Schweitzer Fachinformationen
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LUDWIG ERHARDS ZIGARRE
Irgendwo zwischen Hannover und Bielefeld öffne ich die erste Flasche Bier. Wer sich diese Landschaft da draußen hat einfallen lassen, hatte wirklich keinen guten Tag. Flache Fläche an flacher Fläche, hoch stehendes Getreide, hin und wieder finden sich Bäume zu einem Kleinstwald zusammen. Da nützt auch die Sommersonne nichts, die das alles in ein gleißendes Licht taucht und mir die verlassenen Gebäude der vorbeirauschenden Provinzbahnhöfe als Schlagschatten auf das Gesicht haut. Der ICE Johannes Rau rast berechtigterweise mit 189 km/h durch diese Ödnis. Meine Mitreisenden dösen, sehen Filme oder starren in ihre Handys, als wären das schwarze Löcher ins Universum. Niemand liest, natürlich nicht. »Schriftsteller! Das hat doch keine Zukunft!«, hatte meine Schweriner Großmutter einmal zu mir gesagt und vielleicht hatte sie ja recht. Bröckelndes Gewerbe. Mir reicht es jetzt schon und Schlüppi hat das natürlich geahnt, als er mir beim Abschied am Ostbahnhof in Berlin diese blaue Kühltasche von Kaufland in die Hand drückte. Vier Flaschen Bier klirren leise darin, auf Temperatur gehalten von zwei kleinen weinroten gefrorenen Akkus.
»Wirst du brauchen. Du gehst auf keinen Fall in das verschissene Bordrestaurant, Alter. Dann kannste das Geld auch gleich aus Fenster werfen. Wenn du es aufkriegen würdest. Ich habe dir da nur westfälische Biere reingetan. Regionalität ist wichtig, auch im Westen«, sagte er. Ich sah ihn an. Hellwach, groß, drahtig stand er vor mir, wie immer in Jeans und Jeansjacke. Darunter ein strahlend weißes T-Shirt. Schmales, leicht verwittertes Gesicht, Dreitagebart, Pilotenbrille im kurz geschorenen aschblonden Haar und Augen, deren Hellblau manchmal ins Fassadengraue kippt. »Aus Gelsenkirchen gab es kein Bier, also einfach Krombacher, Paderborner, Veltins und Dortmunder Union.«
Ich beginne mit dem Dortmunder und stoße mit meinem Spiegelbild vor vorbeirasender Landschaft auf meine Mission an. So nennt Schlüppi meine Reise nach Gelsenkirchen. »Du musst das endlich in Ordnung bringen«, hatte er vor ein paar Wochen in dieser verhängnisvollen Nacht gesagt und wiederholt es jetzt auf dem Berliner Ostbahnhof. Schlüppi hat bestimmt, dass ich hier abfahre. Im grauen Nirgendwo zwischen East Side Gallery und Karl-Marx-Allee. Am Hauptbahnhof, in diesem Pseudokonsumtempel aus Glas und Stahl, bekomme er Depressionen.
Ich weiß nichts über Gelsenkirchen, außer dass es im Ruhrgebiet liegt, dass es da also Bergbau gab, Kokereien, Stahlwerke. Dass Gelsenkirchen so etwas war wie die Herzkammer der alten Bundesrepublik. Wirtschaftswunderstadt. Ludwig Erhards Zigarre hat nur geglüht, weil dort in tausend Meter Tiefe die Steinkohle aus der Erde gebrochen wurde. Malocherstadt. Schalke 04 kenne ich natürlich auch noch. Diesen verlorenen Fußballverein, der immer von Großem träumt und doch nur wieder im Mittelfeld der Tabelle landet. Königsblau ist bettelarm und wird von einem Hühner- und Schweinemörder aus Gütersloh über Wasser gehalten, der etwa so sympathisch ist wie Hermann Axen aus dem SED-Politbüro. Und die Schalker hassen Dortmund. Aufs Blut. So richtig lecker ist das Dortmunder Union aber auch nicht, auf keinen Fall Champions League, würde ich sagen, und so bereite ich der Flasche ein schnelles Ende und mache mich an die nächste.
Übermäßiger Biergenuss hat mich überhaupt erst in diesen Zug gebracht.
Wir treffen uns einmal im Monat zum Billardspielen und Kickern im Prenzlauer Berg. Schlüppi, ich und der Doktor. Seit 25 Jahren. Wir sind alle ursprünglich aus Schwerin, haben alle mal an der Humboldt-Universität Medizin studiert, doch nur der Doktor hat das durchgehalten und leitet heute eine Klinik für Traumatologie in Moabit. Ich bin der Letzte, der noch in diesem hochgejazzten, durchgentrifizierten Viertel wohnt, sehr zur Freude von Schlüppi, der meint, ich sei so etwas wie ein Ureinwohner, ein Native East German. Weil um mich herum nur Leute aus Stuttgart, Köln, München und Hamburg wohnen. Also vor allem aus den Käffern dazwischen. Aus Tuttlingen, Kaierde, Schüttdorf und Beverungen. Die die Dachgeschosse der alten Arbeitermietskasernen mit dem Geld ihrer Eltern gekauft und ausgebaut haben und jetzt irgendwas mit Medien machen. Ich wohne hier auch nur noch, weil ich einen Mietvertrag aus den Neunzigerjahren habe und mein Vermieter angeblich einer der Musiker von Rammstein ist, der am heruntergekommenen Zustand des Hauses nichts ändern möchte, aber eben die Miete auch nicht erhöht.
Der Doktor wohnt in Französisch Buchholz. Das, was Pankow für Berlin ist, ist Französisch Buchholz für Pankow. Der Rand vom Stadtrand und so schön wie Toskana Chemnitz oder Schwedisch Cottbus. Eigenheim, klar, und Schlüppi wohnt in Weißensee. Oder auch: mal hier, mal da. Gerade aber: Einzimmerwohnung, Hinterhof, Weißensee. Mit Kohleofen. Manchmal glaube ich, seine Wohnungen werden ihm wie Kulissen von Filmteams hergerichtet. Schlüppi ist im Zwischendeck des Mauerfalls hängen geblieben. Er ist noch aus der DDR raus-, aber nie in der BRD angekommen. Beim Finanzamt ist er als Kleinunternehmer gemeldet, aber er arbeitet natürlich auch schwarz, mal hier, mal da. Kauft Autos, schraubt an ihnen herum und verkauft sie dann weiter. Gerne Barkas, Trabant und Wartburg 311. Aber das werde immer schwieriger, jammert er, weil sie kaum noch zu bekommen seien. Genau wie die DDR-Moped-Fraktion. S 51, Habicht, Spatz, Star und natürlich die Schwalbe, die der Westler immer noch am liebsten nimmt, obwohl das im Osten ein Rentnermoped war. Manchmal verkauft er auch Gras an gute Bekannte, aber nur ein bisschen, wie er meint, eigentlich nicht der Rede wert.
Früher haben wir an solchen Billardabenden immer bis zum Morgengrauen gemacht, haben beim Kickern im Nemo in der Oderberger Straße hinter dem Mauerpark amerikanischen Touristen das Fell über die Ohren gezogen und sind dann morgens um sechs zu Konnopke in die Schönhauser Allee. Diese Curry- und Pommesbude unter dem U-Bahn-Viadukt, die inzwischen in jedem Reiseführer steht. Heute halten wir nicht mal mehr bis ein Uhr durch. Dem Doktor fallen schon vor Mitternacht die Augen zu. Seine Haare sind altersgemäß ausgegangen und auf den Wangen haben sein Übergewicht und der inzwischen eingestellte Bluthochdruck ein paar Äderchen zum Platzen gebracht. Er trägt Brax-Hosen, blau-weiß karierte Hemden und ein weinrotes Sakko darüber.
»So, Männer, ich muss dann mal«, sagt er irgendwann, und wenn er das zum dritten Mal gesagt hat, gehen wir wirklich. Aber noch nicht nach Hause, sondern Schlüppi holt im Späti noch drei Büchsen Bier, und dann stellen wir uns unter die U-Bahn-Gleise vor die geschlossene sogenannte Kultpommesbude. Die ist inzwischen golden, natürlich nicht aus echtem Gold, aber fast sieht es so aus. Damals, vor 25 Jahren, in dieser Zwischenzeit der billigen Mieten und der unendlichen Partys in Berlin, in Schlüppis innerem Vineta also, sind wir um sechs Uhr morgens hierhergewankt. Manchmal sogar der Doktor, obwohl er immer versuchte, sich zu drücken. Da wurde der Laden gerade aufgemacht und brummte von der ersten Minute an. Es roch nach heißem Fett, Zigaretten, Kaffee und Bier. Die U-Bahn rumpelte über uns, die Straßenbahn quietschte Richtung Friedrichshain und die, die arbeiten gingen, trafen sich mit denen, die ins Bett gingen, bei Konnopke. Zwei Welten in friedlicher Koexistenz. Ein Morgen in Hackepeterrot und Mayonnaiseweiß. Der Doktor und ich aßen immer eine Curry ungeschnitten, wie sich das für Ostler gehörte, und Schlüppi schlürfte noch eine Tasse Rinderbrühe vorweg. Aus diesem Geschirr mit grünem Rand, das aussah wie aus der Mitropa. Erst dann waren wir bettfein.
Heute macht die goldene Bude um elf Uhr auf und Schlüppi sagt mindestens einmal, während wir an einem der verwaisten runden Stehtische mitten in der Nacht das Büchsenbier schlürfen: »Vielleicht ist die ja doch aus echtem Gold, so viel wie die in den letzten Jahren verdient haben.«
Der Verkehr donnerte zweispurig auf jeder Seite der mit kleinen eckigen Steinen gepflasterten Fußgängerinsel vorbei, und auch wenn die Straßenbahn und die U2 ihren Dienst schon eingestellt hatten, lag so ein Grundbrummen der Stadt zwischen den grünen genieteten Stahlträgern, die das Viadukt tragen. Die laue Mainacht umhüllte uns wie eine dünne Wolldecke, und so standen wir dort und brachten das letzte Bier hinter uns. Die Augenlider des Doktors hingen bereits auf halbmast, ich hatte leichtes Sodbrennen, nur Schlüppi war auf Betriebstemperatur.
»Sander, du musst in den Westen«, sagte er.
Ich lachte: »Was muss ich?«, und die Augenlider des Doktors fielen ganz zu.
Schlüppi zog einen Zettel aus der hinteren Hosentasche und legte ihn vor mich auf den kleinen runden Imbisstisch. »Hier«, sagte er und strich über den verknitterten Internetausdruck.
»Gelsenkirchen - Der Osten im Westen« stand da. Der Rest war zu klein geschrieben, als dass ich das ohne Lesebrille hätte lesen können. Ich nahm einen Schluck Bier und sah vom Zettel in Schlüppis fünfzigjähriges Jungensgesicht. Er heißt so, weil er während seines Dienstes bei der Nationalen Volksarmee eines Morgens nicht aufstehen wollte und zum Spieß sagte: »Ich hab keinen sauberen Schlüppi mehr und muss daher im Bett bleiben.« Das kam nicht so gut an bei seinem Vorgesetzten und den Namen wurde er nie wieder los. In dieser Nacht hatte er seine Pilotenbrille natürlich in den Haaren stecken, wie er die vermutlich auch beim Schlafen dort oben hat. Ich nahm sie ihm vom Kopf und setzte sie mir auf die Nase. Alles um mich...
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