Flut
Kapitel 1
Ein solch sonderbares Spiel von Asche, Feuer und Wachs entlädt sich hier in meiner Gegenwart. Die Flamme, die sanft mir über die Haut streicht und an jeder Stelle Erregungen verursacht, lässt mich, die vom Tagewerk Erschöpfte, kichern vor lauter Freude und dann zugleich das noch heiße Wachs, das sich um meine Fingerkuppe legt und dessen wandlungsförmige Natur mir einzige Gewissheit ist, während Rauch mir zu Kopf steigt und mich versinken lässt in der Erschaffung, Vernichtung und Neuwerdung von jenem rohen Stoff, aus dem alles Sein sich speist.
"Rachel, alles klar bei dir?", fragt eine besorgte Stimme und versetzt mich in helle Aufregung. Ich lasse von der Darbietung ab, schrecke auf und drehe mich um.
Ich erblicke Noah. Und dennoch, obwohl es nur er ist, fühle ich mich in flagranti ertappt, nicht ungleich jener Begebenheit in der Jugend, als Papa mich und Fred in munterer Verschlingung erwischte.
"Wir spielen wirklich nur!", riefen wir entsetzt aus.
Genau wie damals hebe ich meine Hände schützend vor mich, will den Anschein der Normalität wiederherstellen, ringe aber um jedes Wort, sodass mehr als ein kurzes Stottern mir nicht möglich ist. Noah derweil schaut mich besorgt an, stets dieses Sozialarbeiterlächeln, verschränkt seine Arme vor dem Bauch und wartet auf eine zusammenhängende Antwort.
"Also", beginne ich, schweige dann aber wieder.
"Diese ganzen Kerzen", sagt Noah und schreitet ins Zimmer.
Damals hatte Papa immerhin die Würde, die Tür vorsichtig wieder zu schließen, im Abgang noch zu versichern, er habe nichts gesehen, um dann brühwarm Mama alles zu erzählen, deren Blick sich auf mich durch die Offenbarung meines Interesses an einem solch schön anzusehenden männlichen Geschöpf veränderte. Sorge fand sich auch in ihren Augen und in medizinischem Übermut präsentierte sie mir mehrere Vorträge zur Übertragung von HIV und erläuterte mir in größtmöglicher Entschiedenheit, dass einzig sicherer Sex für jemanden wie mich geboten sei. Ich versank im glühend weißen Sofa, während Mutter die Maßregelung fortsetzte und sie nur unterbrach, um mich ebenso daran zu erinnern, dass ich doch das Sofa nicht beschmutzen möge mit hereingebrachtem Dreck. Und dann, ich wollte ihr schon schwören, dem schändlichem Verhalten abzutun, wandte sie sich mir erneut zu. Ihre Augen funkelten, nicht unbedingt liebevoll, aber auch nicht hasserfüllt. Sie baute sich vor mir auf und gab die Losung durch: "Hör mir jetzt zu, es ist wesentlich, dass du das verstehst. Männer sind also dein Liebesobjekt. Ich akzeptiere das."
Freude und Annehmlichkeit kehrten in den Raum zurück, ich fiel ungelenk auf die Knie, um meinen Dank stumm auszusprechen, während sie fortfuhr: "Bei Männern gilt es, sich zu hüten und stets ein Ass im Ärmel zu haben, nicht zu schnell zu handeln und unter keinen Umständen sich einfach zu zeigen und zu präsentieren. Das verstehst du doch, oder?"
"Natürlich, Mama", versicherte ich ihr und senkte meinen Kopf in Anbetung, woraufhin sie mir ein Lächeln schenkte und aus dem Raum schritt.
"Rachel, das mit den Kerzen ist zu viel geworden", sagt Noah mir und es verblasst die eben noch so wohltuende Erinnerung.
"Du hast die überall. Seit einem Jahr ersticken wir hier in Kerzenrauch."
"Nun?", frage ich, baue mich vor ihm auf und blicke auf ihn herab.
"Es ist einfach zu viel, es kostet auch so viel Geld!", antwortet er energisch, woraufhin ich einige Schritte zurücktrete, ihn meinerseits argwöhnisch mustere, bis er, der bis eben noch zum Herrscher Aufgeschwungene, sich kleiner macht und die Anklage einstellt.
"Diese Kerzen gehören einfach zum Konzept des Frauseins", erwidere ich schnippisch und verziehe mehrmals mein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse, "und ich lasse sie mir nicht nehmen. Sie verschönern unsere Wohnung. Geh doch einmal in den Single-Haushalt von einem cis heterosexuellen Mann. Da hängt kein Bild an der Wand, die Lampen baumeln verrotet von der Decke; ein Handtuch, vielleicht zwei. Und ich gebe eben eine stilvolle trans* feminine Antwort. Emanzipatorisch und befreiend ist das."
"Aber können wir sie wenigstens etwas reduzieren?", fragt er kleinlaut.
"Papperlapapp", sage ich in schneidendem Ton und wische mir die Antwort aus dem Gesicht wie eine lästige Fliege, "wir lassen es so."
"Aber .", beginnt Noah, woraufhin ich ihn unterbreche: "Denk doch einmal an die Frühphase deiner Transition. Da musstest du dich sogleich fürs Fitnessstudio anmelden, überall dieses Kreatin bunkern und wesentlich mehr Geld ausgeben für etwas, was du nicht genutzt hast. Ich habe dir das natürlich durchgehen lassen und so ist es nun mein Recht, einige Kerzen aufzustellen, was sowieso im Interesse aller ist."
"Natürlich", antwortet Noah knapp und schaut frustriert weg.
Ich nicke noch einmal, verlasse dann den Raum und begebe mich ins Badezimmer, darf dort aber nur einige Augenblicke verweilen, bis Noah hinzutritt, ängstlich im Türrahmen hängt und mich vorsichtig fragt: "Und wie geht's dir jetzt?"
Ich rasiere den unteren Teil meines Bartes und überlege, was er meinen könnte. Die letzten Monate sind unscharf in meiner Erinnerung, kaum zu beschreiben, Fragmente vermag ich herauszugreifen, dann wieder verschwimmen sie, werden zu zarten Tupfern auf einer Leinwand, aus der ich keine Kalligrafie zu formen weiß.
"Du meinst", beginne ich zögerlich, "mit mehr Östro?"
"Genau, mit mehr Östro", sagt er, blickt auf die blauen Flaschen und schiebt sie etwas zur Seite, um eine neue Ladung von Testo-Dosen gleich daneben zu stellen. Herausgefordert von seiner maskulinen Machtbekundung stürme ich ins Arbeitszimmer, nehme meinen Vorrat an Östro-Flaschen und lasse sie neben seine vier oder fünf Behältern fallen.
"Brauchst du das alles im Bad?", fragt er verwirrt. "Ich meine, das ist doch genug, um ein ganzes Rugby-Team in Femboys zu verwandeln, die nur noch Jungs im Sinn haben."
Lachend erwidere ich: "Rugby-Spieler haben immer andere Jungs im Sinn. Ich meine, gibt es einen Sport, der kryptisch-sexueller ist als Rugby?"
"Ringen vielleicht?", fragt Noah, legt einige meiner Dosen zurück in die Kiste und ruft dann aus der Küche: "Tee oder Kaffee?"
"Nun, was ist authentisch weiblicher?", frage ich amüsiert und stoße zur Gruppe in der Küche hinzu.
Erst blickt er mich verwirrt an, gibt dann aber klein bei: "Wir müssen das mit deiner Transition schon richtig machen, nicht dass du zu viel Freiheit besitzt. Es muss nun wirklich alles abgestimmt werden, damit dein Therapeut auch zufrieden ist."
Wir schauen uns die Kaffee- und Teebehälter an, untersuchen sie auf Symbole, die über deren geschlechtliche Wahrheit Aufschluss geben könnten, doch nichts will uns so wirklich helfen, die Frage zu beantworten.
"Ich meine, die Teesorte hier hat Blätter drauf", bekundet Noah, "das ist vielleicht eher weiblich, weil es so zart ist?"
Ich nehme ihm den Karton aus der Hand und wiege ihn in meinen Händen: "Beruhigt aber auch die Sinne", sage ich und zeige auf eine Aufschrift. "Nicht sehr weiblich, die emotionale Ausgeglichenheit."
"Ja, aber deswegen brauchst du es ja, um wieder ausgeglichen zu werden", wendet er ein und verschränkt die Arme, "und halt gegen das Patriarchat."
Ich kann mich der evidenten Logik seiner Beweisführung nicht ganz verschließen und doch gibt es etwas, was mir widerstrebt. Ich untersuche die Box und finde den Fehler: "Das ist ja Kamille!", rufe ich aus. "Mag ich überhaupt nicht. Mach mal lieber Kaffee."
Noah lacht und wir beginnen zu frühstücken.
"Kaffee, junge Dame", sagt er und reicht mir die schwarze Mixtur, die nur mit Mühe als "Kaffee" ausgewiesen werden kann. Ich nehme einen Schluck, unterdrücke den Brechreiz, als ich Noahs flehenden Blick bemerke, und lächele ein "Schmeckt super, Schatz", woraufhin Reste der Flüßigkeit mir durch die Zähne und auf den Boden rinnen.
Als ich die Augen das nächste Mal wieder öffne und meiner eigenen Innerlichkeit entfliehe, stehe ich vor dem Wannsee. Ich überblicke das ruhige Wasser und die wenigen Leute, die sich in dieses Wasser hineinbegeben. Ein kindlicher Erinnerungsort ist es. Hier habe ich Schwimmen gelernt, mir jene Bewegungen eingeprägt, mit denen ich auch das wilde Gewässer bewältigen kann, was der Wannsee zugegebenermaßen nicht ist. In diesem Augenblick aber empfinde ich nur Schmerz und Frustration, dass ich mich dem Wasser nicht einfach anvertrauen kann, sondern nur hilflos zusehe, wie Noah keine solche Blockade kennt und sich hineinstürzt.
"Bist du dir sicher?", ruft er mir hinterher. "Sieht doch keiner!" Dann übergibt er sich den Wellen, während ich sehnsüchtig hinterherschaue. Ich traue mich an den Rand des Sees und spüre das Wasserrinnsal, das sich um meine Haut legt, untersuche die Gischt,...