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Dieses erste Kapitel handelt von Sehnsucht, einem der schönsten Wörter unserer Sprache. Es beschreibt eine Suche, die nicht vom Kopf, sondern vom Gefühl des Sich-Sehnens getrieben ist und dabei den unwiderstehlichen Magnetismus einer Sucht entwickelt. Wir können nicht anders, als diesem inneren, dem Herzen entspringenden Ruf zu folgen, selbst wenn das Ziel unserer Sehnsucht oft noch diffus ist und schwer in Worte zu fassen.
Alles entsteht aus Sehnsucht. Sie ist Impuls und Motor jeder Schöpfung.
Die tantrische Schöpfungsgeschichte beginnt mit dem EINEN Absoluten, dem reinen, ewigen Sein, jenseits von Zeit und Raum, Form und Attribut. In seiner unendlichen Stille beginnt sich ein Impuls zu regen, die zarteste Vibration, mit der das EINE sich seiner selbst bewusst wird. Und mit dieser ersten, uranfänglichen Bewusstwerdung entsteht, einem leisen Summen gleich, eine Regung der Sehnsucht.
Sehnsucht, sich selbst zu erfahren, sich auszudrücken und zu verwirklichen. Sehnsucht, sich in Form und Gestalt zu verlieren, um sich am Ende wiederzufinden. Sehnsucht, in Beziehung zu gehen, sich selbst in jeder denkbaren und undenkbaren Form zu begegnen und auf jede mögliche und unmögliche Art zu lieben.
Dieser erste Impuls in der ewigen, unendlichen Stille hat aus dem EINEN zwei gemacht, die doch untrennbar miteinander verbunden sind, so wie die Sonne und ihr Licht, so wie Feuer und seine Hitze: das reine (Gewahr-)Sein und seine Sehnsucht - pochende, pulsierende Energie, die sich schon bald ihre Bahn brechen wird.
Diese beiden Aspekte des EINEN Absoluten werden im Shaiva-Tantra gemeinhin als Shiva und Shakti bezeichnet und gerne mit den Attributen »Das Heilige Männliche« und »Das Heilige Weibliche« belegt. Die absolute Realität, das Göttliche - für das es so viele und am Ende doch keinen Namen gibt - ist also Gott und Göttin zugleich.
Ikonografisch wird dieses Prinzip gerne als »Ardhanarishvara« abgebildet, ein Wesen, dessen rechte Körperhälfte die männliche Gottheit (Shiva) ist und dessen linke Hälfte die Göttin (Shakti). Diese Darstellung verdeutlicht, wie untrennbar miteinander verbunden diese zwei Aspekte der EINEN Realität sind.
Auch wenn dieser zweigeschlechtliche Ansatz erfrischend zeitgemäß ist: Bitte mach dich an dieser Stelle frei von allen Assoziationen zu Gleichberechtigung, Feminismus und Emanzipation. Es geht hier nicht um Geschlechterrollen, sondern um übergeordnete existenzielle Prinzipien, die sich in jedem von uns, gleichgültig welcher Gender-Zugehörigkeit, ebenso wie in jedem noch so kleinen Partikel dieses Universums ausdrücken.
Shiva, der sogenannte männliche Aspekt der Realität, steht für reines Gewahrsein, formlos und ohne jegliches Attribut, durch das er sich beschreiben ließe. Er ist die leere Leinwand, auf der sich das Leben in buntesten Farben entfalten kann. Er ist der transzendente, ewige Urgrund, aus dem alles hervorgeht und in dessen stiller Unendlichkeit sich alles wieder auflöst.
Shakti, die Göttin, ist Energie. Sie ist der schöpferische Aspekt des EINEN, der sich in Form und Gestalt ausdrückt, sich verdichtend von der subtilsten Schwingung bis hin zur gröbsten Materie. Alles, was du im Inneren oder Äußeren wahrnehmen kannst, ist Shakti. Dazu gehören auch deine Gedanken, Gefühle und Träume.
Sie ist der immanente, allem innewohnende, Aspekt des Göttlichen, sich in unendlichen Formen manifestierend und als pulsierende Energie in ständigem Fluss und stetigem Wandel. Metaphorisch wird Shakti mit dem Weiblichen gleichgesetzt, denn sie bringt als kreative Kraft des EINEN Leben hervor und versinnbildlicht - ebenso wie der weibliche Körper mit seinen hormonellen Zyklen - rhythmische Veränderung.
Das Pratyabhijna Hrdaya (ausgesprochen: »pratyabignija hriddaya« - übersetzt: »Herz der Erkenntnis«) ist der wohl prägnanteste und zugänglichste Text des Kaschmirischen Shivaismus, der beschreibt, wie sich das EINE Absolute in einer unendlichen Vielfalt von Formen als dieses unser Universum manifestiert. In den ersten beiden Versen heißt es, dass die Göttin aus sich selbst heraus den Kosmos entfaltet. Man könnte auch sagen, sich selbst als Kosmos entfaltet:
»Die Göttin, schöpferische Kraft des Absoluten Bewusstseins, bringt in völliger Freiheit das Wunder des Universums hervor. Kraft ihres eigenen Willens entfaltet sie sich als das dynamische Gewebe des Lebens.«
Das weibliche Prinzip nimmt im Tantra eine besondere Stellung ein: Ohne Shakti ist Shiva »shava« (ein Leichnam), besagt ein tantrisches Sprichwort. Sie ist seine Sehnsucht, seine Liebe, seine Fähigkeit zu Glückseligkeit, die Kraft seines Bewusstseins. Nur durch sie kann er aktiv werden, sich ausdrücken und selbst erfahren.
Das Göttliche ist in seinen zwei Aspekten also gleichzeitig transzendent, das heißt jenseits von Zeit und Raum, jenseits der Erfahrbarkeit durch unsere fünf Sinne und unser Alltagsbewusstsein; und immanent, das bedeutet sich verkörpernd als dieses unser Universum. Es ist Ursprung und Ausdruck, Schöpfer und Schöpfung, Sein und Werden, Stille und Dynamik.
Wenn du dir diese Bi-Polarität des Göttlichen bewusst machst, erschließt sich dir die auf den ersten Blick seltsam anmutende Ikonografie des Tantra: Häufig wird Shiva als durchscheinend blasse und leblos daliegende Gestalt dargestellt und Shakti, die Göttin, in ihren unterschiedlichen Gestalten auf ihm tanzend oder sitzend. Shiva hält den Raum, in dem Shakti sich entfaltet.
Stell dir die beiden als ein Glas voll Wasser vor: Shiva als Glas ist der durchscheinende, unsichtbare Container (oder sehr treffend auf Deutsch: Be-hält-er), der die Form (zusammen-)hält. Shakti ist das Wasser darin, fließend, veränderlich, sich neu formend in jedem Moment.
Sie können nicht ohneeinander: Ohne Shakti ist Shiva leblos. Ohne Shiva ist Shakti außer sich und zerstörerisch statt kreativ. Dieses Prinzip wird eindrucksvoll veranschaulicht in einer mythologischen Geschichte: Nach einem epischen Kampf, in dem die dunkle Göttin Kali (du wirst sie im zweiten Teil des Buchs näher kennenlernen) eine ganze Armee von Dämonen besiegt hat, steigert sie sich in einen so unkontrollierbaren Blutrausch, dass ihr Siegestanz die ganze Welt zu zerstören droht. Erst als Shiva sich ihr zu Füßen wirft und ihr seinen Körper als Tanzboden darbietet, kommt sie zur Besinnung.
Als dynamischer, veränderlicher Aspekt der Realität nimmt das Heilige Weibliche im Tantra ganz unterschiedliche Formen an, mal lieblich, mal fürchterlich. Die zehn Mahavidyas gehören zweifellos zu den eindrucksvollsten Gestalten, in denen die Göttin uns begegnet.
Zurück zum Schöpfungsmythos des Tantra: Die summende Sehnsucht des EINEN - pochend, drängend - birgt unendliche Potenzialität, die sich schließlich als »kosmischer Orgasmus« im Urknall entlädt. Mit ihm entstehen Zeit und Raum.
Der alldurchdringende Schall des Big Bangs ertönt als großes Pranava, das uranfängliche OM. Es ist die Ur-Schwingung, aus der alles hervorgeht, und die seit Anbeginn durch Zeit und Raum widerhallt.
Mit dem Urknall explodiert das EINE Absolute förmlich in dieses gewaltige erste OM, ekstatisch und frei. Die Silbe OM bedeutet auf Sanskrit »ja« - und das große Pranava ist ein bedingungsloses Ja zur Schöpfung. Es initiiert den Prozess des Werdens: Von den einfachsten molekularen Verbindungen hin zu immer komplexeren Formen, sucht sich das Göttliche seinen Ausdruck.
Es ist ein Weg in die Vielfalt. Das formlose EINE verdichtet und fragmentiert sich in diverseste Formen und Gestalten, um sich selbst zu begegnen, denn uns selbst erfahren können wir nur, wenn wir in Beziehung gehen. Um uns selbst zu sehen, bedarf es des »Anderen«, das uns spiegelt.
Dieses uranfängliche, große Ja ist ein Akt der Liebe und eine Art Heilige Hochzeit mit dem Leben selbst. Es sagt: Ich will dich lieben, in guten wie in schlechten Tagen. Ich lasse mich aus tiefstem Herzen auf dich ein, freiwillig und voller Freude, in staunender Neugier auf die unendlichen Erfahrungen, die du mir bescheren wirst.
Das bedingungslose Ja des EINEN wird gegeben in radikaler Freiheit und ohne jede Einschränkung, nichts ausschließend, alles glückselig auskostend - egal, ob der Moment gerade euphorisch oder schmerzhaft ist!
Diese ultimative Glückseligkeit wird auf Sanskrit mit dem schönen Wort Ananda umschrieben und trägt in sich die pulsierende Energie der Freude.
Doch aufgepasst: Ananda ist nicht die an äußere Umstände gebundene Freude über etwas Bestimmtes, etwas...
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