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Der Wecker riss ihn ins Leben zurück. Es war März und noch immer stockdunkel draußen. Martin richtete sich schwerfällig auf, knipste die Nachttischlampe an und stellte den Wecker ab. Auf dem Handybildschirm leuchtete eine SMS seines Sohns, abgeschickt um 3.51 Uhr: Komme bald. Achtung: Verbitte mir jegliche Gratulationsbekundung!
Martin seufzte. Elis hatte im Jazzhuset in seinen Geburtstag hineingefeiert, und irgendwo zwischen Lokal und Zuhause hatte er es anscheinend für notwendig erachtet, seinen Vater darauf hinzuweisen, dass er keine Lust auf ein Geburtstagsständchen hatte.
Auf dem Weg ins Bad klopfte Martin an die Zimmertür seines Sohns und erhielt ein dumpfes Grummeln zur Antwort.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte Martin.
Er stellte die Kaffeemaschine an, holte die Zeitungen aus dem Flur, toastete Brot und kochte ein Ei. Als er gerade die Kulturseiten aufgeschlagen hatte, tauchte sein jüngstes Kind auf, marschierte schnurstracks zur Spüle, ließ ein Glas voll Wasser laufen und leerte es in einem Zug.
In den letzten Jahren war Elis um mehrere Dezimeter gewachsen, und immer deutlicher zeigte sich, dass er im Aussehen nach seiner Mutter kam, hoch aufgeschossen und blond gelockt. Martins auffälligster Beitrag zu Elis' genetischer Ausstattung waren die braunen Augen und, behauptete jedenfalls Gustav, ein Hang, bockig und verstockt zu sein, aber so zu tun, als sei er es nicht.
»War's schön gestern?«
Elis nickte und trank noch ein Glas Wasser.
»Möchtest du deine Geschenke jetzt oder später?«
Sein Sohn überlegte einen Moment, dann krampfte sich plötzlich sein Brustkorb zusammen. »Später«, würgte er und stürzte zur Toilette.
Martin kippte den letzten Schluck Kaffee hinunter und ging sich anziehen. Die Gestalt im Spiegel der Schranktür würdigte er keines Blickes. Er wusste sehr genau, wie er aussah. Die Haare auf der Brust waren grau geworden, die Waden dünn und die Knie knubbelig. Es half auch nicht, dass er drei Mal die Woche in Göteborgs teuerstem Fitnessstudio trainierte. Es war ein erbärmlicher Versuch, dem Unausweichlichen etwas entgegenzusetzen. Sein Körper hatte ihn verraten: Er gab vor, weiter wie gewohnt zu funktionieren, doch in Wahrheit hatte er ihn dem Altern ausgeliefert. Peu à peu, während seine Aufmerksamkeit von anderem in Anspruch genommen war. Früher war es kein Problem, nach einem Tag, an dem er von Mittag an mehr oder weniger betrunken gewesen war und eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte, am nächsten Morgen aufzuwachen, festzustellen, dass es der Tag des Göteborgsvarvet war, zu dem man sich aus Spaß angemeldet hatte, seine Laufschuhe hervorzukramen und den Halbmarathon in zwei Stunden herunterzuspulen. Man wiegte sich in dem Glauben, so würde der Körper eben funktionieren. Und dann baute man nach und nach ab, ohne dass man es merkte.
Schwarze Hose, schwarzes Sakko. Martin Berg kleidete sich wie jemand, der zur Beichte ging.
Wie üblich erschien er als Erster im Verlag. Er mochte es, wie die Lampen aufflackerten, wie der Tag erwachte und vor seinen Augen Gestalt annahm.
Mitten auf dem Computerbildschirm klebte ein Post-it: Location für Fest zum 25-jährigen Jubiläum - Kulturhaus Frilagret ok??? Die runde, säuberliche Handschrift stammte von der Volontärin Patricia. Eine blasse Erinnerung an eine unbeantwortete E-Mail regte sich in seinem Hinterkopf. Er klebte den Merkzettel an den Rand, wo schon eine Menge anderer Post-its pappten, die ihn an Dinge erinnerten, um die er sich sowieso erst kümmern würde, wenn es absolut unvermeidlich wäre. Es schien gar keine Rolle zu spielen, wie viel man arbeitete, die Zahl der Dinge, die »sofort« erledigt werden mussten, blieb konstant. Das Jubiläum stand erst im Juni an.
Martin legte die Fingerspitzen an die Stirn und lauschte dem Surren der hochfahrenden Festplatte. Elis hatte heute Französischprüfung. Wahrscheinlich hatte er sich in der Warteschlange vor dem Jazzhuset darauf vorbereitet.
Die Zensuren seines Sohns gaben insofern Anlass zur Sorge, als sie weder richtig gut noch richtig schlecht waren. Wären sie schlecht gewesen, hätte man sie als gegeben akzeptieren müssen, weil er es nicht besser konnte. Sie lagen aber permanent auf der Höhe der Mittelmäßigkeit, denn stets erlahmte Elis' Einsatz irgendwann. Dann legte er den Stift aus der Hand und guckte aus dem Fenster, anstatt seine Antworten noch einmal durchzugehen. Wenn man ihn aufforderte, wenigstens noch ein bisschen mehr zu tun, stöhnte er und setzte ein gequältes Gesicht auf, als hätte man ihn gebeten, den Mond vom Himmel zu holen oder einen Eisbären zu zähmen, und sagte: Ja, ja, ich mach ja schon. Martin hörte seine Stimme lauter werden, während er auf Hochschulstudium und Arbeitsmarkt zu sprechen kam und darauf, was vermutlich aus dem zweiten Bildungsweg würde, sofern der liberale Björklund seine schwachsinnigen Ideen umsetzen dürfe, sowie darauf, wie wichtig es sei, dass Elis endlich begriff, wie wichtig das alles sei. Rakel brauchte man solche Vorhaltungen nie zu machen. Sie hatte in allen Fächern Bestnoten nach Hause gebracht.
Die Außentür schlug zu, und auf dem Flur erklangen schnelle Schritte.
»Guten Morgen!«, rief Per dröhnend. Er hörte sich jedes Mal so an, als meine er, was er sagte. Martin musste mit zu wenig Enthusiasmus reagiert haben, denn nur Minuten später trat sein Kompagnon mit zwei Bechern Kaffee in sein Büro. Per Andrén trug ein hellrosa Hemd unter einem weinroten Sakko und war unerträglich gut gelaunt.
»Warum so schwermütig, mein Freund? Sieh mal, was gestern gekommen ist«, sagte er und hielt Martin ein Buch hin. »Sieht das nicht gut aus?«
Die Neuausgabe von Ludwig Wittgensteins Tagebuch war eine leicht übereilte Idee gewesen. Die alte Auflage war bei Weitem noch nicht vergriffen, aber ein anderer Verlag wollte noch in diesem Jahr eine große schwedische Wittgenstein-Biografie herausgeben, und die würde hoffentlich das Interesse an dem österreichischen Philosophen neu entfachen. Sie hatten einen Ideengeschichtler der Hochschule Södertörn dafür gewinnen können, ein neues Vorwort zu schreiben.
»Sehr schön«, sagte Martin. Die gebundene Ausgabe war solide und sah mit breitem Seitenrand und seidenem Lesebändchen gut aus. Er schlug das Exemplar auf und strich über das holzfreie, cremefarbene Papier, las aber auch jetzt nicht darin, genauso wenig, wie er es einmal ganz durchgelesen hatte, bevor es in Druck ging.
Per strahlte. »Amir hat mit der alten Druckvorlage hervorragende Arbeit geleistet. Das solltest du ihm sagen.«
»Ich nehme an, das hast du bereits getan.«
»Er möchte es aber von dir hören.«
Martin lachte auf. »Glaubst du wirklich?«
»Die jungen Leute wollen es vor allem von dir hören. Und jetzt zieh dir mal den Kaffee rein, damit du wach wirst, bevor die anderen kommen.«
Früher einmal wäre Martin ernsthaft um sich besorgt gewesen, wenn er erfahren hätte, dass dreißig Jahre später Per Andrén die Person sein sollte, mit der er am meisten zu tun hatte. Sie hatten sich kennengelernt, als sie in frühester Jugend die inkompetente Hälfte einer Rockband bildeten. Martin war davon überzeugt, Gitarre spielen zu können, und diese Überzeugung übertünchte lange die Tatsache, dass er nicht sonderlich musikalisch war. Per wurde durch eine solche Gewissheit nicht gerettet. So über seinen Bass gebeugt, dass man lediglich seinen hoffnungslos unpunkigen Haarschopf sah, schwitzte, fummelte und probierte er und sah nur selten auf, mit einem Ausdruck tiefster Verwirrung auf seinem Mondgesicht. Die Haut an seinen Fingerkuppen wollte nie hart werden, und er hatte ständig Blasen. Dafür las er jede Ausgabe der Zeitschrift Kris mehrmals durch, kannte sämtliche Neuerscheinungen auf dem schwedischen Buchmarkt und stammte in dritter Generation aus einer Unternehmerfamilie. Das mit dem Verlag war seine Idee gewesen. Von sich aus wäre Martin vermutlich nicht einmal der Gedanke gekommen, einen Verlag zu gründen.
Per und seine Frau hatten die schöne Gewohnheit entwickelt, Martin zum Essen zu sich nach Hause einzuladen, mit zunehmender Frequenz in den letzten Jahren. Sie spielten diese Essen als ganz informelle, spontane Angelegenheiten herunter (»Möchtest du nicht am Samstag auf ein paar Häppchen zu uns kommen?«), die sich aber jedes Mal als Drei-Gänge-Menüs mit einer ganzen Reihe von Gästen, flackerndem Kerzenlicht und mehr oder weniger intellektuellen Gesprächen bei fünfundzwanzig Jahre altem Portwein herausstellten, den sie im letzten Sommer von einem kleinen Gut bei Porto mitgebracht hatten, auf das sie ihre erstaunlich braven Kinder mitschleppten. Martin hatte seit Langem durchschaut, dass sie auch jedes Mal irgendeine...
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