Schweitzer Fachinformationen
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Der siebente Februar 1898 war ein unfreundlicher Tag. Am Horizont aufquellende olivfarbene Wolken kündigten Schneeregen an. Der Winter ging seinem Ende zu, und obwohl es nicht mehr eisig kalt war, zeigte sich Hamburg von seiner ungemütlichsten Seite. Die mühsam um ihren Platz am Himmel kämpfende Morgensonne fiel mit schwachem, gelblichen Schein durch die Fenster, hinter denen das Frühstückszimmer des Hauses Paquin lag, und spiegelte sich in den sorgfältig polierten Möbeln. Der Raum war wie ein Antiquitätenladen voll gestopft mit Lampen, Gemälden, Spiegeln, Kerzenleuchtern, Blumensäulen und Hockern, die kreuz und quer verteilt auf dem riesigen jadegrünen chinesischen Teppich standen.
Louise hatte das Zimmer klar vor Augen.
»Es fing gestern am Morgen an«, begann sie. »Wir hatten uns alle zum Frühstück versammelt .«
»Wer ist wir?«, fragte Lady Amy in inquisitorischem Ton.
»Der Privatsekretär meines Gatten, Herr Hansen, dann der Geschäftsführer der Apotheke, Magister Schlesinger, eine Kusine meines Mannes, die bei uns im Haus lebt, Fräulein Paula Hahne, und sein Neffe, der Oberleutnant Emil von Pritz-Toggenau. Und, ja, unser Hausarzt, Dr. Thurner. Seit es Raoul so schlecht ging, kam er jeden Tag.«
»Menschen, denen Sie und Ihr Gatte vertrauen konnten?«
»Oh ja. Ich meine . Der Magister ist sehr zuverlässig und war meinem Gatten stets ergeben, wie Herr Hansen auch.«
Ein Lächeln huschte über ihre blassen Lippen. Sie dachte daran, dass Raoul sich immer gebärdet hatte, als hätte er mit Frederick Hansen nicht einen Privatsekretär engagiert, sondern ein seltenes und vom Aussterben bedrohtes Tier eingefangen - und sie musste zugeben, dass der junge Mann, der seit einem Jahr in seinen Diensten stand, ein wirklich ungewöhnliches Exemplar war. In allen Richtungen gleich begabt und geschickt, wechselte er mühelos ein Dutzend Mal am Tag die Rollen und fungierte je nach Bedarf als Kammerdiener, Sekretär und wissenschaftlicher Assistent - und in letzter Zeit immer öfter als Pfleger für den zunehmend hinfälliger werdenden Apotheker. Er nahm es mit bewundernswerter Gelassenheit hin, ständig verunglimpft und mit den absurdesten Vorwürfen überhäuft zu werden. Wo jeder andere längst gekündigt hätte, sagte er nur: »Er ist ein kranker Mann.«
Einen flüchtigen Augenblick lang ging Louise die Erinnerung an das Dienstbotengeschwätz durch den Kopf, von dem einiges auch an ihre Ohren gedrungen war: dass er bis über beide Ohren in sie verliebt sei. Frederick war allerdings nie etwas dergleichen anzumerken gewesen. Er war und blieb ein treuer Diener seines Herrn und ganz dessen Wohlergehen gewidmet. Die schöne Hausfrau schien er nur am Rande wahrzunehmen.
Lady Amy beobachtete sie scharf. »Herr Hansen also, hm . Und die anderen?«
»Ich bin überzeugt, dass keiner von ihnen meinem Gatten ein Leid angetan hat.«
Sie war über den Gedanken an Frederick errötet, und weil Amy dieses Erröten zweifelsohne bemerkt hatte, war sie jetzt gereizt und kurz angebunden.
»Wir saßen alle schon bei Tisch, aber Raoul kam nicht, also bat ich Herrn Hansen, ihn zu suchen. Und dann .« Sie schluckte schwer. »Dann sagte Herr Hansen, Raoul habe sich im Bad eingeriegelt und antworte auf kein Rufen und Klopfen. Also schauten wir nach.«
Das Badezimmer lag am Ende eines düsteren, nur von einer schwachen Kugellampe erleuchteten Korridors, dessen Fenster auf einen Hinterhof hinausgingen. Kein Laut war hinter der Tür zu hören, als Frederick Hansen noch einmal und sehr energisch klopfte. Sigmund Schlesinger, den alles aus dem Gleichgewicht brachte, was seinem gewohnten Trott widersprach, jammerte plötzlich mit schriller Stimme: »Er ist tot! Er ist ganz gewiss tot!«
Louise fuhr dieser Aufschrei durchs Herz wie ein Pfeil. Sie stürzte, von jäher Angst überwältigt, nach vorne. »Raoul! Raoul! Was machst du denn da drinnen? Ist dir nicht wohl? So antworte doch!« Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Badezimmertür. »Raoul!«
Hinter der Tür blieb es still. Es gab keinen Zweifel mehr, dass dem Apotheker Paquin etwas Böses widerfahren war und sie nichts anderes tun konnten, als gewaltsam ins Badezimmer einzudringen.
Der Hausknecht wurde geholt, ein Mann von beachtlichen Körperkräften. Er rammte die Schulter einmal gegen die Tür, und sie bog sich in kreischenden Angeln, ein zweites Mal, und sie splitterte aus Schloss und Angeln und fiel in den Raum dahinter . und in einen See von Blut.
Die Dienstmädchen - inzwischen hatten sich alle vier am Schauplatz versammelt - kreischten. Schlesinger flüchtete die halbe Treppe hinunter und blieb dort stehen, käsebleich und am ganzen Leib zitternd. Paula Hahne presste die Hand auf den Mund und hastete würgend auf den Abort. Louise Paquin schrie gellend auf und schlug die Hände vors Gesicht. Ihre Zofe stürmte die Marmortreppe hinunter mit markerschütternden Schreien: »Der arme Herr - der Herr ist tot - er hat sich umgebracht -«
Im Badezimmer brannte nur die tief heruntergedrehte Gaslampe über dem Spiegel und malte eine Insel matter Helligkeit in den von Zwielicht umschatteten Raum. Inmitten dieser Insel lag, beleuchtet wie eine Figur in einer Camera obscura, nackt bis auf die Unterhose und seine weiße Nachtmütze, der Herr des Hauses mit durchschnittener Kehle. Das Rasiermesser war ihm aus der Hand gefallen und klebte in der stockenden Pfütze bräunlichen Blutes, die sich um Kopf und Oberkörper herum ausgebreitet hatte. Er musste sich den Hals im Stehen durchgeschnitten haben, denn das Blut aus der dicken, pulsierenden Ader am Hals war über das Waschbecken und den Spiegel darüber gespritzt, ja bis an die Wand oberhalb des Spiegels, wo es in Schlieren über die Ölfarbe rann. Ein widerwärtiger Geruch herrschte im Raum, aus Blutdunst und dem scharfen Rauch verkohlender Papiere, von denen ein dickes Bündel in der Klappe des gusseisernen Badeofens steckte.
Louise war so erstarrt vor Entsetzen, dass sie weder weinen noch schreien konnte. Sie stand unbeweglich da, den Blick fest auf das grausige Bild gerichtet, und sagte nur: »Armer Raoul.«
Auch die anderen waren verstummt. Emil war offensichtlich geschockt, aber wohl eher vom Anblick der Leiche als von einem Gefühl des persönlichen Verlusts. Dr. Thurner schien mehr Zuneigung zu dem Verstorbenen empfunden zu haben, als seine bissige und sarkastische Art nach außen hin spüren ließ. Paula Hahnes Gesicht war fleckig vom Speien, ihre Augen verwirrt, ihre Hände öffneten und schlossen sich in einem fort. Frederick wirkte wie ein Sohn, der seinen Vater verloren hatte, nicht wie ein Bediensteter nach dem Tod seines Herrn. Sigmund Schlesinger sah betroffen aus, aber nicht wirklich betrübt. Er war kein herzlicher Mensch. Seine Zuneigung zu Herrn Paquin hatte in untadeliger Arbeit ihren Ausdruck gefunden.
Lady Amy unterbrach Louises Bericht: »War es zweifellos Selbstmord?«
»Ja. Daran kann kein Zweifel bestehen. Man konnte deutlich sehen, dass der Riegel an der Innenseite der Tür vorgeschoben gewesen war, als sie eingedrückt wurde. Der Schlüssel steckte noch in dem vom gewaltsamen Aufbrechen verkrümmten Schloss. Aber es nimmt ja auch niemand an, dass ich ihm die Kehle durchgeschnitten habe. Sie sagen, es sei Gift im Spiel gewesen, denn da war diese Zeichnung auf dem Spiegel .«
Sie fuhr fort zu erzählen, krampfte die Hände ineinander bei der Erinnerung daran, wie auf der Straße allmählich ein böses Murren hörbar wurde, als das Gerücht die Runde machte, Herr Paquin sei von seiner Gattin ermordet worden.
Noch wusste niemand in der unmittelbaren Umgebung des Löwenhauses Genaueres darüber, was dort geschehen war, aber wie sich das Brodeln kochenden Wassers durch ein Zittern, ein Auftreiben von Bläschen, eine Unruhe in der Flüssigkeit ankündigt, so wurde diese Umgebung von einer unsichtbaren Spannung durchzogen, als die entsetzte Zofe auf die Straße herausgestürzt kam. Das Mädchen trug seinen Mantel über dem Arm und einen Pappkoffer in der Hand, ihr Hut saß schief auf dem aufgelösten Haar, die weiße Schürze hatte sie abzubinden vergessen. Sie bebte am ganzen Körper, und dieses Beben schien sich allem Lebendigen um sie herum mitzuteilen - der stille Alarm einer aufgebrachten und aufgeschreckten Kreatur erregte die Aufmerksamkeit ihrer Rudelgenossen. Wie Raubtiere witterten sie, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet hatte.
Es traf sie nicht unvorbereitet. Seit zwei Jahren richtete sich ihre hyänenhafte Aufmerksamkeit auf das prunkvolle Bürgerhaus, in dem der alte Mann mit seiner schönen jungen Frau lebte. Wie Schnaken sich mit Blut vollsaugen, hatten diese Beobachter sich seit Monaten mit Klatsch und Tratsch vollgesogen, immer ungeduldiger darauf wartend, dass die Spannung sich in einer Katastrophe löste. Es war ihnen nicht entgangen, dass es dem Apotheker zusehends schlechter ging, dass er sich immer seltener auf der Straße blicken ließ, bis er vor einem Monat gänzlich in seinem Haus verschwunden war. Boshafte Gerüchte machten die Runde. Argwöhnische Blicke folgten dem Privatsekretär, wenn er mit seinen langen Schritten und selbstbewusst erhobenem Kopf die Straße entlang eilte, und dem eleganten Oberleutnant, der sich so verdächtig oft im Löwenhaus aufhielt, obwohl er doch seine eigene Wohnung in der Villa seiner Mutter hatte. Nicht einmal der unnahbare Provisor blieb von dem Getuschel verschont, obwohl er verheiratet war....
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