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Nelli
»Ein Samstag ohne Alkohol ist sinnlos«, hat Anka mal gesagt. Heute wäre ich trotzdem lieber ohne Bierfahne hergekommen, und normalerweise meide ich diese Ecke auch. Aber weil ich so bin, wie ich bin, stehe ich an diesem nebeligen Samstagmorgen wieder vor dem Polizeirevier.
Allein. Übermüdet. Tot im Kopf.
Ich habe Schwierigkeiten, halbwegs gerade die Treppe hinaufzugehen und die Schwingtür aufzuschieben. Das blöde Ding hat mich mal böse am Kopf erwischt. Ich hasse es, daran erinnert zu werden. Ich war definitiv schon zu oft hier. Als ob ich kein Zuhause hätte!
Irgendwie überwinde ich die Strecke vom Eingang zum Empfangsschalter. Hier drin besteht die Welt aus dem Geruch nach altem Linoleum und dem Schweiß der übermüdeten Männer im Wartebereich. Sie tragen alle schwarze Trainingsjacken mit den charakteristischen Streifen. Anscheinend haben sie an die Runde Wodka eine Tracht Prügel angehängt . Noch kann ich umkehren. Doch Mamas Stimme, die unaufhörlich in meinem Kopf dröhnt, hält mich zurück. Immer wieder höre ich ihre letzten Worte, bevor .
Meine Gedanken versinken in Watte.
»Ich muss mit jemandem reden.« Ungeschickt stütze ich mich am Schalter ab. Die Polizistin hinter dem Sicherheitsglas mustert mich.
»Es ist dringend«, nuschele ich.
»Hallo, Nelli«, sagt die Polizistin.
Verdammt, sie kennt mich! Aber mir fällt ihr Name nicht ein. »Wirklich dringend«, wiederhole ich, um nicht darüber nachdenken zu müssen. »Können Sie Inspektor Hansson .«
»Er ist im Urlaub.« Ihre klare Stimme schneidet mir das Wort ab. »Soll ich deine Mutter anrufen?«
Ich starre sie an. Genau da liegt das Problem. Ob ich ihr das irgendwie verklickern kann?
»Ich muss erst mit jemandem sprechen«, flüstere ich matt. »Bitte.«
Wenn sie mich jetzt nach Hause schickt, dann . Krampfhaft würge ich den aufsteigenden Kloß hinunter. Befriedigt stelle ich fest, dass die Polizistin mit einem Schlag sehr gerade auf ihrem Stuhl sitzt. Wäre ja noch schöner, wenn ich ihr vor den Empfangsschalter kotze! Aber ich behalte alles bei mir, auch weil die Russen auf den Plastikstühlen zu mir herüberstarren.
Ohne hinzuschauen, greift sie nach dem Telefonhörer. Der frisch gestärkte Ärmel ihres hellgrauen Hemdes raschelt leise. »Setz dich, ich rufe einen Kollegen.«
»Geht auch eine Frau?«, rutscht es mir heraus.
Für einen Moment verschwimmen die Gesichtszüge der Polizistin. »Ich frage mal nach.«
Aufatmen. Das wäre geschafft.
Ich schlurfe in den Wartebereich und lasse mich auf den Stuhl in der Ecke fallen. Nein, das ist nicht mein Stammplatz, obwohl wahrscheinlich nicht mehr viel dazu fehlt. Hier sitze ich am weitesten von den Russen entfernt, die mich auch in den folgenden Minuten nicht aus den Augen lassen. Ich ziehe mir die Kapuze tief ins Gesicht und hoffe, dass ich bald hier herauskomme.
Das Telefon in der Glaskabine klingelt mindestens tausendmal, aber die Polizistin lässt sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Parallel erstatten mehrere besorgte Bürger Anzeige wegen des Diebstahls ihrer Mülltonnen. So ist das in Südschweden: Alles läuft in geordneten Bahnen, niemand wird vergessen, die Polizei hat alles im Blick.
Fast alles. Sonst wäre ich ja nicht hier.
Ich stemme die Beine in den Boden, um nicht von dem glatten Plastikstuhl zu rutschen, und fixiere meine Schuhe, die aussehen, als wären sie mit einer Sprühdose zusammengestoßen. Sind sie in gewisser Hinsicht auch, weil Anka und ich etwas gegen Konformität haben. Da hilft manchmal eben nur Sprühlack.
Von den pinken Klecksen bekomme ich Kopfschmerzen und starre den mickrigen Gummibaum auf dem staubigen Schemel an. Ihm geht es zwischen so viel Staatsmacht richtig dreckig. Wer immer diese bedauernswerte Topfpflanze in den Warteraum des Polizeipräsidiums gestellt hat, muss ein Pflanzenhasser sein.
Meine Finger tanzen auf meinen Oberschenkeln herum. Nach einer Weile ziehe ich mein Handy aus der Innentasche meiner abgewetzten Lederjacke - und stecke es wieder ein. Momentan kann ich nicht mal jemanden anrufen. Mir wird abwechselnd heiß und kalt, was die Bierdunstglocke verstärkt, die mich einhüllt. Und dann bleibt mir nichts anderes übrig, als ein Papiertaschentuch aus meiner verdreckten Jeans zu zerren und hineinzuheulen. Endlich schaut der erste Russe weg, dann gibt es auch für die anderen plötzlich nichts Interessanteres als die Info-Poster der schwedischen Luftwaffe. Ein weinendes Mädchen halten wahrscheinlich nicht mal die härtesten Russen aus. Sie an meiner Stelle hätten auch geheult, wenn sie vierzehn wären, polizeibekannt und seit ein paar Stunden .
Nein.
Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken.
Kurz darauf werde ich von einem Polizisten aufgefordert, ihm in den hinteren Bereich des Präsidiums zu folgen. Und dann sitze ich mitten in einem Großraumbüro vor dem Schreibtisch einer jungen Kommissarin. Sie klemmt sich die schwarzen Haare hinter die Ohren und grinst mich an, als wäre ich eine Dreijährige, die man mit einem Lächeln für sich gewinnen kann. Aber solche billigen Tricks funktionieren bei mir nicht! Gibt es so was wie Feindschaft auf den ersten Blick?
»Du bist also Nelli.« Scheinbar gedankenverloren schiebt sie zwei Blatt Papier von links nach rechts. Kommissar Hansson hat das anfangs auch gemacht, bis ich ihm gesteckt habe, dass er sich die Psychospielchen sparen kann.
»Ich bin Hanna. Wo brennt's denn?«
Erst jetzt merke ich, dass nur die untere Hälfte ihres Gesichts lächelt; ihre dunklen Augen mustern mich mit einer Mischung aus Professionalität und Desinteresse. Für sie bin ich lediglich ein weiterer Fall, der die Hälfte seines Lebens nur mit staatlicher Fürsorge bewältigen kann. Ja, die Augen sind echt wichtig, sie verraten dich, wenn du es nicht ehrlich meinst! Deshalb nehme ich ihr die Show mit der netten Tante auch nicht ab.
»Frau Hanna«, sage ich in der Hoffnung, dass meine Zunge mitspielt. »Ich .«
Sie unterbricht mich: »Nur Hanna.« Ihre Mundwinkel schießen nach oben.
Aha - wir nennen uns beim Vornamen und sind sofort dicke Freunde. Ich könnte heulen vor Wut, dass sie mich nicht ernst nimmt, aber den Gefallen tue ich ihr nicht!
»Ich bin wegen meiner Mutter hier.« Fast hätte ich »Mama« gesagt. »Sie ist - sie ist nicht zu Hause. Ich meine .«
Hanna runzelt die Stirn, ohne dass sie ihr falsches Lächeln aufgibt. Eine Portion Botox wäre jetzt nett, damit sie endlich die Kontrolle über ihr Grinsen verliert!
»Ich war über Nacht bei einer Freundin. Als ich heute Morgen nach Hause gekommen bin«, meine Worte schmecken bitterer als Galle, »war sie nicht da. Meine Mutter, meine ich.« Meine Stimme wackelt.
Hanna nickt, scheinbar verständnisvoll.
Wieder rauscht ein Moment vorbei, in dem ich aufspringen und wegrennen will. Wenn Kommissar Hansson nickt, dann kann ich sicher sein, dass er alles bedacht hat, was er über uns weiß, vor allem über mich. Aber diese junge Möchtegernkommissarin hat kein Recht, mein Leben einfach so abzunicken!
Hanna beugt sich vor. »Wollte deine Mutter vielleicht .«
Plötzlich fällt der Ton aus. Der Bildausschnitt verengt sich auf das Gesicht der Kommissarin, die etwas von Einkaufen und Wochenendurlaub plappert. Mein Gott, sie hat wirklich keine Ahnung! Kann sie ja auch nicht, sie war genauso wenig anwesend wie ich, als .
Das Großraumbüro fängt an, sich zu drehen, ich muss mich am Schreibtisch festhalten. Anscheinend verschlechtert sich meine körperliche Performance, denn Hanna springt auf, zwei Schatten kommen von irgendwoher auf mich zu, dann starre ich in Hannas Mund, der sich unaufhörlich über mir bewegt.
».n Ordnung? Nelli?«
Jemand hat den Ton wieder aufgedreht. Ich sitze immer noch auf dem Besucherstuhl. Einer der beiden Schatten hält mich fest, damit ich nicht vom Stuhl kippe, der andere ist eine auffallend blonde Frau. Sie drückt mir ein Glas Wasser in die Hand. Zitternd trinke ich.
»Wann ist Kommissar Hansson wieder da?«, frage ich schwach.
»Er kommt erst morgen wieder«, sagt Hanna. Sie ist angespannt wie ein Bogen kurz vor dem Schuss. »Du kannst mir auch sagen, was du auf dem Herzen hast, Nelli.« Plötzlich schimmern Sternchen in ihren Augen. Ihr Lächeln hat die magische Grenze des Jochbeins überschritten. Ich habe das irre Gefühl, dass ich ihr vertrauen kann, obwohl sie mich nicht kennt.
Mein Mund öffnet sich, doch im selben Moment wird mir klar, dass ich das Wort nicht über die Lippen bringen werde. Wenn Mama weggeht, lässt sie normalerweise einen Zettel auf dem Küchentisch, aber da war keiner. Bloß ein riesiger, dunkelroter, metallisch riechender See aus .
»Blut«, stoße ich hervor. »In der Küche. Auf dem Fußboden.«
Alarmiert richtet Hanna sich auf. »Was sagst du?«
Heftiges Zittern überkommt mich. »Alles ist kaputt«, würge ich heraus. »Überall Chaos.« Meine Arme schlingen sich um meinen Körper, als wollte ich mich eigenhändig erdrosseln. Die Geräusche um mich herum schwellen an, Hanna nickt der Kollegin mit dem Wasserglas zu, die so plötzlich verschwindet, wie sie gekommen ist.
»Ein Einbruch?«, fragt Hanna.
Ich zucke mit den Schultern. Das will ich gar nicht so genau wissen.
Der Polizist lässt mich los, Sätze fliegen hin und her, jemand nennt meine Adresse. Ich will aufstehen, weil ich glaube, dass sie mich nach Hause bringen werden. Aber meine Knie geben...