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Es war meine erste Auslandsreise in meinem neuen Job als SPIEGEL-Korrespondent in Brüssel. Vier Monate hatte ich im Europaviertel der belgischen Hauptstadt vor meinem Computer verbracht, weil wegen Corona so gut wie alle Veranstaltungen abgesagt waren. Es gab keine Pressekonferenzen und keine Parlamentssitzungen, keine Briefings der Kommission und keine Begegnungen mit Kollegen. Stattdessen saß ich in den ersten Monaten des Jahres 2021 allein vor meinem Bildschirm und verfolgte ein ödes Webinar nach dem nächsten. So hatte ich mir meinen Start in der Brüsseler Szene, die für ihre wirbelige Betriebsamkeit bekannt ist, nicht vorgestellt.
Umso mehr gefiel mir das Angebot einiger grüner Abgeordneter des Europäischen Parlaments, sie nach dem Abklingen der Coronawelle auf eine Informationsreise in die slowenische Hauptstadt Ljubljana zu begleiten. Das Land wurde seit mehr als einem Jahr von dem Rechtspopulisten Janez Jansa regiert, einem Gesinnungsfreund des ungarischen Autokraten Viktor Orbán und erklärten Bewunderer Donald Trumps. Im Juli würde Jansas Regierung die Präsidentschaft im Europäischen Rat übernehmen. Sie würde dann die Sitzungen der EU-Minister leiten, Vorschläge für Kompromisse erarbeiten und im Ratsauftrag die Verhandlungen mit Parlament und Kommission führen. Konnte man diese Aufgabe einem Mann übertragen, der Orbáns Modell der illiberalen Demokratie anhing? Der die Ernennung unabhängiger Kandidaten für die europäische Staatsanwaltschaft blockierte? Der gegen kritische Journalisten vorging und mithilfe orbánnaher Unternehmer aus Ungarn ein regierungsfreundliches Presseimperium aufbauen wollte? War Jansa der Propagandist einer Bewegung, so lautete die Frage, die zu einer Bedrohung für die europäische Demokratie werden konnte?
Persönlich hielt ich die Gefahr für gering. Vor wenigen Monaten erst hatte Donald Trump nach seiner ersten Präsidentschaft das Weiße Haus verlassen, unter Protest zwar und mit den hässlichen Bildern des Sturms seiner Anhänger auf das Kapitol, doch am Ende, so schien es, hatte sich die amerikanische Demokratie als stärker erwiesen. In London regierte derweil noch immer der populistische Brexit-Premier Boris Johnson. Allerdings war in den vergangenen Monaten deutlich geworden, dass der britische EU-Austritt dem Land nicht den versprochenen Aufschwung, sondern Versorgungsengpässe, Preiserhöhungen und den Exodus Hunderttausender dringend benötigter Lkw-Fahrer und Krankenschwestern beschert hatte.
Zugleich wurden die Kernländer der EU von einer neuen politischen Aufbruchsstimmung erfasst. Nach den Demonstrationen der Fridays-for-Future-Bewegung hatte die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihren sogenannten Green Deal ausgerufen, um der europäischen Industrie mit einer Klimaschutzoffensive zu neuer Stärke zu verhelfen. In Frankreich hatte Staatspräsident Emmanuel Macron zwar Sympathien eingebüßt, doch deutete alles darauf hin, dass er mit seiner dominanten Position in der Mitte des politischen Spektrums die Wahlen im kommenden Frühjahr gewinnen und Frankreich auf proeuropäischem Kurs halten würde. In Deutschland wiederum versprach die gerade gebildete Ampel-Regierung, sich nach den lähmenden Jahren der Schwarz-Rot-Bündnisse unter Angela Merkel als »Fortschrittskoalition« für Ökologie und Ökonomie zu bewähren. Stets, so hieß es an zentraler Stelle ihres Regierungsabkommens, werde die Bundesregierung das europäische über das nationale Interesse stellen. Die populistische Welle, so mein Eindruck in jenen Tagen, hatte ihren Höhepunkt womöglich schon überschritten.
Doch dann machten mir mehrere Recherchen und Begegnungen klar, dass meine Annahme wahrscheinlich zu optimistisch war. Die ersten Zweifel weckte meine Reise mit den Grünen-Politikern nach Ljubljana. In der gut zwei Millionen Einwohner zählenden ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Slowenien, diesem Postkartenland zwischen Adria und Alpen, schien der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft besser gelungen zu sein als in den meisten übrigen Staaten des untergegangenen Kommunismus. Das höchste Pro-Kopf-Einkommen im ehemaligen Ostblock, ein stetiger Strom ausländischer Investitionen und eine geringe Armutsquote zeugten von einem Wohlstand, der nirgends so ins Auge sprang wie im blühenden Ljubljana, einer quirligen und sympathischen Metropole, die mit ihrer sanierten Altstadt und den belebten Straßencafés ebenso Habsburger Grandezza wie mediterrane Leichtigkeit verströmte.
Doch bei den Gesprächen, die das Parlamentarierteam mit Vertretern von Regierung und Opposition, mit Beamten von Rechnungshöfen und Antikorruptionsbehörden sowie Aktivisten von Nichtregierungsorganisationen führte, stellte sich heraus, dass sich hinter der schönen Fassade des erfolgreichen Musterstaates einige hässliche Flecken verbargen. Jansa war ein bedenkenloser Demagoge, der sich darauf verstand, mit populistischen Tiraden gegen Ausländer und Andersdenkende nach Stimmen zu fischen. Aber das war längst nicht der einzige Grund, warum seine Partei bei den jüngsten Wahlen zur stärksten Kraft geworden war. Sein Erfolg verwies vielmehr auf eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Zustand der slowenischen Demokratie in großen Teilen der Bevölkerung. Genährt hatte den Frust nicht nur die Flüchtlingskrise, bei der die Regierung zeitweise die Armee einsetzen musste, um das Weiterleiten von Tausenden Migranten zu organisieren. Ursache des Unmuts war auch die verbreitete Korruption im Land. Nach jeder Wahl pflegten sich die siegreichen Parteien, egal ob Konservative oder Sozialdemokraten, an den Früchten des Gemeinwesens zu mästen: Wichtige Positionen in Verwaltung und staatlichen Betrieben wurden mit Parteifreunden besetzt, der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf Linie gebracht, Aufträge und EU-Gelder an parteinahe Unternehmer vergeben. Das vertiefte die Gräben in der Politik und erschwerte die Arbeit jener unabhängigen Behörden, die über den rechtmäßigen Einsatz öffentlicher Mittel wachen sollten.
Der Präsident des slowenischen Rechnungshofes etwa drückte den EU-Parlamentariern eine Petition in die Hand, in der er sich gemeinsam mit seinen Kollegen aus den Datenschutz-, Bürgerrechts- und Antikorruptionsbehörden gegen »konstante und koordinierte Angriffe aus Medien und sozialen Netzwerken« verwahrte. Das ging gegen Jansa und seine Anhänger, die nach der Regierungsübernahme eine Kampagne gegen die institutionellen Aufseher gestartet hatten. Es richtete sich aber auch gegen eine verbreitete Haltung in der slowenischen Politik, die Arbeit unabhängiger Kontrollbehörden bestenfalls als »notwendiges Übel«, nicht aber »als Errungenschaft der Zivilisation« zu betrachten, wie es in dem von den Vertretern der vier Organisationen unterzeichneten Papier hieß.
Der Präsident einer Privatuniversität wiederum berichtete den Parlamentariern von seinem Ringen mit der sozialistischen Vorgängerregierung, die den Start seines nach EU-Recht errichteten Instituts unbedingt verhindern wollte. »Es gibt seit Langem einen linken Orbánismus im Land«, klagte er, »in dem sich das Establishment die Pfründe zuschiebt.«
Bei den Gesprächen in Ljubljana wurde offenkundig, dass die Demokratien Osteuropas nicht nur durch die Propaganda böswilliger Populisten bedroht waren, sondern auch durch große rechtsstaatliche Defizite und die Fehler des politischen Establishments. Es gebe »ein polarisiertes politisches Klima« im Land, das Slowenien »seit dreißig Jahren am Aufbau einer Zivilgesellschaft« hindere, sagte der grüne EU-Außenpolitiker Sergey Lagodinsky zum Abschluss des Besuchs in einem Video-Chat mit Anhängern.
Einige Monate später flatterten mir Unterlagen aus Ungarn auf den Tisch: Die Zeitungsbeiträge, Redeausschnitte und internen Dokumente belegten, mit welcher Skrupellosigkeit das Orbán-Regime nicht nur gegen unabhängige Medien, Juristen und die Opposition vorging, sondern auch gegen Unternehmen aus EU-Ländern wie Deutschland, Frankreich oder Österreich. Die Firmen hatten das Pech, in Branchen aktiv zu sein, die Orbán in ungarische Hände bringen wollte. In Wirtschaftszweigen wie dem Bau- und dem Telekommunikationssektor oder dem Einzelhandel erklärte es die Budapester Regierung zu ihrem Ziel, europäische Unternehmen aus Ungarn zu verdrängen. Erst wurden sie mit willkürlich festgesetzten Sondersteuern, behördlichen Auflagen oder Verboten belastet. Dann erreichte sie überraschend das Angebot eines orbánnahen Unternehmers, ihre Firma zu kaufen.
Es handelte sich um »Mafiamethoden«, wie nicht nur Vertreter der ungarischen Opposition feststellten, sondern Bundestagsabgeordnete der CDU, die sich mit den Fällen befassten. Die EU feierte sich wegen ihrer demokratischen Werte und rechtsstaatlichen Prinzipien. Orbán indes war es gelungen, innerhalb der Union ein autokratisches System zu errichten, das die Regeln des Gemeinsamen Marktes zynisch aushebelte. Der gerissene Regierungschef hatte die Institutionen des Staatenbundes, der sich den Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie verpflichtet fühlte, in Instrumente zur Förderung und Sicherung seiner Vetternwirtschaft verwandelt.
Etwa zur selben Zeit hatte ich ein Gespräch mit dem Brüsseler Vertreter eines großen europäischen Automobilherstellers. Die FDP versuchte gerade, in letzter Sekunde das Verbot von Diesel- und Benzinfahrzeugen in der EU zu...
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