Schweitzer Fachinformationen
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«Statistisch gesehen ist die Wahrscheinlichkeit, an einem Freitag im Straßenverkehr zu sterben, am höchsten», erkläre ich, ohne den Blick von den farbigen Balken auf meinem Monitor zu nehmen. «Vor allem, wenn man Radfahrer ist.»
Mein Chef hängt seinen Fahrradhelm an den Garderobenständer. «Ihnen auch einen fröhlichen Freitagmorgen, liebe Julia», sagt er, und in seiner Stimme schwingt leichte Irritation. Wir arbeiten jetzt seit achtzehn Jahren zusammen, und ich kann die Gefühle meines Chefs besser lesen als die von irgendjemand anderem. Lotte und Louis natürlich ausgenommen.
«Kennen Sie schon die neue Verkehrsführung an der Hallerstraße, Ecke Bogenstraße?» Ich stehe auf, um dem Chef einen Becher Kaffee einzugießen. «Die ist als Radfahrer mit niedrigem IQ nicht zu überleben, hat zumindest Sabine Knopfler aus der Buchhaltung gesagt.»
«Ja, und aus diesem Grund vermeide ich die Kreuzung immer», antwortet mein Chef, nimmt den Becher und schlendert in sein Büro.
Ich atme auf. Selbstironie beim Chef ist ein gutes Zeichen, in der Regel ist er dann entspannt und guter Laune. Mir ist natürlich klar, dass der Chef bewusst Witze erzählt und dass sie auf eine merkwürdige Weise mir gelten. Obwohl ich ihm unterstellt bin, will er mir imponieren, und dafür gibt es eine biologische Erklärung. Der Testosteronspiegel eines Mannes steigt um acht Prozent, wenn er mit einer Frau allein in einem Raum ist. Auch das ein Ergebnis der Studien, mit denen wir in der Agentur arbeiten und die in der Regel von praktischem Nutzen sind. Eine Information, mit der sich auch spätabends noch beschwingten Fußes in die U-Bahn steigen lässt, betrifft zum Beispiel die Wahrscheinlichkeit, ermordet zu werden. Die liegt nämlich hierzulande bei 1:20000. Nur ein Lottogewinn ist noch unwahrscheinlicher - 1:14 Millionen. Nicht, dass ich Lotto spielen würde, ich bin einfach nicht der Gewinnertyp. Und spätabends bin ich auch nicht mehr oft unterwegs, denn ich werde als Musikerin nur noch selten gebucht. Das hat nichts mit mir persönlich zu tun, sondern nur mit meinem Alter. Auch hierzu gibt es phantastische Zahlen. Aus denen geht hervor, dass ich kein Einzelfall bin.
Das Großraumbüro nebenan füllt sich mit einem Schlag, das kann ich hören, es ist Punkt neun. Warum der Chef sich gegen die Gleitzeit sperrt, ist mir ein Rätsel - selbst die Freien haben immer auf die Minute pünktlich da zu sein. Es ist ja nicht so, dass die Zahlen nicht mal eine Stunde warten könnten, ehe sich jemand mit ihnen beschäftigt, aber auf mich hört der Chef nicht. Auf mich hört eigentlich niemand. Selbst Lotte und Louis haben meine mütterliche Autorität nur in einer Art Notstandsdiktatur anerkannt, das heißt, wenn ich alle anderen Hausgesetze ausgehebelt hatte, und da ich grundsätzlich ein friedliebender Mensch bin, kommt das nur selten vor. Abgesehen davon, dass ich in der Firma nichts zu sagen habe, ist mein Job hier aber ganz okay. Und zwar, weil . Ich blicke vom Monitor zum Fenster hinaus. Regen nieselt gegen die Scheibe, dahinter schieben sich Wolkenwände in unterschiedlichen Grauschattierungen ineinander. Ich versinke in mehrminütiges Nachdenken, leider ohne Ergebnis. Mir fällt kein einziger Grund ein, warum ich gern in einer Agentur für Statistik arbeite, abgesehen von dem guten Gefühl, überhaupt einen Job zu haben. Als geschiedene Frau mit zwei Kindern ist es ja nicht unwichtig, dass am Monatsende zuverlässig Geld aufs Konto fließt.
Stickig ist es hier. Ich stehe auf und öffne das Fenster. Über den vollgestellten Parkplatz hastet eine der Freiberuflerinnen. Im Laufen hält sie ihren Bauch.
Chef reißt die Tür auf. «Haben Sie das gesehen? Marie ist SCHON WIEDER zu spät!»
«Na ja, Marie ist schwanger», verteidige ich sie. «Und es gibt hier keine Schwangerenparkplätze, da musste sie vermutlich .»
«Es WIRD hier auch keine Schwangerenparkplätze geben, Julia! Nicht solange ich hier das Sagen habe! Verstanden?» Er schleudert mir einen argwöhnischen Blick zu. «Sie machen sich für Schwangerenparklätze stark? Da ist jetzt hoffentlich kein egoistisches Motiv im Spiel?»
Ich stutze kurz, dann muss ich lachen. «Chef, das ist sehr schmeichelhaft, aber meine Bemerkung war eher allgemeiner Natur.»
«Schön, dass Sie so gute Laune haben, es wartet nämlich noch ziemlich viel Arbeit auf Sie!» Chefs gute Laune von vorhin ist augenscheinlich schon wieder verflogen. «Bis zur Mittagspause müssen Sie mir das Dossier für meine Besprechung mit Hansen zusammenstellen! Außerdem brauche ich noch die Ergebnisse von der Uni Freiburg. Und Sie müssen die Teambesprechung vorbereiten, die gleich stattfindet, Sie wissen schon, alle Zahlen und Fakten zur Wahrscheinlichkeit eines Suizids bei Frauen in den Wechseljahren, die dieses Institut für Sexualforschung herausgefunden hat! Schreiben Sie mir doch auch ein paar Stichpunkte für eine Rede, die ich über dieses Thema halten kann. Nicht wahr, Reden schreiben Sie doch immer gern!»
Ich schlucke. «Das alles in einer Stunde und zwölf Minuten?»
«Bravo, Julia, Sie können die Uhr lesen! Das dürfte helfen bei der Bewältigung Ihrer Aufgaben!» Und damit knallt er die Tür wieder hinter sich zu. Nur um sie augenblicklich wieder aufzureißen. «Und machen Sie die Rede nicht so langweilig und vorhersehbar wie beim letzten Mal!», beflügelt er mich und meine Motivation.
Ich spüre, wie etwas in mir hochsteigt, das ich nur schwer fassen kann. Meine Gefühle und ich, wir haben uns nämlich schon vor einer ganzen Weile voneinander getrennt. Ich komme einfach nicht besonders gut mit ihnen klar, schon vor der Scheidung nicht und danach noch weniger. Meine Gefühle sind mir nämlich zuweilen etwas zu negativ. Aber jetzt bewegt sich etwas in mir. Ich benötige ein paar wertvolle Minuten, um zu erkennen, was es ist: Wut. Von wegen, der Mann ist entspannt heute! Nichts da - er ist so schlecht gelaunt wie eh und je.
Während ich die Rede für ihn skizziere, stelle ich mir vor, wie ich sie selbst vortrage: hier die Stimme anheben, dort eine wirkungsvolle Pause einfügen. Das ist natürlich das Showgirl in mir. Ich liebe Publikum, doch leider komme ich nicht mehr allzu oft in Kontakt mit dieser Gattung Mensch. Ah, der Kontakt . die Gemeinschaft . der Zusammenhalt . Jetzt habe ich einen Lauf. Meine Finger flitzen über die Tasten. Was würde ich darum geben, wenn ich selbst diese Rede halten könnte! Einmal war ich dabei, als der Chef eine Rede hielt, die ich ihm geschrieben hatte, und als am Ende ein geradezu stürmischer Applaus aufbrandete, hätte ich mich um ein Haar erhoben und verbeugt. Ich muss ein bisschen grinsen, als ich wieder daran denke, und so arbeite ich einigermaßen beschwingt alles weg.
In der Mittagspause habe ich die Wut schon wieder vergessen. Sabine Knopfler aus der Buchhaltung fragt mich, ob ich meinen Sommerurlaub schon gebucht habe, und ohne die Antwort abzuwarten, erzählt sie, dass sie mit ihrem Mann nach Mallorca fährt. Dann will sie wissen, wohin ich reise. Nirgendwohin, antworte ich und finde ein paar schlappe Begründungen zum Thema Geld. In Wahrheit ist es so, dass ich nicht wüsste, mit wem ich fahren sollte. Louis macht sein Freiwilliges Soziales Jahr in Costa Rica, und Lotte fährt mit ihrem Vater und Rebecca, seiner neuen Frau, und deren Sohn in die Provence. Auch mit meinen Freundinnen kann ich in diesem Punkt nicht viel anfangen. Im Gegensatz zu mir führen sie alle ein mehr oder minder intaktes Familienleben, und die Urlaube planen sie gemeinsam mit Mann und Maus. Im vergangenen Jahr bin ich durch Hessen geradelt, alleine. Das war so ein Versuch, mir selbst zu beweisen, dass ich ohne Begleitung glücklich bin. War ich dann aber nicht, glücklich. Im Gegenteil.
Sabine ist so rücksichtsvoll, mich nicht nach einem Partner zu fragen, der mich eventuell begleiten könnte, denn sie weiß, dass es keinen gibt. Ich blicke gen Himmel, der von mittel- zu dunkelgrau gewechselt hat, während ich an der Bushaltestelle warte, um nach Hause zu fahren. Das Wichtige ist doch vielleicht, dass man weiß, wo man steht. Ich für meinen Teil kenne meine Zukunft, und jetzt, wo ich in den Bus einsteige und mich an dem Haltegriff festklammere, weiß ich auch wieder, wozu die Arbeit in einer Agentur für Statistik gut ist. Die alte Glückskeks-Weisheit von dem Unabänderlichen, in das man sich fügen muss, verliert durch die Zahlen unserer Agentur etwas von ihrer esoterischen Schwammigkeit, sodass man sich besser auf seine Zukunft einstellen kann. So bin ich mir beispielsweise recht sicher, dass ich auch in zehn Jahren noch allein leben werde, denn die Wahrscheinlichkeit, einen Singlehaushalt zu bewirtschaften, steigt bei einer Frau ab Mitte vierzig kontinuierlich mit jedem weiteren Jahr. Abstruse Wünsche, so wie ich sie früher hatte, als ich noch von einer Karriere als Musikerin träumte, konnte ich mir auf diese Weise ebenfalls abschminken. Ein Künstlerleben, so wie es meine Eltern und Schwestern führen, ist gesellschaftlich gesehen die Ausnahme, und bei mir hat es dann ja auch nicht geklappt. Mir ist auch bewusst, dass ich niemals eine Führungsposition innehaben werde, erstens weil ich nicht wüsste, wen ich führen sollte, und zweitens ist der Zug für mich abgefahren. Mein Leben wird bis zur Rente immer so weiterlaufen, und zwar hier in Hamburg, denn statistisch gesehen liegt die Wahrscheinlichkeit, meine zweite Lebenshälfte im Ausland zu verbringen, wenn ich mein Lebtag lang in meiner Heimatstadt gelebt habe, bei 0,3 Prozent. Worauf ich mich hingegen einstellen kann, ist ein Feierabend mit Lotte, wenn sie zu Hause ist, und anschließend vielleicht...
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