Schweitzer Fachinformationen
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Hotel Pritania[14]
rue Ch. Laffitte
Freitag, 9. Oktober
Mon cher amour
Als ich gestern abend nach Hause kam, habe ich Ihren Brief gefunden. Wie bin ich froh. Nie denke ich an Sie mit Traurigkeit, sondern immer als an eine kleine Person, die sich gut amüsieren soll, sicher genauso, wie meine Mutter während meiner Spanienreise an mich gedacht haben wird. Aber, o Teil von mir, der sich amüsiert, der Rest «meiner Person» langweilt sich auch nicht. Wenn Sie lange Briefe lieben, so scheint es, daß dies einer wird, denn ich habe Tinte und Muße. Aber bilden Sie sich ja nicht ein, wie Sie es offenbar tun, daß alle so sein werden. Sie profitieren von einer totalen Panne auf literarischem Gebiet. Das habe ich Ihnen schon gesagt.
Ich übergehe den Montag: fünf Stunden Unterricht, Nachhilfeschüler. Früh ins Bett. Dienstag war der Mustertag eines kleinen Lehrers, derart exemplarisch, daß Guille in Reims genau den gleichen verbrachte. Morgens habe ich wie üblich unterrichtet: ich trödle bei den Methoden in der Psychologie herum, weil ich zu faul bin, gewisse präzise Kenntnisse zu lehren, die nötig wären, um weiterzugehen. Ich gab noch eine Nachhilfestunde. Um 12 Uhr 50 bin ich ins Restaurant essen gegangen. Es liegt neben dem Bahnhof, in dem Viertel von Le Havre, das ich so liebe und von dem ich beschlossen habe, daß es in dem factum über die Kontingenz auftauchen soll. Gewiß, dort ist alles kontingent, selbst der Himmel, der nach meteorologischer Wahrscheinlichkeit der gleiche ist wie über der ganzen Stadt Le Havre: aber 1 dem ist nicht so. Habe ich gut oder schlecht gegessen? Ich weiß es nicht, weil ich erkältet bin. Was man mir serviert, sieht nicht allzu gut aus, und jetzt, da meine Nase wieder frei wird, fürchte ich, am Montag einen Geschmack vorzufinden, der mich abschreckt. Kurz, morgens lese ich (spanische Angewohnheit), kaue irgendwas, trinke einen Kaffee im Hotel Terminus, wo Sie eine Nacht verbrachten. Aber der Tag danach, der Dienstag, ist lang, weil ich keinen Unterricht habe. Ein ünmerkliches Verlangen zog mich vom Hotel Terminus in mein Zimmer und in meinem Zimmer in mein Bett. Auf dem Bett einen Augenblick tändeln, mir Castor in Marseille vorstellen, mir die Sonne denken, von der Sonne träumen, schlafen. Um halb vier bin ich aufgewacht. Ich schämte mich ein wenig wegen meines noblen Schriftstellerberufs. Denn schließlich, wenn man die Wörter wörtlich nimmt, sollte ein Schriftsteller schreiben. Aber das ist überhaupt nicht mein Fall. Trotzdem habe ich dann den Beschluß gefaßt, diese verfluchte Wahrnehmung, die mir überhaupt keinen Spaß macht, zu lassen und mit der Kontingenz anzufangen. Ich bin bei einem Viertel Regen und drei Vierteln Sonne losgegangen. Ich habe die Rue Émile Zola gesucht. Ich hatte tatsächlich eine Nachricht von der Witwe Dufaux erhalten, die Morel ein Zimmer vermietet hatte, das ich, wie Sie wissen, nicht nehmen wollte. Sie hört nicht auf diesem Ohr und hatte mir einen Brief geschrieben, in dem die Häufung von Partizipien, die sich aufs Objekt bezogen, obwohl sie am Anfang des Satzes standen, mich von vornherein verstimmt hatte. Trotzdem hat mich der Wunsch zu sparen (ich möchte dieses Jahr aus dem Sparen eine Kunst machen) dazu gebracht, mir die Örtlichkeiten anzusehen. Ich kam zum Boulevard François Ier (Sie kennen ihn). Ich habe in einem Winkel ein bürgerliches Haus gefunden, ich bin in ein bürgerliches Vestibül eingetreten, das in bürgerliche Finsternis getaucht war. Plötzlich ist mir Ihre Großmutter erschienen, o teurer Castor. Noch ein Dienst, den Sie mir erwiesen haben. Für mich, es muß Ihnen gesagt werden, ist sie typisch für eine Witwe und für menschliche Gemeinheit. Der Gedanke, bei einer ganz ähnlichen alten Frau zu leben, hat mich die Flucht ergreifen lassen. Ich habe der Witwe Dufaux einen schönen Brief geschrieben, ich werde nicht zu ihr gehen.
Danach habe ich mir leichten Herzens einen Baum angeschaut. Dazu muß man nur das Türchen einer schönen Anlage an der Avenue Foch aufstoßen und sich sein Opfer und einen Stuhl aussuchen. Dann schauen. Nicht weit von mir legte die junge Frau eines Offiziers auf großer Fahrt Ihrer alten Großmutter die Nachteile des Seemannsberufes dar, Ihre alte Großmutter nickte, um zu sagen: «So ist das mit uns.» Übrigens war das vielleicht Madame Dufaux. Und ich betrachtete den Baum. Er war sehr schön, und ich scheue mich nicht, hier diese beiden wertvollen Angaben zu meiner Biographie zu machen: in Burgos habe ich verstanden, was eine Kathedrale ist, und in Le Havre, was ein Baum ist. Leider weiß ich nicht so recht, was für ein Baum es war. Sie werden es mir sagen: Sie kennen diese Spielzeuge, die sich im Wind oder wenn man sie ganz schnell bewegt, drehen; er hatte überall kleine grüne Stengel, die mit sechs oder sieben ungefähr genauso angeordneten Blättern ihren Spaß trieben. Ich warte auf ihre Antwort[15]. Anbei eine kleine Skizze.
Als ich nach zwanzig Minuten das Arsenal an Vergleichen ausgeschöpft hatte, um, wie Madame Woolf sagen würde, aus diesem Baum etwas anderes zu machen, als er ist, bin ich mit gutem Gewissen gegangen und habe in der Bibliothek die Samedis von Lancelot [*] gelesen (feinsinnige Bemerkungen von Abel Hermant über die Grammatik). Danach habe ich im Kino Contre-enquête gesehen, was ich nicht mochte. Und am selben Tag, zur selben Stunde frühstückte Guille, schlief, ging in den Film Rive Gauche, den er nicht mochte. Am Mittwoch habe ich Unterricht gegeben, dann bin ich in den Zug gestiegen, bin in Paris angekommen, wo die gute Schwester mich in Tränen aufgelöst erwartete. Sie hatten ihr Herz gerührt, indem Sie sie so drängten, nach Marseille zu fahren, während sie letzten Endes keinen Sou hatte. Ich habe getröstet, fünfhundert Francs versprochen; sie hat gestrahlt, ich bin mit ihr in ein kleines Café gegangen, wo sie Ihre Briefe las und kommentierte, wobei sie auf der Episode mit dem alten Engländer insistierte und mir erklärte, alle betrögen mich und das würde noch schlimmer, wenn Sie beide in Marseille wären. Ich ließ sie Ihnen fünfzehn Seiten schreiben, habe mir ein Taxi genommen und einen schläfrigen Guille, eine muntere Dame, einen diskreten Mops[16] und einen diskreten Tapir vorgefunden. Wir sind bei dieser Dame[17] geblieben, und der Abend bei ihr war reizend, ohne daß irgend etwas gesagt oder getan worden wäre. Guille war vor allem entzückt über unsere Tage in Le Havre und Reims, über ihre automatische Verdoppelung. Er lachte sehr und voller Sympathie für mich. Ich habe von Ihnen berichtet, aus Ihrem Brief vorgelesen. Kommentiert. Ich habe dort geschlafen, und Mops hat mich um neun geweckt, indem sie Aron hereinführte, der, wie es ihm entspricht, von einer Flut elektrischen Lichts begleitet war. Er blieb da wie ein alter Adler und legte mir die Doktorarbeit des Französischlektors von Köln dar, während ich, fasziniert, in meinen feuchten Laken leise schnaufte. Dann kam Guille, der mit ihm Weggehen sollte. Beide haben mir das Frühstück am Bett serviert; Aron schenkte Kaffee ein, und Guille strich Butter aufs Brot; beide sagten: «Ach, du alter Witwer hast es gut! Castor hätte dir keine Brote geschmiert usw. usf.» Ich habe sie verlassen, habe auf dem ganzen Montparnasse das Kaninchen[18] gesucht und endlich gefunden, wir haben uns für nachmittags verabredet. Mittagessen bei meinen Großeltern mit Onkel Georges. Ich habe Ihre Schwester im Luxembourg getroffen. Sie platzte fast vor Seligkeit bei dem Gedanken, nach Marseille zu fahren. Und da ein Glück selten allein kommt, hat sie mir gesagt, Giraudoux werde sie am Samstag morgen empfangen. Sie hofft, daß er sich ihr gegenüber sehr schlecht benimmt. Aber er hat leider entgegengesetzte Neigungen. Und sie sagte mir: «Ach, ach! Man hält Sie zum Narren, Miché, kleiner Miché. Man holt Sie, wenn man Ihr Geld braucht. Aber man betrügt Sie.» Ich bin mit ihr zur Place d'Italie einen trinken gegangen. Sie trug prahlerisch die Fotos von Spanien unterm Arm, nachdem sie erklärt hatte: «Wofür halten Sie mich, ich werde kein einziges verlieren, ich bin nicht Castor.» Aber bei den Gobelins hat sie die Hälfte fallen lassen, und ohne einen jungen Pfadfinder, der eine gute Tat vollbringen wollte, wären sie zum Teufel gewesen. Bei den Gobelins hat sie behauptet, daß Guille schon wieder einen sehr schlechten Einfluß auf mich ausübe und daß ich bereits diesen schönen Firnis aus Sanftheit verlöre, den sie mir die Jahre zuvor verliehen hätte. Der Junge lachte sich schief. Wir haben ein Taxi genommen, sie hat mich im Acropole gelassen und ging Gégé[19] holen. Die bunten Butzenscheiben, aus denen sich das Deckengewölbe des Acropole zusammensetzt, spiegelten sich in meinem Portwein. Wenn ich mein Glas heftig bewegte, waren sie ganz klein und dicht gedrängt, und wenn die Bewegung abnahm, wurden sie größer und gewannen ihre Erhabenheit zurück. Ich habe mich auf diese Weise eine gute halbe Stunde amüsiert, mit einem Ohr den Prophezeihungen einer dicken betrunkenen Frau lauschend, und dann kam Ihre Schwester allein wieder, empört; Desmoines[20] wollte Gégé nicht fortgehen lassen, die Schwiegermutter hatte spitze Bemerkungen gemacht; sie hatte Gégé verlassen, als diese blaß vor Wut sagte: «Gut, ich gehe...
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