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Das Haus atmete. So fühlte es sich zumindest an. Helen Marlowe lag wach in ihrem Bett, die Decke bis unter das Kinn gezogen, das Fenster leicht geöffnet, damit die kalte Küstenluft die stickige Wärme der Nacht vertreiben konnte. Das Ticken der alten Standuhr im Flur war das einzige Geräusch, bis auf das gelegentliche Knacken des Gebälks. Oder war da noch etwas? Sie hielt den Atem an. Lauschte. Wieder dieses leise, schleifende Geräusch. Kein Wind. Kein Tier.
Es kam von oben. Vom Dachboden. Der Dachboden, den sie seit dem Einzug nicht betreten hatte. Sie schloss die Augen. Nicht aus Müdigkeit, sondern um nicht hinzuhören. Als würde das Schweigen sich auflösen, wenn man nur lange genug die Welt aussperrte.
In den letzten drei Nächten war Emily, ihre Tochter, zweimal aufgewacht. Sie schlief bei ihr im Bett. Einmal hatte sie geweint. Sie sagte, sie habe "die Frau im Fenster" gesehen, obwohl es draussen dunkel war. Ein andermal stand sie stumm im Flur, mit weit aufgerissenen Augen, als würde sie etwas hören, das niemand sonst hören konnte.
Helen hatte das zuerst für Einbildung gehalten. Ein neuer Ort, ein fremdes Haus, Einsamkeit. Aber irgendwann, in einer dieser Nächte hatte sie es selbst gehört. Ein Klopfen.
Nicht laut, nicht rhythmisch. Einmal. Dann lange nichts. Dann wieder. Manchmal drei Mal hintereinander. Sie hatte den Brief geschrieben, nachdem sie tagsüber Schatten an den Wänden gesehen hatte, wo keine sein konnten. Nur kurz. Nur aus dem Augenwinkel. Aber zu oft, um es zu ignorieren. Und sie erinnerte sich an einen Namen.
Gideon Blake
Ein entfernter Bekannter ihres verstorbenen Onkels hatte einmal von ihm gesprochen. Ein Mann, der das Unerklärliche untersuchte. Ohne Hokuspokus. Ohne Kamerateam. Einer, der zuhörte, ohne gleich an Geister zu glauben. Sie hatte den Brief auf der alten Reiseschreibmaschine geschrieben, um den Eindruck zu vermeiden, es handle sich um einen Scherz. Um zu zeigen, dass sie es ernst meinte.
Helen setzte sich im Bett auf. Im Flur regte sich nichts. Emily schlief neben ihr ruhig und entspannt. Der Dachboden war still, fürs Erste. Sie stand auf, ging leise durch den Flur, vergewisserte sich nochmal, dass ihre Tochter ruhig atmete. Im Wohnzimmer im Erdgeschoss zog sie sich eine Jacke über den Pyjama und trat barfuss vor das Haus.
Die Nacht war feucht, kühl und still. Das Meer rauschte leise in der Ferne. Keine Lichter, kein Verkehr, keine Stimmen. Sie sah hinauf zum Giebel des Hauses. Nichts. Nur das Dach, das sich schwarz gegen den Nachthimmel abzeichnete. Aber sie hatte das Gefühl, nicht allein zu sein.
*
Gideon erwachte, bevor es hell wurde. Nicht weil er es musste, sondern weil sein Körper es so wollte. Er lag still, hörte dem ersten Pfeifen des Windes zu, das durch die Ritzen im alten Fensterrahmen drang. Der Geruch von feuchtem Holz, Salz und Erde erfüllte das Haus. Es war die Art Morgen, die nach Ruhe schmeckte.
Er stand auf, schlüpfte in seinen Bademantel, streifte die blauen Hausschuhe über, die ihm Lea zu Weihnachten geschenkt hatte und trat in den schmalen Flur, der direkt in das Gewächshaus führte. Es war sein Rückzugsort, ein kleiner Anbau aus Glas und Holz, windschief, aber stabil. Morgens herrschte hier eine gewisse Kälte, bis die Sonne das Innere aufwärmen mochte, doch das gehörte für ihn dazu.
Er stellte sich unter seine provisorische Aussendusche in der hinteren Ecke des Gewächshauses, ein alter Gartenschlauch mit selbstgebautem Brausekopf. Mehr war es nicht. Das Wasser war eiskalt, und genau das war der Punkt. Er sog scharf die Luft ein, hielt kurz die Augen geschlossen. Dann öffnete er sie, wach, klar, bereit.
Nach dem Duschen prüfte er wie jeden Morgen die Pflanzen. Eine kleine Sammlung von Farnen, Moosen und Kräutern, die er mit akribischer Sorgfalt pflegte. In der hinteren Ecke wuchs sogar ein Exemplar Drosera rotundifolia. Ein Sonnentau, den er aus Schottland mitgebracht hatte. Er liebte es, wenn sich die kleinen klebrigen Tentakel am Morgen zum Licht reckten, als ob sie nach der Wahrheit tasteten.
Zurück im Haus, bereitete er sein Frühstück zu. Ein weiches Ei, etwas Brot, ein Stück Käse, schwarzer Tee mit einem Schuss Zitrone. Kein Radio, kein Telefon. Nur das gleichmässige Schaben des Messers auf dem Toast. Er setzte sich an den kleinen Tisch am Fenster der Küche. Die Vorhänge hatte er zurückgeschlagen, der Blick aufs Meer war frei. Nebel lag über der Bucht, dick wie ein Tuch, das jemand sorgsam über das Wasser gebreitet hatte.
Er ass langsam, nachdenklich, und notierte wie jeden Morgen ein paar Sätze in ein separates Notizbuch. Diesmal nicht über den aktuellen Fall, sondern über den Zustand seiner Pflanzen und das Wetter. Nach dem Frühstück packte er seine kleine Reisetasche. Neben der Ausrüstung auch ein paar Hygieneartikel und Ersatzkleidung. Er wusste nicht, wie lange er bleiben würde und wollte vorbereitet sein. Er zog eine schlichte, aber warme und wetterfeste Jacke über, darunter einen Wollpullover, robust und warm. Die Tasche schwang er sich über die Schulter, trat vor die Tür, atmete tief ein. Aber er ging nicht gleich zum Auto. Noch nicht.
Zuerst machte er, wie immer vor einer Reise, einen kurzen Abstecher ins Dorf. Zum Cod & Compass, dem einzigen Pub in Staithes, der morgens zwar kein Bier, aber immer frischen Kaffee hatte, und noch wichtiger, Informationen.
Die Türglocke klingelte, als er eintrat. Drinnen roch es nach Holz, Salz und einem Hauch von Whisky, der nie ganz aus den alten Dielen wich. Am Tresen stand Maisie, die Wirtin, Anfang sechzig, mit wachen, freundlichen blauen Augen und einem trockenen Humor.
"Morgen, Gideon", sagte sie, ohne aufzuschauen. "Du siehst aus, als hättest du wieder was Merkwürdiges vor."
"So könnte man es nennen", antwortete er und setzte sich an seinen gewohnten Platz. "Kennst du zufällig einen Ort namens Ravens Dell?"
Maisie hielt in ihrer Bewegung inne. Langsam hob sie den Blick. Ihre Stirn legte sich in Falten. "Ravens Dell?" wiederholte sie leise. "Den Namen habe ich seit Jahren nicht mehr gehört..."
Maisie stellte den Kaffee vor ihn, nahm sich selbst eine Tasse, und lehnte sich mit verschränkten Armen ans Holz des Tresens. "Ravens Dell...", wiederholte sie nachdenklich. "Ein kleines Tal nördlich von hier. Einsam, kaum noch jemand, der den Namen kennt. Damals hat man's noch Ravendale genannt."
Gideon nahm einen Schluck Kaffee. "Was war dort?"
Maisie zuckte mit den Schultern. "Nichts. Und das war genau das Problem. Eine Handvoll Häuser, ein paar Felder, ein einziger Briefkasten. Die meisten sind weggezogen.
Aber...", sie hielt inne, als müsse sie abwägen, "...eine Frau ist dort verschwunden. Das war... ich glaub, Mitte der 70er."
Gideons Blick wurde schärfer. "Wer war sie?"
"Ich erinnere mich nicht an ihren Namen", sagte Maisie langsam. "Sie war nicht von hier. Eine Städterin, die sich da draussen ein altes Cottage gekauft hatte. Alleinstehend, hiess es. Manche sagten, sie sei nervlich nicht ganz stabil gewesen. Andere meinten, sie habe Dinge gesehen."
"Was für Dinge?"
Maisie schnaubte. "Was weiss ich? Schatten, Stimmen, das Übliche. Es gab nie einen Beweis. Irgendwann war sie einfach weg. Tür offen, Essen auf dem Tisch. Keine Spur."
Gideon schrieb leise mit. "Wurde sie gesucht?"
"Ja, ein Constable aus Whitby hat sich darum gekümmert. Aber das Tal war schon damals... vergessen. Und es war keine Verwandtschaft da, die Druck gemacht hätte. Das Ganze ist irgendwann versandet." Sie schwieg einen Moment, dann sah sie ihn direkt an. "Wenn du da hinfährst, Gideon, dann... sei nicht leichtsinnig. Das ist so ein Ort, wo sich Dinge festsetzen. In den Wänden. Oder im Kopf."
Er nickte langsam. "Ich schau's mir nur an."
Maisie nahm ihre Tasse, drehte sich um und sagte im Gehen: "Das haben die anderen auch gesagt."
Fallnotiz Eintrag 1 - Ergänzung
Datum: Dienstag, 14. März, 11:45 Uhr
Ort: Cod & Compass, Staithes
Gespräch: Maisie Arkwright (Wirtin, wohnhaft in Staithes seit 1962)
Ravens Dell ehemals bekannt als Ravendale abgelegenes Tal nördlich von Staithes, ehemals mehrere
Häuser, heute kaum bewohnt
Hinweis auf das Verschwinden einer Frau Mitte der 1970er Jahre
Frau lebte allein im Cottage, angeblich sensible oder labile Persönlichkeit
Zeugenberichte über "Schatten" und "Stimmen" im Haus Verschwinden blieb ungeklärt, Ermittlungen verliefen ergebnislos
Kein Name der Betroffenen
Bemerkung:
Der Zusammenhang zwischen dem damaligen Vorfall und dem aktuellen Hilferuf ist unklar, aber auffällig. Ähnliche Ortsangabe (Cliff End Cottage),...
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