Schweitzer Fachinformationen
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Fast lautlos fiel die massive Haustür hinter ihr ins Schloss, und die Geräusche der Straße verloren sich ebenso wie die drückende Hitze des Sommernachmittags. Erleichtert atmete sie auf, ignorierte wie immer die Tür des Lifts zu ihrer Rechten und stieg die geschwungene Treppe hinauf, obwohl der Kasten ihres Cellos schwer wog und ihre Bluse unter dem Rucksack längst feucht auf ihrer Haut klebte. Seit sie Anfang des Jahres die letzte Rate für die Wohnung im zweiten Stock des Altbaus überwiesen hatten, fühlte es sich anders an, nach Hause zu kommen, und sie freute sich jeden Tag aufs Neue daran.
An einem verregneten Novembertag vor fünfundzwanzig Jahren hatten sie die Wohnung das erste Mal betreten. Lachend waren sie durch die Zimmerfluchten gerannt, hatten sich über die alten Bäder und die Einrichtung der Speisekammer amüsiert, über die steinernen Balkonbrüstungen gelehnt und das Efeu bewundert, das sie später verfluchten. Der Kaufpreis für die sechs Zimmer hatte ihre damaligen finanziellen Verhältnisse bei Weitem überschritten und die Renovierung sie über zwei Jahre gezwungen, auf einer Baustelle zu leben. Aber sie hatten das Abenteuer gewagt und waren mit einem ganz besonderen Zuhause belohnt worden. Katrins Herz schlug nach wie vor höher, wenn sie daran zurückdachte. Auch an diesem Spätnachmittag. Die Wohnung war ihr Nest, ihr Rückzugsort vor einer Welt, die sie immer weniger verstand. Pandemie, Klimawandel, Krieg. Sie las keine Nachrichten mehr, versuchte anders als Thomas, der sich schon mit dem ersten Kaffee am Morgen einen Überblick verschaffte, auszublenden, was geschah. Doch das Ignorieren des Zeitgeschehens war nicht immer möglich. In den Gesichtern und der Haltung der Menschen spiegelte sich die Aufregung der Medien, und die Gespräche, die sie zwangsläufig in der Straßenbahn oder den Pausen der Proben mithörte, mündeten häufig in einem der ungeliebten Themen, als hätte man sie nicht schon tausendfach durchdiskutiert. Und als wäre das alles nicht schlimm genug, waren sie noch von Thomas' Vergangenheit eingeholt worden.
Die Gedanken an das Leben draußen und die damit verbundenen Ängste verloren sich, sobald die Wohnungstür aufschwang. Konnte man Ruhe und Frieden einatmen? Beim Anblick der geschliffenen Dielen und des durch die bodentiefen Fenster hereinfallenden sanften Lichts ließ sich die Anspannung tatsächlich abstreifen wie die Sandalen von den Füßen und der Rucksack von den Schultern. Sie stellte ihr Cello im Musikzimmer ab und wusch sich die Hände in der Gästetoilette, bevor sie durch den langen Flur in die am Ende gelegene Küche ging, um den Kaffeeautomaten anzustellen. Die Blätter des Ahornbaums vor den Fenstern warfen tanzende Schatten über den Tisch und das antike Büfett von Thomas' Großmutter. Leise summte Katrin die Melodie des letzten Satzes des Concerto grosso, das sie heute geprobt hatten. Als Reminiszenz an ihren bekanntesten Kapellmeister spielten sie im Staatsorchester nach langer Abstinenz wieder Händel. Sie hatte die klaren Klänge des Barocks vermisst, ebenso wie die feierliche Stimmung, die der Musik dieses Komponisten zu eigen war. Doch die Probe hatte sie auch ermüdet. Die Arbeit war fordernd gewesen und ihre Konzentration nicht die beste, allein ihre langjährige Erfahrung hatte sie vor gröberen Fehlern bewahrt.
Nun ließ der Duft des frisch gebrühten Espressos ihre Lebensgeister jedoch wieder erwachen. Mit der Tasse in der Hand schlenderte sie in Richtung Wohnzimmer und kickte im Flur gedankenverloren ein paar Sportschuhe von Kendra unter das Regal. Ihre Tochter würde vermutlich nie lernen, Ordnung zu halten, zumindest nicht im elterlichen Haushalt. In ihrem Zimmer sah es meistens aus, als wäre eine Bombe aus Bekleidung und Schulsachen explodiert, und auch in der übrigen Wohnung ließ sie alles stehen und liegen, was sie nicht mehr brauchte. Für Thomas war Kendra ein permanenter Quell des Ärgers. Anfangs, als ihr Verhalten mit dem Fortschreiten der Pubertät allmählich eskalierte, versuchte Katrin noch zu vermitteln, war dem Temperament der beiden jedoch nicht gewachsen. Die ständigen Streitereien trafen mit dem Einsetzen ihrer Wechseljahre zusammen, und zusätzlich gequält von Dünnhäutigkeit, Nervosität und Schlafstörungen, fühlte sie sich bald völlig überfordert, zumal sie während dieser Zeit durch einen Dirigentenwechsel auch beruflichen Spannungen ausgesetzt war. Thomas hatte nicht offen opponiert, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie sich professionelle Hilfe suchen wollte, aber seine Skepsis war dennoch offensichtlich gewesen. Er hielt nicht viel von Seelenklempnern, die in der Vergangenheit ihrer Patienten rumstochern, um sich selbst eine Daseinsberechtigung zu geben. Damit zielte er vor allem auf seine ältere Schwester Birgit ab, die eine Psychotherapiepraxis leitete und zu der er sich, warum auch immer, in ständiger Konkurrenz befand. Katrin konnte diese Abneigung nie wirklich nachvollziehen, wenngleich sie Birgits Leben in der von Altachtundsechzigern geprägten Wohngemeinschaft auf einem Bauernhof als durchaus exzentrisch empfand.
Mit der Kaffeetasse in der Hand trat sie auf den Balkon hinaus. Eine Amsel sang gegen den Verkehrslärm an, der zum Feierabend hin kurzfristig anschwoll, um dann völlig abzuebben, und Katrin dachte an das letzte Gespräch mit ihrer Therapeutin zurück. Sie hatten sich über ihre Probleme mit Kendra unterhalten, ihren jugendlichen Starrsinn und ihre aufbrausende Art. Das große Thema des Loslassens. Das ganze Leben bestand daraus. Es war eine Erkenntnis, die sie intellektuell nachvollziehen konnte. Emotional gelang es ihr nicht. Die Angst um ihre neunzehnjährige Tochter blockierte sie, sie wollte kontrollieren, wo sie nicht durfte, und es mangelte ihr an Vertrauen. Ihrer Meinung nach fehlte Kendra ein gesundes Maß an Besonnenheit und Ehrgeiz. Sie war in dieser Hinsicht anders als ihr um zehn Jahre älterer Bruder Benjamin, der schon als Kind genau wusste, was er wollte, und mit einem Fleiß daran arbeitete, es zu erreichen, sodass es kein Wunder war, dass er später sein Jurastudium inklusive des zweiten Staatsexamens innerhalb von nur sieben Jahren bewältigte. Auch Thomas war wahnsinnig stolz auf seinen Überflieger, wie er seinen Sohn gern liebevoll nannte. Katrins Blick verlor sich im Grün der Bäume des Stadtwalds auf der anderen Straßenseite. Als Benni noch zu Hause wohnte, joggte er jeden Morgen vor der Schule dort, und wenn sie vom Fenster aus beobachtete, wie er mit langen, kräftigen Schritten unter den Bäumen verschwand, jedes Wetter ignorierend, war sie jedes Mal dankbar für das unkomplizierte Leben mit ihm. Er musste nie daran erinnert werden, seine Hausaufgaben zu erledigen, und vor wichtigen Prüfungen lernte er, statt zu feiern.
Katrin nippte an ihrem Espresso, blickte auf die Straße hinunter und zählte aus alter Gewohnheit die Fahrräder, die am Zaun angekettet waren. Kendras Rad lehnte ganz rechts an einem Pfosten. Katrin runzelte die Stirn. Ihre Tochter hasste es, weite Strecken zu Fuß zu gehen. Wenn sie das Haus verließ, nahm sie ihr Fahrrad mit. Katrin stellte ihre Tasse auf dem Balkontisch ab und eilte durch das weitläufige Wohnzimmer und den Flur. Sie hatte die Hand schon auf dem Griff von Kendras Tür, zog sie dann aber doch zurück und klopfte. Keine Reaktion. Sie klopfte ein weiteres Mal. Ein ungutes Gefühl beschlich Katrin. Vor zwei Tagen erst hatte Kendra im Rahmen einer Abschlussfeier ihr Abiturzeugnis erhalten. Nach der Feier war Kendra mit nach Hause gekommen, um sich dann aber gleich wieder zu verabschieden. Seither hatten sie sich nicht mehr gesehen. Das war nicht ungewöhnlich, nach Abschluss der mündlichen Prüfungen bestand für Kendra kein Grund, früh aufzustehen, und meistens schlief sie noch, wenn ihre Eltern das Haus verließen. Abends kehrte sie häufig erst wieder zurück, wenn diese schon im Bett waren. Aber bisweilen hatte Katrin den Verdacht, dass Kendra ihnen - und ganz besonders Thomas - bewusst aus dem Weg ging.
Sie öffnete die Zimmertür und sah sich mit dem gewohnten Chaos konfrontiert. Schmutzige und saubere Wäsche lag auf Bett und Boden verstreut, dazwischen der Umschlag mit dem Abschlusszeugnis beinahe achtlos hingeworfen. Kendras Notendurchschnitt reichte nicht für ihren Wunschstudiengang Biologie. Darüber waren sie sich alle schon seit Monaten im Klaren gewesen. Aber vielleicht war es ihr erst jetzt beim Anblick des Zeugnisses wirklich bewusst geworden. Auf dem Schreibtisch stapelten sich noch ein paar Schulbücher. Katrin blickte sich suchend um. Kendras Umhängetasche fehlte. Sie eilte hinaus und öffnete den Schuhschrank. Auch die Sneakers ihrer Tochter waren nicht da. Ebenso wenig ihre Flipflops und die Sommerjacke, die normalerweise in der Garderobe hing. Katrin spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Aber warum? Es war nicht ungewöhnlich, dass Kendra für ein, zwei Tage bei ihrem Freund untertauchte oder einer Freundin, ohne es vorher anzukündigen. Warum beunruhigte es sie dann jetzt?
Katrin suchte ihr Telefon aus dem Rucksack heraus und überprüfte die eingegangenen Nachrichten. Von Kendra war keine dabei. Sie wählte die Nummer ihrer Tochter, erreichte aber nur ihre Mailbox. Kendra war ganz sicher bei Max oder Nina. Sie murmelte es wie ein Mantra vor sich hin, während sie erneut in das Zimmer ihrer Tochter trat. Etwas war anders. Sie hätte nicht sagen können, was es war. Aber etwas war anders. Fühlte sich anders an.
Ihr Blick fiel auf die Pinnwand, die neben Kendras Schreibtisch an der Wand hing. Zwischen alten Festivalbändern, Gutscheinen und dem Stundenplan des letzten Winterhalbjahrs entdeckte sie ein Foto von ihrer Tochter, Max und Nina. Kendra stand in der Mitte und lachte...
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