Schweitzer Fachinformationen
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»Der Chagos-Archipel. Ein Name, so seidenweich wie ein Streicheln, so brennend wie die Sehnsucht, so hart wie der Tod .«
Shenaz Patel, Die Stille von Chagos, 2017
»La Cour!« Die Worte wurden an einem Sommermorgen in Den Haag feierlich von einem Mann in Amtstracht ausgerufen, vor seiner Brust hing eine eindrucksvolle Silberkette, ein Symbol der Autorität. Wie seit vielen Jahrzehnten eingespielt, verkündete er den Einzug der Richter. In plissierten schwarzen Roben betraten sie gesetzten Schrittes den Großen Saal des Friedenspalastes, wo sie sich in Reih und Glied zu ihren Plätzen hinter einem sehr langen Tisch begaben. In ihrer Mitte der Präsident, ein ruhiger Mann aus Somalia, der aus eigener Erfahrung wusste, was es bedeutete, Empfänger britischen und italienischen kolonialen Edelmuts zu sein. Er sah sich im Gerichtssaal um, blickte auf die Reihen von Anwälten und Diplomaten, Journalisten und Übersetzern, umrahmt von riesigen Buntglasfenstern und Kristallleuchtern, dann forderte er uns auf, Platz zu nehmen.
Direkt hinter mir, in der zweiten Reihe, saß eine schwarz gekleidete zierliche Dame, und die kleine Handtasche, die sie umklammert hielt, verlieh ihr ein förmliches, würdevolles Aussehen. Sie war aus dem fernen Mauritius als Mitglied der Delegation dieses Staates angereist. Sie war hier, um eine Geschichte zu erzählen, eine kurze Geschichte über ihre Jugendjahre, in der Hoffnung, dass ihr Bericht die Entscheidung der 14 Richter vielleicht in eine Richtung lenkte, die ihr ermöglichen konnte, an den Ort zurückzukehren, an dem sie geboren wurde. Ihre Heimat, im wahren Sinne, dort, wo das Herz ist, war Peros Banhos, ein Atoll, das zu einem Archipel namens Chagos gehört, der inmitten der Weiten des Indischen Ozeans liegt. Von dort war sie vor fünf Jahrzehnten zusammen mit Hunderten anderer Chagossianer zwangsumgesiedelt worden.
Liseby Elysé lebte bis zu ihrem 20. Lebensjahr glücklich auf einer der Inseln von Peros Banhos. Dann wurde sie eines Frühlingstages ohne Vorwarnung von den britischen Behörden aus ihrem Haus geholt, sie durfte einen einzigen Koffer mitnehmen, und man befahl ihr, an Bord eines Schiffes zu gehen, das sie tausend Meilen weit weg befördern würde. »Die Insel wird Sperrgebiet«, teilte man ihr mit. Niemand erklärte ihr, warum. Niemand erwähnte eine neue Militärbasis, welche die Amerikaner auf einer anderen Insel des Archipels, Diego Garcia, mit britischer Erlaubnis errichteten. Und niemand sagte ihr, dass Chagos, das lange zu Mauritius gehört hatte, von diesem Territorium abgetrennt worden war und nun eine neue Kolonie in Afrika war, bekannt als »Britisches Territorium im Indischen Ozean«. Madame Elysé und die gesamte Gemeinschaft von etwa 1500 Menschen, fast alle Schwarz und viele von ihnen Nachfahren versklavter Plantagenarbeiter, wurden gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen, und deportiert.
Madame Elysé war in Den Haag, um in einem ihre Inseln betreffenden Rechtsfall auszusagen. Die 14 Richter wussten noch nicht, wer sie war oder welche Rolle sie in dem Verfahren spielte. Sie würden Argumente in Bezug auf Großbritanniens letzte Kolonie in Afrika hören, erfahren, wie sie von Mauritius abgetrennt wurde, und sie würden entscheiden, ob sie völkerrechtlich zu Mauritius oder zu Großbritannien gehörte. Die Richter würden sich mit historischen Fragen und mit Aspekten der Kolonialherrschaft befassen, dabei völkerrechtliche Probleme von »Rasse« und Recht erörtern. Sie würden sich mit dem Prinzip der »Selbstbestimmung« beschäftigen und am Ende darüber urteilen, ob eine Gruppe von Menschen selbst über ihr Schicksal entscheiden durfte oder ob diese Menschen sich von anderen diktieren lassen mussten, wie ihr Leben zu verlaufen hatte.
Madame Elysé war eine Zeugin für Mauritius, den afrikanischen Staat, den ich in diesem Fall vertrat. Sie würde im Namen der Chagossianer sprechen, in ihrer Kreolsprache, mit Klarheit, Kraft und Leidenschaft. Weil sie weder lesen noch schreiben konnte, hatten die Richter eingewilligt, dass sie mittels einer vorher aufgezeichneten Erklärung aussagen würde. Sie würde sie währenddessen beobachten, so wie die Richter sie beobachteten, eine Frau in einem schwarzen Kostüm und einer spitzengeränderten weißen Bluse, am Revers eine kleine blau-rote Plakette, die forderte: »Let Us Return!«, »Lasst uns zurückkehren!«
Der Präsident eröffnete das Verfahren mit einer kurzen Zusammenfassung des Falles, dann bat er den ersten Sprecher, sich an das Gericht zu wenden. Langsam begab sich Sir Anerood Jugnauth - 88 Jahre alt, ehemaliger Premierminister von Mauritius, Mitglied der höheren Anwaltschaft von England und Wales, Queen's Counsel (Kronanwalt) - zum Podium. Er sprach exakt 15 Minuten, es folgten zwei weitere Anwälte, eine kurze Kaffeepause und dann ein dritter Anwalt. Er und die Rechtsanwälte lasen von vorbereiteten Skripten ab, was für die Richter wie das Publikum eine gewisse Theateratmosphäre aufkommen ließ. Die Richter unterbrachen weder, noch stellten sie Fragen.
Dann begab ich mich zum Podium. Ich hatte schon viele Male zu diesem Gericht gesprochen, war diesmal jedoch angespannter als sonst. Madame Elysé, die jetzt in der ersten Reihe saß, stand kurz auf, als ich sie vorstellte. »Das Gericht sollte die Stimme der Chagossianer direkt hören«, erklärte ich, damit es ein Gespür für die Realitäten der Kolonialherrschaft bekommen würde.
Madame Elysés Erklärung wurde auf zwei große Bildschirme projiziert, die über den Richtern hingen, Worte und Bilder wurden weltweit ausgestrahlt. Im fernen Port Louis, der Hauptstadt von Mauritius, wurde das Verfahren live im Staatsfernsehen übertragen, und die Freunde von Madame Elysé hatten sich zum Zuschauen in einem Gemeindezentrum versammelt. Sie weinten, als sie sprach.
»Mappel Liseby Elysé.«
»Mein Name ist Liseby Elysé.« Die Übersetzung erschien in Englisch und Französisch in Form gut lesbarer Untertitel unten auf dem Bildschirm.
»Ich wurde am 24. Juli 1953 auf Peros Banhos geboren. Mein Vater wurde auf Six Îles geboren. Meine Mutter wurde auf Peros Banhos geboren. Meine Großeltern wurden auch dort geboren. Ich gehöre zur Delegation von Mauritius. Ich erzähle nun, wie ich gelitten habe, seit ich von meiner paradiesischen Insel entwurzelt worden bin. Ich bin froh, dass der Internationale Gerichtshof uns heute anhört. Und ich bin zuversichtlich, dass ich auf die Insel zurückkehren werde, auf der ich geboren wurde.«
Bei diesen Worten änderte sich die Stimmung in dem Großen Saal. Plötzlich war eine lastende Stille zu spüren, eine Stille, wie sie einen bedeutungsvollen Moment in einem öffentlichen Raum begleitet, eine Stille von der Art, wie man ihr in einem Theater oder Konzertsaal begegnet, wenn ein Künstler Kontakt mit einem Publikum herstellt, dessen Aufmerksamkeit so gefesselt wie gespannt ist. Während Madame Elysé sprach, ohne Skript, blickte der Präsident, der nur gut einen Meter entfernt saß, in ihre Richtung, derweil die Erinnerungen hervorpurzelten, in harten und eindringlichen Worten, die einen Kontrapunkt zum Prunk des Großen Saals bildeten:
»Jeder hatte eine Arbeit, seine Familie und seine Kultur. Aber wir aßen ausschließlich frische Nahrungsmittel. Schiffe, die von Mauritius kamen, brachten alle unsere Waren. Wie erhielten unsere Lebensmittel. Wir bekamen alles, was wir brauchten. Es mangelte uns an nichts. Auf Chagos führte jeder ein glückliches Leben.«
Der Tonfall änderte sich, wurde weniger sanft:
»Eines Tages sagte uns der Verwalter, dass wir unsere Insel verlassen, unsere Häuser verlassen und fortgehen müssten. Alle Menschen waren unglücklich. Sie waren wütend, dass man uns sagte, wir müssten fortgehen. Aber wir hatten keine Wahl. Sie nannten uns keinen Grund. Bis heute hat man uns nicht gesagt, warum wir gehen mussten. Aber danach kamen die Schiffe, die früher immer Nahrungsmittel gebracht hatten, nicht mehr. Wir hatten nichts zu essen. Keine Medizin. Überhaupt nichts. Wir litten viel. Aber dann eines Tages kam ein Schiff namens Nordvær.«
Madame Elysé hielt inne:
»Der Verwalter sagte uns, wir müssten an Bord des Schiffes gehen, alles hierlassen, alle unsere persönlichen Habseligkeiten zurücklassen, außer ein paar Kleidungsstücken, und weggehen. Die Leute waren sehr wütend darüber, und all das spielte sich im Dunkeln ab.«
Sie hielt abermals inne, während sie die Stirn runzelte. Sie nannte weder den Verwalter - Monsieur Willis-Pierre Prosper - beim Namen, noch nannte sie das Datum. Es war der Abend des 27. April 1973, bei Einbruch der Dämmerung:
»Wir gingen im Dunkeln an Bord des Schiffes, so dass wir unsere Insel nicht sehen konnten. Und als wir an Bord gingen, waren die Zustände im Bauch des Schiffes schlimm. Wir waren wie Tiere und Sklaven auf diesem Schiff. Die Leute starben an Traurigkeit auf diesem Schiff.«
»Tiere«. »Sklaven«. Madame Elysé spuckte die Worte aus:
»Und was mich betraf, ich war damals im vierten Monat schwanger. Das Schiff brauchte vier Tage, um Mauritius zu erreichen. Nach unserer Ankunft wurde mein Kind geboren und starb. Warum ist mein Kind gestorben? Ich denke, es starb, weil ich traumatisiert wurde auf diesem Schiff. Ich war sehr bekümmert, ich war durcheinander. Darum starb mein Kind, als es geboren wurde.«
Sie kniff die Lippen zusammen:
»Ich bleibe...
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