes eingepackt, ganz oben im Koffer, ohne zu bedenken, wie alt diese Verschlüsse waren und dass ein schweres Buch zuerst herausfallen würde.
Ich klappte den Koffer auf. Die Unterhemden, die ich eingepackt hatte, waren zerknüllt, als wären sie rausgefallen und wieder reingestopft worden, aber das Buch war da. Der Umschlag hatte einen Fleck bekommen, und ich holte mein Taschentuch hervor, um ihn wegzuwischen. Nicht, dass mir das Buch am Herzen gelegen hätte: Es war nur eine weitere sensationslüsterne Nacherzählung des Lebens meiner Mutter, verfasst von einem britischen Professor namens Carter Bristol. Dieser Bristol hat eine ganze Reihe revisionistischer Biografien verfasst, und wenn er darin zu geschmacklosen Schlussfolgerungen über diverse Berühmtheiten gekommen war, dann hatten ihn diese nur umso erfolgreicher gemacht. Der Umschlag des Buches - Bristols Name übergroß mitten auf dem Foto meiner Mutter - ärgert mich besonders, aber den Fleck habe ich trotzdem weggewischt. Es ist nämlich ein hübsches Foto, eines der wenigen, auf denen sie direkt in die Kamera blickt. Vor dem dunklen Hintergrund haben ihre hellen Augen etwas Unheimliches, was mich an eine Beschreibung erinnerte, die ich mal in einer Zeitschrift gelesen hatte: Inga Beart blicke aus zwei Leerstellen in die Welt hinaus, stand dort. Ihre Augen seien Lücken in der Schöpfung, die nie ausgemalt worden waren.
Ich wischte das Buch so gut wie möglich sauber und wickelte es in ein Hemd. Im Grunde sollte ich Bristol in gewisser Weise dankbar sein. Mein ganzes Leben habe ich dafür gebraucht, den Mut aufzubringen, und jetzt bin ich hier in Paris. Wenn Bristol nicht wäre, hätte ich wohl auch noch den Rest meines Lebens dafür gebraucht. Denn so sehr er die Fakten zum Privatleben meiner Mutter für seine eigenen Zwecke verdreht haben mag, scheint ihm in seinem Kapitel über ihre letzten Jahre in Paris doch eine echte Entdeckung gelungen zu sein: eine Handvoll Briefe und...
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