Schweitzer Fachinformationen
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Rebecca
Das Licht der Scheinwerfer drang kaum durch die feinen Flocken, die der Wind vor sich hertrieb. Rebecca blinzelte in die Dunkelheit und rieb aus alter Gewohnheit ihre behandschuhten Hände aneinander, während sie den langsam näher kommenden alten Van beobachtete.
»Da sind sie wieder einmal«, hörte sie Tommys sonore Stimme neben sich. Etwas lag in seinen Worten, das ihr nicht gefiel. Vielleicht war es die Betonung auf dem sie.
Das Fahrzeug kam nicht weit von ihnen entfernt mit knirschenden Reifen im Schnee zum Stehen. Einige der Hunde im Zwinger bellten, und der Wind ließ die Lichtmasten am Zaun schwanken, die Kälte Rebeccas Atem gefrieren, während sie von einem Bein auf das andere trat. Der Fahrer, ein stämmiger Osteuropäer, wandte sich kurz seinen Passagieren zu, bevor er seine Mütze tiefer ins Gesicht zog, die Handschuhe überstülpte und ausstieg, um die Schiebetüren auf beiden Seiten des Vans zu öffnen. Mit einer knappen Geste grüßte er in ihre Richtung.
Tommy spannte sich spürbar neben ihr an, scannte die Menschen, die ausstiegen, und schien ihnen jetzt schon die Hunde zuzuordnen, die er vor ihre Schlitten schirren würde. Der dicke Schneeoverall, den er trug, war den arktischen Temperaturen zum Trotz bis oben geschlossen, von seinem kantigen Gesicht nur wenig zu sehen unter dem großen Kragen und der tief in die Stirn gezogenen fellbesetzten Kapuze. Nun gab er sich einen Ruck und löste sich aus dem Windschatten des Holzhauses, vor dem sie standen.
»Hey, guten Morgen«, begrüßte er die acht Personen mit einem ehrlichen Lächeln auf Englisch, Skepsis und Überdruss wie weggeblasen. »Schön, dass ihr da seid.« Hände wurden geschüttelt. »Kommt rein, zieht euch erst einmal um.«
Die Fähigkeit, spontan umzuschalten und dabei so authentisch zu bleiben, war nur eine von vielen Eigenschaften, die Rebecca an Tommy bewunderte.
Seit zwei Jahren arbeitete sie auf seiner Schlittenhundestation auf der Hauptinsel des Archipels Spitzbergen, dem nördlichsten ständig bewohnten Posten der Menschheit, nur eintausenddreihundert Kilometer südlich des Nordpols. Tommy war nicht nur Tommen Myhres Spitzname, sondern auch die geniale Zusammenführung seines Vor- und Nachnamens zum Logo der Station TomMy, so wie er selbst ihr Herz war. Hunde und Kunden liebten ihn. Die vielen positiven Bewertungen im Internet zeugten davon und sicherten ihnen das Überleben gegen die Konkurrenz der großen Stationen. Rebecca mochte nicht daran denken, was es für sie alle bedeuten würde, sollte Tommy sich entgegen seinen guten Vorsätzen entschließen, wieder häufiger Expeditionen zu führen und wie früher mit seinen Hunden über das Packeis zum Nordpol zu fahren, nach Grönland oder Kanada. Es war ihr größter Wunsch, ihn auf einer solchen Reise zu begleiten, aber sie wusste, es würde ein Traum bleiben. Seit er mit Lynn einen Sohn hatte, disziplinierte er sich, wenn es ihm auch schwerfiel.
Nun stapfte Tommy ihnen voraus durch den Schnee und öffnete die Tür des robusten Holzhauses. Im Eingangsbereich herrschte wie immer Chaos. Zu viele Overalls, Stiefel, Mützen, Handschuhe auf zu engem Raum. Feuchtigkeit hing in der Luft. Rebecca zählte längst nicht mehr, wie oft sie schon die Einweisung in das Ankleiden gegeben hatte, Hosenbeine über die Stiefel, Handschuhe über die Ärmel. Immer mit einem Lächeln, immer hilfsbereit. Den meisten Teilnehmern ihrer Fahrten mit den Hunden war nicht klar, wie wichtig diese kleinen Details waren, um gegen die Kälte bestehen zu können. Sie bemerkte, wie Tommys Blick an den rot lackierten Fingernägeln der jungen Belgierin und der unbeholfen erscheinenden Gestalt ihres Partners hängen blieb, von dort zu der leicht übergewichtigen Norwegerin glitt, die sich von ihrem Mann in den Overall helfen ließ. Die vier Deutschen, drei Frauen und ein Mann, streifte er nur, sie wirkten unternehmungslustig und flexibel, mit ihnen würde es keine Probleme geben.
Von draußen schaute Mathilde herein, gut verpackt in ihrem Overall, und nickte ihr zu. Die Schlitten waren bereit. Dieser Winter war die erste Saison der zierlichen Weltenbummlerin aus Frankreich. Sie war gerade Mitte zwanzig und damit rund zehn Jahre jünger als Rebecca, die gespannt war, wie lange die kleine, energiegeladene Frau bleiben würde.
Als sie aus der Wärme des Hauses wieder in die Dunkelheit des klirrend kalten Polarmorgens hinaustraten, setzte sich der feine Schnee sofort im Fell der Kapuzen und auf den Wimpern fest, der Wind zerrte an ihnen. Auf eine Kopfbewegung Tommys hin nahm Rebecca das belgische Paar unter ihre Fittiche und zeigte gleichzeitig den Deutschen ihre Schlitten.
»Es hat hoffentlich keiner von euch Angst vor den Hunden«, rief Tommy gegen den Wind. »Ich lasse sie jetzt nämlich heraus, damit ihr euch miteinander bekannt machen könnt. Ihr sollt schließlich heute den ganzen Tag zusammenarbeiten.«
Halogenscheinwerfer flammten auf.
Es war immer ein besonderer Moment, wenn Tommy die Zwingertür öffnete und die Hunde herausstürzten und ihn flüchtig begrüßten, bevor sie zu ihren Schlitten liefen, deren Position sie genau kannten.
Rebecca sog die kalte Luft tief ein, bis ihre Lungen zu schmerzen begannen. Trotz des Schneetreibens konnte sie erkennen, wie die schier endlose Dämmerung dieser Jahreszeit einsetzte. Mitte Februar stieg die Sonne noch nicht über den Horizont, dennoch würde sich die tiefe Dunkelheit der Polarnacht bis zum Mittag ganz allmählich verlieren. Berge, Fjorde und Häuser würden in dem mystischen, allmählich heller werdenden Blau des Nordens Gestalt annehmen, und für kurze Zeit würde es so licht werden wie in Deutschland an einem verhangenen Wintertag, bis das Land am frühen Nachmittag wieder in der Finsternis versank. Rebecca liebte dieses Spiel der Blautöne, das es nur hier gab. An ihren freien Tagen konnte sie ganze Vormittage damit verbringen, es von ihrem Fenster aus zu beobachten. Nun beeilte sie sich jedoch, die Hunde vor die Schlitten zu spannen. Dabei fing sie den Blick einer der deutschen Frauen auf, die erstaunt in den Anhänger von Tommys großem Gefährt blickte.
»Brauchen wir das alles?«
Das alles waren Notzelte, ein Erste-Hilfe-Koffer, Proviant, Signalmunition, ein Satellitentelefon und zwei Gewehre. Zudem Futter für die Hunde. Schnee legte sich bereits in einer feinen Schicht darüber.
»Wir müssen unterwegs auf alles vorbereitet sein. Hier draußen kann man nie wissen, was passiert«, erklärte Rebecca der Frau, die in ihrem Schneeoverall wie ein Michelin-Männchen vor ihr stand. »Wir können irgendwo stecken bleiben, einen Notfall haben oder einem Bären begegnen.«
»Es sind schon zwanzig Zentimeter Neuschnee gefallen«, sagte Tommy im Vorbeigehen auf Norwegisch zu ihr. »Das wird eine anstrengende Tour.«
Wie immer würden sie mit den Touristen auf einen nahen Gletscher fahren und die Höhlen unter dem Eis besichtigen. Normalerweise benötigten sie dafür gut vier Stunden hin und zurück. Heute würde es länger dauern. Und obwohl sie die Tour regelmäßig begleitete, ahnte sie, dass ihr bei diesen Wetterverhältnissen am Abend alle Knochen wehtun würden.
Inzwischen war die Gruppe startklar, stand im Halbkreis vor Tommy und lauschte aufmerksam, während er die wichtigsten Basics erklärte. Die Hunde bellten aufgeregt, wie immer kurz vor dem Aufbruch. Rebecca zog kurz ihre Handschuhe aus, um ihre Kapuze fester um den Kopf zu ziehen, die Kälte schnitt sofort in ihre Finger. Die hohe Luftfeuchtigkeit und der Wind ließen die gefühlte Temperatur weitaus niedriger erscheinen als lediglich minus zehn Grad.
Sie stiegen auf die Kufen, aufgeregtes Bellen vermischte sich mit letzten Anweisungen, und dann waren sie unterwegs, und plötzliche Stille umgab sie. Die Hunde gaben keinen Laut von sich, wenn sie rannten, nur das Keuchen ihres Atems trug der Wind ihr zu, während die Kufen der Schlitten lautlos durch den Schnee glitten. Die Sicht war so dürftig, dass alles um sie herum im Weiß des fallenden Schnees verschwand. Rebecca, die das Schlusslicht bildete, konnte Tommys Schlitten und die lange Reihe seiner dreizehn Hunde nur als dunkle Schemen erkennen, als sie in großem Schwung die erste Steigung nahmen. Aber das störte sie nicht. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie die Wintertouren lieben gelernt. Selbst wenn sie eine Touristengruppe begleitete, bot sich ihr immer ein Stück willkommene Einsamkeit im Austausch mit den Hunden und der Natur.
»Du willst wohin?«, hatten ihre Kollegen ungläubig gefragt, als sie vor zwei Jahren gekündigt hatte und ihnen ihren Entschluss, Deutschland zu verlassen und zumindest für eine Saison nach Spitzbergen zu gehen, verkündet hatte. »Das ist nicht dein Ernst!«
Die meisten Menschen, das hatte sie schnell erfahren, wussten nicht einmal, wo die Inselgruppe im arktischen Meer lag. Sie vermuteten den Ort auf dem nördlichen norwegischen Festland. Dabei befanden sich zwischen Tromsö in Nordnorwegen und Longyearbyen, dem Hauptort auf dem Archipel Spitzbergens, knapp eintausend Kilometer.
Sie hatte ihre Entscheidung nicht verteidigt. Lediglich die Schultern gezuckt. Was hätte sie auch sagen können. Keiner der Kollegen wusste, was sie veranlasst hatte, so plötzlich zu kündigen, und sie wollte auch nicht, dass sie es erfuhren. Zudem war ihr Vorhaben nicht durchdacht gewesen. Spontan hatte sie die erstbeste Stelle angenommen, die die beiden einzigen Bedingungen erfüllte, die sie sich gesetzt hatte: Sie wollte ins Ausland, und die Arbeit musste etwas mit Natur oder Tieren zu tun haben. Dabei war sie...
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