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Der bekannte Menschenrechtsanwalt und Bestseller-Autor Philippe Sands erzählt die atemberaubende Geschichte des einstigen SS-Offiziers Walter Rauff, der 1949 nach Chile flüchtete. Dort steht er von 1973 an im Dienst der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Im Keller des Hauses Londres 38 ist er an brutalen Verhören und Morden des Geheimdienstes beteiligt.
Walther Rauff war als SS-Sturmbannführer ab 1941 für die Entwicklung der mobilen Gaswagen verantwortlich, die in der besetzten Sowjetunion für die Massenmorde an Juden und Sinti und Roma eingesetzt wurden. Er floh 1949 nach Chile, scheinbar weit entfernt von seiner dunklen Vergangenheit. Doch als Gerüchte über Rauffs Verwicklung in Pinochets Geheimdienst und das Verschwinden von Menschen in Chile aufkommen, entfaltet sich eine erschreckende Geschichte.
1998 wird Pinochet in London verhaftet. Philippe Sands beteiligt sich an der Anklage gegen ihn und stößt dabei auf Walter Rauff. Acht Jahre lang recherchiert er über Rauffs zweites Leben, seine Verbindungen zu Pinochet und seine Rolle bei den Gräueltaten, die im Mittelpunkt des Londoner Verfahrens stehen. Zugleich erzählt er von seiner Recherche über das Schicksal der Verschwundenen und seiner Suche nach Beweisen für Pinochets Verantwortung für Folter und Mord. Im März 2000 wird der frühere Diktator wegen seiner angegriffenen Gesundheit freigelassen. Er kehrt nach Chile zurück, wo er 2006 verstirbt.
Sands' einzigartige Mischung aus Detektivgeschichte, Gerichtsdrama und Lebensgeschichten stützt sich auf Interviews mit wichtigen Akteuren und umfangreiche Recherchen in Archiven auf der ganzen Welt. Auf dieser Basis gelingt ihm das fesselnde Psychogramm zweier Männer, eine Doppelgeschichte über Massenmord und Folter und über die Möglichkeiten und Grenzen des Rechts, die zwei brutale Diktaturen und mehrere Jahrzehnte überspannt. Und zugleich ein spannender Bericht aus erster Hand über ein internationales Strafverfahren von historischer Bedeutung.
Philippe Sands schildert Vorbereitung und Hergang des Mammutprozesses wie einen Gerichtskrimi und lässt die Schlüsselpersonen darin lebendig werden
»Eine fesselnde Reise durch die Zeit und ein Porträt des Bösen in all seiner Komplexität, Banalität und Selbstgerechtigkeit.« Stephen Fry über »Die Rattenlinie«
London, Oktober 19981
Es war der 17. Oktober 1998, ein Samstagnachmittag, als ich die Nachrichten im Radio hörte und auf die Fußballergebnisse wartete. Es war mein 38. Geburtstag. Der chilenische Ex-Diktator General Augusto Pinochet sei auf Antrag eines spanischen Richters in London verhaftet worden, berichtete die BBC.[1] Das war interessant, denn es kam nicht jeden Tag vor, dass ein ehemaliger Staatschef festgenommen wurde. Die Einzelheiten waren zwar etwas vage, aber es hieß, dass das Auslieferungsersuchen Verbrechen wie Völkermord, Folter und Verschwindenlassen von Menschen anführe, begangen in den Jahren seiner Machtausübung, also vom Tag des Staatsstreichs an, durch den er am 11. September 1973 an die Macht gelangt war, bis zu seinem Rücktritt im März 1990.
Die Nachricht von der Verhaftung löste Wut, Freude und Unglauben aus. Die chilenische Regierung protestierte dagegen mit der Begründung, Pinochet sei ein ehemaliger Präsident und Senator auf Lebenszeit mit vollständiger Immunität. Es sei »ein Verstoß gegen die internationalen Normen«, erklärte sein Sohn gegenüber einer Menschenmenge, die die Residenz des britischen Botschafters in Santiago mit Eiern bewarf. Von einem »Akt der Feigheit« sprach die Pinochet-Stiftung, die sein Vermächtnis bewahrt. »Er schlief, als die Polizei sein Zimmer in der Klinik betrat.«
Pinochets Gegner hingegen zeigten sich hocherfreut. Endlich könne er über das Schicksal unserer Angehörigen befragt werden, sagte der Vorsitzende der Agrupación de Familiares de Detenidos Desaparecidos (Verband der Familien der Verschwundenen). Eine »einmalige Gelegenheit«, sich für die Menschenrechtsverletzungen seines Regimes zu verantworten, meinte María Isabel Allende, die Tochter von Präsident Salvador Allende, der am Tag des Putsches Suizid begangen hatte. »Ein Erdbeben«, schrieb Roberto Bolaño, ein in der Nähe von Barcelona lebender chilenischer Schriftsteller. »Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war.«[2]
Die britische Regierung erklärte, dies sei Sache der Gerichte. »Der Gedanke, dass ein brutaler Diktator diplomatische Immunität beansprucht, wäre für die meisten Menschen ziemlich schwer verdaulich«, sagte der Minister Peter Mandelson.[3]
Die frühere Premierministerin Margaret Thatcher bezeichnete die Verhaftung des ruhiggestellten Pinochet »mitten in der Nacht« als empörend, unrechtmäßig und unmenschlich. Sie gefährde alle ehemaligen Staatsoberhäupter und verhindere Entscheidungen, die ein Staatsoberhaupt veranlassen könnten, »sich vor einem ausländischen Gericht zu verantworten«. Diejenigen, die »absolute Macht« ausübten, würden nun noch stärker an ihr festhalten, »aus Angst, den Rest ihrer Tage in einem spanischen Gefängnis zu verbringen«.[4] Unterstützung erhielt sie von Norman Lamont, für den Pinochet für ein »guter, tapferer und ehrenhafter Soldat« war.[5]
Zur Zeit des Putsches war ich ein Teenager und wusste wenig über Pinochet. In den folgenden Jahren besuchte ich Chile nicht, und die Chilenen, die ich kennenlernte, waren hauptsächlich Jurastudenten, die meine Vorlesungen hörten, oder Akademiker, die im europäischen Exil lebten. Ich las jedoch Bücher und sah Filme über diese Zeit, und 1991 besuchte ich eine Aufführung von Ariel Dorfmans Stück Der Tod und das Mädchen am Royal Court Theatre in London. Juliet Stevensons Darstellung einer Frau, die ihren Peiniger wiedererkennt, habe ich nie vergessen. Sie schildert ihrem Mann das Ereignis:
Ehemann: »Waren dir nicht - du hast gesagt, dir waren in all den Wochen .«
Frau: »Die Augen verbunden, ja. Aber ich konnte doch hören.«
Ehemann: »Du bist krank.«
Frau: »Ich bin nicht krank.«
Frau: »Also gut, dann bin ich krank. Aber ich kann krank sein und trotzdem eine Stimme erkennen [.]«
Ehemann: »Eine verschwommene Erinnerung an eine Stimme ist kein Beweis für irgendwas, Paulina, es ist anfechtbar -«
Ehemann: »Es ist seine Stimme. Ich habe sie sofort erkannt, als er letzte Nacht hereinkam. Es ist die Art, wie er lacht, die Worte, die er benutzt.«
Zu dieser Zeit lernte ich den chilenischen Rechtsprofessor Francisco Orrego Vicuña kennen, mit dem ich später in Umweltfragen zusammenarbeitete. Ich wusste nicht, dass er als Pinochets Botschafter in London gedient hatte, bis dieses Detail ans Licht kam und seine Wahl zum Richter am Internationalen Gerichtshof verhinderte. Er befand sich in guter Gesellschaft: Der Schriftsteller Jorge Luis Borges verspielte seine Chance auf einen Literaturnobelpreis, weil er seine Bewunderung für Pinochet zum Ausdruck brachte.
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Augusto Pinochet Ugarte wurde 1915 in Valparaíso geboren und war bretonischer und baskischer Abstammung. Er trat in die Armee ein und machte dort Karriere. Daneben unterrichtete er an Militärakademien in Chile und Ecuador, wo er Mitte der 1950er Jahre mit seiner Frau Lucía Hiriart lebte.[6] Im Jahr 1970 ernannte Salvador Allende, der neu gewählte sozialistische Präsident, Pinochet zum Chef des Generalstabs der Armee, der seinem Freund und Oberbefehlshaber Carlos Prats unterstellt war. Nach Prats' Rücktritt ernannte Allende Pinochet am 23. August 1973 zum Oberbefehlshaber. Achtzehn Tage später, am 11. September, spielte Pinochet eine führende Rolle beim Staatsstreich, durch den Allende gestürzt wurde, der daraufhin im Moneda-Palast, dem Amtssitz des Präsidenten, Selbstmord beging. Die Ereignisse werden in der bemerkenswerten Dokumentarfilm-Trilogie La Batalla de Chile von Patricio Guzmán nachgezeichnet.
Pinochet, ein glühender Antikommunist und Bewunderer alles Deutschen, wurde zum Chef einer vierköpfigen Militärjunta und später zum Präsidenten von Chile ernannt. Er wurde von großen Teilen der chilenischen Bevölkerung und in den Vereinigten Staaten von Präsident Nixon und Henry Kissinger unterstützt, der eine Woche nach dem Staatsstreich Außenminister wurde und die Entwicklung als Bollwerk gegen den sowjetischen Einfluss begrüßte - und als Mittel zur Förderung marktwirtschaftlicher Grundsätze, die sich an den Vorstellungen des Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman und der von ihm inspirierten chilenischen »Chicago Boys« orientierten.
Die Junta erließ Gesetze zur »Beseitigung des Marxismus in Chile«, löste linke politische Parteien auf und beschlagnahmte deren Vermögen.[7] Das Gebäude der Sozialistischen Partei in der Londres 38 im Herzen Santiagos wurde in eine geheime Verhör- und Folterzentrale umgewandelt, die als Yucatán-Kaserne bekannt wurde. Um nicht aufzufallen, verkleideten sich die Vernehmungsbeamten und Wachen als Zivilisten. Uniformiertes Personal war verboten; Lieferwagen und andere reguläre Fahrzeuge brachten die Gefangenen zur Zentrale und wieder fort.[8] Um diese geheimen Aktivitäten zu betreiben und zu finanzieren, übernahm die Junta private Unternehmen.[9]
Schon bald richtete die Junta eine Geheimpolizei ein, die Dirección de Inteligencia Nacional, die DINA, um Gegner in Schach zu halten und Londres 38 sowie andere Folter- und Tötungseinrichtungen zu betreiben. Als Direktor ernannte Pinochet Manuel Contreras, einen vertrauenswürdigen Militär von der Ingenieurschule in Tejas Verdes bei San Antonio, westlich von Santiago an der Pazifikküste, und erteilte ihm uneingeschränkte Befugnisse zur Vernichtung von Linken. Jeden Morgen erstattete er Pinochet Bericht, der, wie Contreras behauptete, jede DINA-Operation persönlich genehmigte. Pinochet selbst genoss den Schutz der militärischen Elitetruppe boinas negras, der »Schwarzbarette«.
Vier Jahre lang verhaftete, verhörte und folterte die DINA Zehntausende von Pinochet-Gegnern. Viele wurden getötet, und bis zur Auflösung der DINA im September 1977 waren mehr als 1500 Menschen verschwunden. Verhaftungen und Ermordungen wurden in Chile und auch im Ausland zur Routine. »Ein Land besetzt von der Diktatur, die in direkter Linie stand mit dem Denken der Nazis«, meinte der Dichter Raúl Zurita.[10]
Bereits einen Tag nach dem Staatsstreich wurden die ehemaligen Minister von Salvador Allende in ein neu angelegtes Konzentrationslager auf der Isla Dawson gebracht, einer Insel im Süden des Landes. Im Monat nach dem Putsch führte eine Todesschwadron der chilenischen Armee landesweit Mordanschläge durch.[11] Bei dieser Operation, die als »Todeskarawane« bekannt wurde, verloren 97 Menschen ihr Leben.
Binnen eines Jahres betrieb die DINA Dutzende von Haftanstalten. In Londres 38 verschwand im Durchschnitt jeden Tag ein Gefangener. Unter den nahe gelegenen Arrest- und Internierungsstätten waren das Estadio Nacional, die Villa Grimaldi, die geheimen Folterzellen in Cuatro Álamos - Teil der Einrichtungen des Lagers Tres Álamos - und die geheime Simón-Bolívar-Kaserne, die von der Lautaro-Brigade der DINA betrieben wurde. Die DINA erwarb ein Haus in der Vía Naranja, gelegen in einem wohlhabenden Vorort. Während dort literarische Salons stattfanden,...
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