Schweitzer Fachinformationen
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Moses führte das Volk Israel aus Ägypten ins gelobte Land. Caesars Legionen eroberten Große Teile von Europa. Dschingis Khans Horden bedrohten das Abendland. Napoleons Truppen standen vor Moskau. Die Geschichte der Menschheit geht meist aus von vielen, die von einigen wenigen angeführt oder geleitet wurden. Das hat auch unsere Vorstellung der Vorgänge in der Natur beeinflusst. Wenn viele "unwichtige" Einzelne etwas zusammen durchführen, etwas gemeinsam erzeugen, dann suchen wir irgendwo nach einem König, einem Anführer, einem Befehlshaber. In der Natur aber ist das oft nicht so: Heuschrecken, Ameisen, Fische, Stare, Antilopenherden und viele andere Tiere mehr, sie alle haben keinen König, keinen Herrscher, keinen Organisator und doch haben sie alle funktionierende Gemeinschaften.
Das Ganze ist von vornherein mehr als die Summe seiner Teile - das weiß man schon sehr lange, mindestens seit Aristoteles. Und dass man aus vielen Einzelteilen ein Großes Ganzes bilden kann, erscheint auch natürlich. Aber dass viele gleiche Einzelteile sich von sich aus, unter eigener Kraft sozusagen, zu einem mit neuen, ganz eigenen Eigenschaften ausgestatteten Gesamtgebilde zusammenfinden können, ist eine noch recht neue Erkenntnis in der Naturwissenschaft. Man spricht dabei von Emergenz und Selbstorganisation. Bis dahin recht einzelgängerische Heuschrecken bilden plötzlich, aus heiterem Himmel, Riesenschwärme, die eben diesen Himmel verdunkeln und alles Pflanzliche auf ihrem Wege auffressen. Tausende von Leuchtkäfern, über Große Gebiete verteilt, senden absolut gleichzeitig periodische Lichtsignale, ohne irgendeinen Dirigenten. Ameisen erstellen komplizierte Straßennetze, ohne jeden Bauleiter oder Bauplan. Vögel und Fische bilden umfangreiche und aus vielen Tieren bestehende dreidimensionale Gebilde, die sich ausdehnen, zusammenziehen und komplizierte Manöver im Raum vollbringen - auch wieder ohne irgendeinen Regisseur oder Choreografen. Bei all diesen Vorgängen nützt es zudem wenig, ein einzelnes Tier so genau wie möglich zu untersuchen und all seine Funktionen zu bestimmen - daraus kann man das kollektive Verhalten in keiner Weise ableiten oder vorhersagen. Erst die Verbindung der vielen erzeugt die gänzlich unerwarteten Phänomene, die Vielzahl gewinnt eine eigene Existenz, eigene Eigenschaften.
Es hat sowohl Biologen als auch Physiker einigermaßen überrascht, dass Phänomene dieser Art in beiden Bereichen auftreten und dass Selbstorganisation ein sehr viel allgemeinerer Begriff ist. Der Nobelpreisträger Ilya Prigogine und sein Kollege Gregoire Nicolis in Brüssel schrieben 1977, dass "Komplexität nicht mehr auf die Biologie beschränkt sei, sondern auch in die physikalischen Wissenschaften eindringen würde". Zur gleichen Zeit - und auch in Brüssel - führte ihr Kollege Jean-Louis Deneubourg als Erster mathematische Modelle zur Beschreibung von Ameisenstaaten ein: Die Mathematik drang damit in die Biologie ein. Die Untersuchung von Selbstorganisation als allgemeines, wissenschaftliches Forschungsthema ist noch keine 50 Jahre alt und hat eigentlich erst begonnen, als man mathematische Modelle konstruierte, in denen sich viele einfache, gleichartige "Objekte" nach sehr simplen Regeln bewegten. Und diese Roboter zeigten dann recht genau das Verhalten, das in Ansammlungen vieler Tiere beobachtet worden war.
Noch vor 100 Jahren gab es Vorschläge, dass Vogelschwärme durch Telepathie kommunizierten oder dass das gleichzeitige Blinken von Leuchtkäferscharen auf das Blinken der Augen des Beobachters zurückzuführen sei. Heute kann man zeigen, dass bereits ganz einfache Modelle auf so etwas führen. Die Roboter, die sich in diesen Modellen bewegen, sind leblos und ohne irgendeinen Verstand, sie unterliegen nur einigen wenigen und sehr einfachen Befehlen, und schon entsteht das "unerwartete" kollektive Verhalten. Mit Selbstorganisation haben wir eben noch nicht so viel Erfahrung.
In der Physik und der Chemie kann man die für die verschiedenen Elemente zuständigen Atome hervorragend beschreiben, als Bindungszustände von positiv geladenen Kernen und negativ geladenen Elektronen. Man kann die Bahnen der Elektronen um den Kern berechnen, die Größe der Atome beschreiben und die Struktur der Kerne spezifizieren. Das alles hilft aber wenig, wenn es um das Verhalten einer Gesamtheit vieler Atome geht. Ein Eisenatom ist ein Eisenatom; eine Ansammlung solcher Atome aber bildet einen Magneten (bei niedrigen Temperaturen) oder auch nicht (bei hohen Temperaturen). Helium ist das einzige Element, das zuerst auf der Sonne und erst dann auf der Erde entdeckt wurde, daher auch der Name. Helium wird nie zu einem Festkörper, es friert nie; bei sehr niedrigen Temperaturen bildet es eine fast perfekte Flüssigkeit, die ungehindert fließen kann. Weder bei Eisen noch bei Helium hat die Atomstruktur zur Erkenntnis dieser Eigenschaften beigetragen: Sie betreffen kollektives Verhalten, das als solches unabhängig entdeckt wurde. Kollektive Eigenschaften lassen sich selbst in der unbelebten Natur eben nicht aus der auch noch so perfekten Kenntnis der Einzelteile ableiten. Nicht nur ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile - die Teile können sich ihrerseits entschließen, zusammen ein völlig neues Gebilde zu erschaffen, mit völlig unvorhergesehenen Eigenschaften.
Ein solches unerwartete Verhalten lässt uns in der Tierwelt oft ungläubig staunen. Wie können tausende von Vögeln ihren Tanz am Himmel koordinieren? Wie erwähnt, haben selbst ernsthafte Biologen Telepathie vermutet. Und wie können tausende von Leuchtkäfern im asiatischen Urwald ihre Lichtstrahlung bis auf ein tausendstel Sekunde synchronisieren? Schwärme müssen irgendwelche geheimen Methoden haben, um diese Leistungen vollbringen zu können. Die Herausforderung an uns ist es, diese Methoden zu entziffern, festzustellen, wie sie die beobachtete Ordnung erzielen können.
Eine Weise, diese Herausforderung anzugehen, ist, wie erwähnt, das Verhalten zu untersuchen, das entsteht, wenn wir viele identische "seelenlose" Maschinen, Roboter so programmieren, dass sie sich nach bestimmten Regeln verhalten: Folge deinem Nachbarn, bewege dich so schnell wie er, komme ihm nicht zu nahe. Und dieses Experiment muss heute nicht einmal in der Wirklichkeit durchgeführt werden: Wir können es mithilfe von Computersimulation machen, indem wir Punkte auf einem Rechner sich nach den vorgegebenen Regeln bewegen lassen. Wenn solche Regeln ausreichen, um das bei Tierschwärmen beobachtete Verhalten hervorzurufen, dann meint man wohl zu Recht, dass dieses Verhalten nicht eine Reflexion von kausalen Entscheidungen der einzelnen Schwarmmitglieder ist.
In diesem Zusammenhang taucht noch ein weiteres, wenn auch nicht a priori kollektives Problem auf. In jedem Herbst ziehen riesige Vogelschwärme in weit entfernte wärmere südliche Gefilde und im folgenden Frühjahr zurück nach Norden. Die Tiere ziehen aber nicht einfach in eine Himmelsrichtung, sondern von einem präzisen geografischen Punkt, dem Nest auf dem Baum im Ort x, zu einem anderen, den Sumpf am Fluss y, und auch die Flugroute ist Jahr um Jahr die gleiche. Und unter Wasser ziehen Lachse und Aale Tausende von Kilometern zwischen ihren Laichgebieten und Lebensbereichen - sie haben nicht einmal die Sonne zur Orientierung. Wie also können solche Tiere derartige Navigationsleistungen vollbringen? Die Erforschung dieser Problematik hat durchaus Fortschritte gebracht, aber vieles bleibt nach wie vor rätselhaft.
Neben solchen Formen von tierischer Organisation gibt es aber noch weitere. In Insektenstaaten leben Tausende, mitunter Millionen von Tieren in einer Gesellschaft, in der die verschiedensten Aufgaben ohne jede Leitung, kastenmäßig erledigt werden: Futtersucher, Nestbauer, Brutpfleger, Soldaten - alle gehen "von sich aus" ihrer Tätigkeit nach, und selbst die "Königin" herrscht nicht etwa, sondern legt nur Eier. Solche Strukturen müssen sich wohl im Laufe der Zeit genetisch entwickelt haben, durch Vorteile in der Evolution. Bereits Darwin hatte festgestellt, dass so etwas nicht leicht in Einklang zu bringen ist mit der üblichen Vorstellung von survival of the fittest. Es wird also eine Erweiterung des Evolutionsbegriffs notwendig.
Die letzten drei Jahrzehnte haben in der theoretischen Untersuchung von Selbstorganisation und Schwarmverhalten auf einen rasanten Anstieg geführt, durch die Einführung von Computersimulation wie auch ganz allgemein durch die Untersuchung mathematischer Schwarmmodelle. Jedes Jahr erscheinen Hunderte von wissenschaftlichen Arbeiten, in denen anhand mathematischer Modelle das kollektive Verhalten vieler Einzelwesen erklärt werden soll, von Mikroorganismen bis zu Antilopenherden. Gleichzeitig haben Biologen detaillierte, quantitative Studien von verschiedenen Tiergemeinschaften durchgeführt, von Vögeln, Ameisen, Heuschrecken und vielen anderen. Aus dem Zusammenspiel dieser beiden Zugangsrichtungen ist ein neues Forschungsgebiet entstanden, die Erforschung von Schwarmverhalten. Es ist von Haus aus ein interdisziplinäres Gebiet, zu dem Biologie, Physik und Mathematik wesentlich beitragen.
In diesem Buch möchte ich möglichst allgemein, für...
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