Schweitzer Fachinformationen
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Zu Moms beharrlichem Verdruss sind sämtliche Männer, denen ich begegne, tot. Aber so ist das nun mal, wenn man in einem Bestattungsinstitut arbeitet. Selbst die Typen, die ich an meinen freien Tagen zu Gesicht kriege und die in Schlaghose und mit offenem Kragen über die Uferpromenade bummeln, grinsend den Mädchen hinterherglotzen und händeweise salzige Karamellbonbons in sich hineinstopfen, sehen kaum aus, als ob sie am Leben wären. Zugegeben, sie sind Touristen, die hier sind, um sich in den Casinos und Spielhallen zu amüsieren. Sie sind in Atlantic City, um der Realität zu entfliehen.
Morgens, wenn ich aufstehe und zum Strand gehe, sind keine Touristen unterwegs. Nicht nur, weil es gerade erst dämmert und der Himmel noch rosa ist, sondern weil unser Stadtteil als unsicher gilt. Die übliche Empfehlung lautet, sich nicht weiter als einen Häuserblock vom Strand zu entfernen. »Gütiger Himmel«, sagen die alten Damen in ihren Karohosen zueinander. »Pass ja auf, dass du nicht versehentlich zu weit gehst.«
Sobald ich aber die breite Fahrbahn der Atlantic Avenue passiert habe, gibt es keine mit Schindeln gedeckten Häuser und Baulücken mehr, und ich bin in der Gegend, die die Menschen beim Gedanken an Atlantic City vor Augen haben: große Casinos, hoch aufragende Hotels, Portiers in Uniform, die gähnend auf ihrem roten Teppichflecken stehen. Hier rieche ich schon die salzige Luft vom Ozean her, und bald bin ich auf der lang gezogenen Promenade, und unterhalb von mir raunt das Meer. Der schwachen Frühlingssonne gelingt es noch nicht, die Luft zu erwärmen, und niemand ist so dumm, ans Schwimmen zu denken. Ich gehe an den Geschäften vorbei, an deren Türen Schilder mit der Aufschrift »Geschlossen« hängen; in der Brise klirren die festgeketteten Surfbretter, und außer mir sind nur die Straßenkehrer und ein paar streunende Katzen unterwegs.
Entlang der gesamten Uferpromenade stehen grüne Holzbänke mit Blick über das Wasser. Jeden Morgen bleibe ich an derselben Bank stehen und fahre mit den Fingern über die kleine Bronzetafel. Unten am Strand wartet das Meer, das tröstliche Schwappen der Wellen, die unendliche Weite aus Blau auf Blau. Ich halte den Atem an in der Hoffnung, Delfinflossen auszumachen, und schnappe nach Luft, als ich sie tatsächlich sehe: Drei Delfine tauchen in den Wellen auf und ab. Ich weiß, dass ich ihnen nicht nahe kommen werde, aber die Freude über ihren Anblick jagt mich die Stufen hinunter zum Strand. Direkt am Wasser ziehe ich die Jeans und das Sweatshirt aus, unter denen ich meinen Badeanzug trage, und bevor ich mir allzu viele Gedanken darüber machen kann, wie eisig es ist, stürze ich mich hinein.
Nichts existiert mehr als das grünblaue Wasser und die betäubende Kälte. Ich schwimme schnell, meine Arme graben sich einen Weg durch die sanften Wellen, und ich zähle, das Ufer immer im Blick, die noch nicht besetzten Häuschen der Rettungsschwimmer, damit ich weiß, an welcher Stelle ich umkehren und zurückschwimmen muss. Als ich schließlich wieder an Land bin, mich abgetrocknet und mir die Kleider über die klebrig salzige Haut gezogen habe, versammeln sich die ersten Leute am Strand. Ich höre das vertraute Klappern und Klirren, als die Spielhallen öffnen, Markisen, die vor den Schaufenstern der Geschäfte ausgefahren werden, Ständer mit Postkarten und Souvenirs, die auf den Holzsteg gerollt werden.
Als ich mich auf den Heimweg mache, weht Kaffeeduft vom Beach Shack herbei und erinnert mich daran, dass ich Hunger habe. Vor mir setzt ein hochgewachsener Junge seinen Gitarrenkasten und einen riesigen Rucksack auf dem Boden ab, rollt die Schultern und zieht dann einen Stadtplan aus der Jeanstasche. Er ist vielleicht Mitte zwanzig, sein Gesicht gefällt mir. Sein breiter Mund scheint fürs Lächeln wie gemacht. Er senkt den Blick, um den Stadtplan zu inspizieren, und sein strähniges dunkles Haar fällt ihm in die Augen. Ich verlangsame meine Schritte und überlege, ob ich ihm Hilfe anbieten soll, doch ein Pärchen vor mir ist bereits stehen geblieben. Gestikulierend halten sie ihm einen Fotoapparat hin. Als ich an ihnen vorbeigehe, höre ich seine höfliche Antwort. Er ist Engländer. Seine Stimme klingt so, wie ich mir die altertümlichen Helden in meinen Lieblingsromanen vorstelle.
Unversehens habe ich eine Szene im Kopf - irgendetwas zwischen Stolz und Vorurteil und Rebecca, eine Kreuzung aus Mr Darcy und Mr de Winter: ein Mann mit hervorragenden Umgangsformen und einem herrschaftlichen Anwesen. Ein Mann mit einem breiten Mund und einem ungezwungenen Lächeln. In meiner Vorstellung schreitet er über die grüne Weite einer englischen Landschaft, um irgendwo eine Ungerechtigkeit aus der Welt zu schaffen und das Herz der Frau zu gewinnen, die er liebt.
Ich frage mich, was der lange Kerl mit der Gitarre sagen würde, wenn er wüsste, dass sein britischer Akzent innerhalb von fünf Sekunden solche Fantasien hervorgerufen hat. Aber genau das ist es ja, was so schön ist am Fantasieren: die Freiheit, im eigenen Kopf umherzuschweifen. Ohne das wäre ich vermutlich schon durchgedreht.
Zusammengesackt sitzt Dad auf seinem Stuhl auf der Veranda, und es ist offensichtlich, dass er nicht im Bett war, sondern Blackjack oder Poker in einem der Casinos gespielt hat. Mit zerzaustem Haar blickt er mich aus roten, müden Augen an.
Ich nehme ihn an der Hand. »Komm schon, Dad. Du musst was essen. Du darfst nicht schon wieder zu spät zur Arbeit kommen.«
»Ich hatte eine Glückssträhne, Kit-Cat«, sagt er mit heiserer Stimme. »Es war mein Glückstag .«
». und dann irgendwann nicht mehr«, beende ich den Satz.
»Ja.« Er streicht sich mit der Hand durch das schüttere Haar, zieht eine zerknautschte Zigarettenschachtel aus der Tasche und versucht, sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette anzuzünden, doch die Flamme erlischt. Ich knie mich neben ihn und halte ihm das Feuerzeug hin. Er riecht nach altem Schweiß und Nikotin. Tief zieht er den Rauch ein.
Auf meiner Stirn ist ein kleines Muttermal, das die Form eines Sterns hat, zumindest, wenn man die Augen zusammenkneift und seiner Fantasie freien Lauf lässt. »Mein Glücksstern«, sagt Dad oft. Ich frage ihn nicht, wie viel er verspielt hat. Er würde es ohnehin nicht zugeben. Kein Grund zur Panik, ermahne ich mich, mein Gehalt reicht für die Miete. Gut so, denn im Haus ist nichts mehr, was man noch verkaufen oder verpfänden könnte. Moms Klavier ist schon seit Monaten weg. Sie sagt, es sei besser so, jetzt müsse sie sich nicht mehr sorgen, es zu verlieren. Aber ich ertappe sie manchmal dabei, wie sie die Finger über den Küchentisch gleiten lässt und den Klängen in ihrem Kopf nachspürt.
Ich dusche mich kurz und ziehe die Uniform aus schwarzem Hemd und schwarzer Hose an. In der Küche werkelt Mom in einer weißen Schürze über dem geblümten Baumwollkleid, eine blaue Schleife im Haar wie ein kleines Mädchen. Sie kocht Maisgrütze und Eier für meinen Vater. In einem Topf auf dem Herd köchelt Kaffee. Ich schenke mir eine Tasse ein.
Bekümmert blickt sie auf meine Stiefel mit den Stahlkappen. Ich habe es aufgegeben, ihr zu erklären, dass ich sie zum eigenen Schutz trage und sie vorgeschrieben sind. Sie würde mich so gern in schicken spitzen Schühchen mit zierlichen Absätzen sehen.
Ich trinke einen Schluck brühheißen Kaffee. »Es ist schlimmer geworden.« Ich hebe den Blick zur Decke. Über unseren Köpfen ächzt der Holzboden unter Dads schweren Schritten.
Sie dreht sich zu mir um und faucht: »Denkst du, ich weiß das nicht?«
»Aber Mom .«
»Es hat keinen Zweck, Catrin. Wir brauchen nicht darüber zu reden. Wir kommen zurecht, oder nicht?« Ihre Worte versickern. Eine Weile sagt keiner von uns beiden etwas. »Es war schwer für ihn, als der kleine Frank gestorben ist.« Ihre Hände flattern. »Und dann warst du so krank . an der Schwelle zum Tod. Es war eine große Belastung. Dazu die Arztrechnungen. Seit damals ist alles so mühsam. Ich denke, das ist der Grund. Deswegen macht er das, glaube ich.«
»Ich weiß ja, dass er uns nicht wehtun will .«
Mom verzieht das Gesicht. »Ich habe mal wieder meine Migräne.« Mit den Fingerspitzen massiert sie sich die Schläfen in winzigen Kreisbewegungen. »Tu mir nur einen Gefallen«, sagt sie.
»Ja?«
Sie kommt näher, und ich erwarte, dass sie mich bittet, ihr die Füße zu massieren oder ein feuchtes Tuch zu holen, um ihr die Stirn zu kühlen. »Überstürze die Dinge nicht, wenn du dir einen Mann suchst«, sagt sie. »Nicht so wie ich.« Sie packt mein Handgelenk und drückt fest zu. Mir war nicht klar, dass sie so viel Kraft hat. »Triff die richtige Entscheidung. Hör auf deinen Kopf, nicht auf dein Herz. Du sollst ein gutes Leben haben, abgesichert sein.« Sie lässt meine Hand los. »Es geht um deine Sicherheit.«
»Sicherheit?«, wiederhole ich. »Mom, in dieser Frage werde ich mich nicht auf einen Mann verlassen.« Missmutig reibe ich mir über das Handgelenk. »Bereust du . dass du Dad geheiratet hast?«
Beinahe mitleidig sieht sie mich an. »Reue bringt einen nicht weiter, Catrin. Besser,...
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