Montag
1 Tuva
Früher Abend
»Nein«, sagt Nelli. Aber so läuft das Spiel nicht!
Ich drehe mich auf meinem Bett um und halte mein Handy ans andere Ohr: »Ach, Nelli, Schätzchen. Du weißt doch ganz genau, dass wir eine Vereinbarung haben. Du schreibst mich in die Anwesenheitsliste, und dafür sage ich deiner Mutter nichts von deinen Schwierigkeiten.«
Ich bemühe mich, das Wort »Schwierigkeiten« zu betonen. So gut wie jeder in Malmö weiß, dass Nelli Bergström-Larssons Schwierigkeiten sich längst zu einem Riesenproblem ausgewachsen haben. Sie tankt alles, was mehr als 0,5 Promille hat. Und das mit gerade mal dreizehn!
Nelli schnieft. »Gar nichts werde ich tun. Ich bin nämlich nicht erpressbar. Außerdem interessiert es deine Mutter sicher brennend, womit du die Zeit verplemperst, die du eigentlich in der Ballettschule verbringen solltest!«
Resigniert rolle ich auf den Rücken und starre an die Decke. Meine Güte, ist das heute wieder kompliziert! »Ballett ist so was von unwichtig«, nuschele ich. »Was hältst du davon, wenn ich .« Mein Mund klappt zu. Still zähle ich bis zehn.
»Wenn du was?«, blafft Nelli. Sie kann es nicht leiden, wenn ich mitten im Satz aufhöre zu sprechen.
»Wenn ich Tom frage, ob er Lust auf ein Date mit dir hat.« Das Grinsen kann ich mir nun nicht mehr verkneifen. Darauf muss sie eingehen, denn Tom Bergman ist das Heißeste, was an der Schule ihrer Mutter herumhopst! Ja, okay, er tanzt auch ganz passabel und ist einer der raren männlichen Eleven, hat also einen enorm hohen Sammlerwert. Beschlösse er, von heute auf morgen mit dem Ballett aufzuhören, liefen ihm die Mädchen trotzdem in Scharen nach. Die Kombination seiner tiefblauen Augen und der wikingerblonden Haare ist einfach unwiderstehlich.
»Ich bin normalerweise nicht erpressbar.« Normalerweise? Nellis bockige Selbstsicherheit gerät ins Wanken!
»Und ich bringe normalerweise nicht so viel Geduld auf. Also, was ist, ja oder nein?« Mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Ich werde unruhig.
»Ich überleg's mir«, meint Nelli schnippisch. »Ich melde mich morgen bei dir.«
»Mensch, Nelli, du kannst mich doch nicht .« Tuuut, macht mein Handy. Mist, verdammter!
Was ist bitte schön so schwer daran, die Chance zu begreifen, die ich ihr biete: ein Date mit Tom Bergman, meinem Tanzpartner, dem Schwarm aller Mädchen zwischen zehn und siebzehn! Ich mache bei jeder Gelegenheit ein Foto von ihm, damit ich abends vor dem Einschlafen was zum Anstarren habe. Ich würde ihn sofort daten! Was gäbe ich um ein ungestörtes Stündchen mit diesem wahnsinnig scharfen Typen, der mich seit fast einem Jahr zuverlässig mit meinen kleinen bunten Freunden versorgt?
Mit einem Ruck setze ich mich auf und werfe das Handy aufs Kissen. Nelli ist stur, weil sie weiß, was sie zu verlieren hat, wenn ihre Trinkerei auffliegt. Ich bin unsicher, weil mir wer weiß was blüht, falls meine Eltern dahinterkommen, dass ich regelmäßig die heiligen Ballettstunden schwänze, nach denen sich andere die Finger lecken. Aber vor allem: Was soll ich jetzt machen, um endlich runterzukommen?
Unruhig wandert mein Blick zu dem Tablettendöschen auf meinem Nachttisch. Tom hat es mir heute Morgen in der Schule mit einem umwerfenden Lächeln zugesteckt und dafür ein paar lustige bunte Scheinchen mit aussagekräftigen Ziffern drauf bekommen. »Nimm sie rechtzeitig, damit du heute Nacht schlafen kannst«, hat er ganz dicht an meinem Ohr geraunt, und ich hätte mir vor Wonne fast in die Hose gemacht. Sein Atem duftet ungelogen nach Pfefferkuchen. Das ganze Jahr!
Ich zittere vor Aufregung, als hätte ich an einen Elektrozaun gefasst. Habe ich heute Nachmittag noch was vor, außer lässig in der Gegend herumzuswaggen? Nein. Also kann ich genauso gut Toms Cocktail ausprobieren. Es ist nicht ganz ungefährlich, die Pillen zu schlucken. Von Schweißausbrüchen über Atemlähmung bis zu Dauerkrämpfen kann alles passieren. Aber das soll es wert sein, sagt Toms Zwischenhändler. Der schwört auf die Dinger.
Lautlos husche ich durch den Flur im ersten Stock, um meine Mutter Nova nicht aus ihrem heiligen Mittagsschlaf zu wecken. Vor der Schlafzimmertür meiner Eltern vollführe ich eine skurrile Schrittfolge. Greta Holm, die alte Krähe, hätte in der Impro-Stunde ihre helle Freude daran, wie ich auf Zehenspitzen von einer Seite zur anderen hüpfe, um die Stellen auszulassen, die am lautesten knarren. Denn wenn ich eines nicht brauchen kann, dann ist es Nova, die, zwei Minuten nachdem ich die Pillen eingeworfen habe, im Badezimmer auftaucht und fragt, ob sie bei meinem Beauty-Nachmittag mitmachen darf. Nova ist Gott sei Dank ziemlich verpeilt, was meine chemischen Freunde angeht, aber trotzdem nervig.
Kurz darauf sperre ich die Badezimmertür fast geräuschlos und vor allem erleichtert von innen ab. Bedächtig klappe ich den Deckel des Döschens auf. Da seid ihr ja, meine allerliebsten Helferlein! Ich pule eine hellblaue Pille heraus und platziere sie vorsichtig in meiner Handfläche. Winzig sieht sie aus. Tom hat mir die Wirkung so beschrieben, dass ich gleichzeitig total entspannt und hellwach bin. Langsam drehe ich den Wasserhahn auf. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Tom meint, dass die Pillen manchmal nicht unten bleiben, und es wäre schön blöd, wenn ich vergesse, meine Kotze wegzuspülen.
Das Wasser spritzt.
Ich starre mein aufgemotztes Spiegelbild an. Schwarz gefärbte Haare und ein gewagter Kajalstrich sind keine Indizien dafür, ob jemand Drogen nimmt oder nicht. Aber wer so viel Geld für einen Haarschnitt ausgibt wie ich, nur um auszusehen wie Sia in finster, hat auch keine Geldprobleme, wenn es um den chemischen Kick geht. Und ich muss zugeben, ich bin auch sehr zufrieden mit meinen Designerklamotten vom Lillehus-Label. Meine Pearl-Hose steht mir heute wieder ausgezeichnet. Kein Wunder, die hat die Designerin Lillemor Langhus ja auch höchstpersönlich für mich genäht. Manchmal ist es ganz praktisch, reich zu sein.
Vorsichtig führe die Hand an meinen knallrot angemalten Mund, die Augen fest auf die Pille gerichtet. Meine Zungenspitze beginnt zu kribbeln .
DING! DANG! DENG! DONG!
Ein Hunderttausend-Volt-Blitz lässt mich zusammenfahren. Wie bei Stanley Kubrick wird das kleine blaue Raumschiff in die Höhe katapultiert und vollführt mehrere elegante Drehungen, bevor die Erdanziehung es nach unten reißt. Hilflos rudern meine Arme in Zeitlupe durch die Luft, um die Pille zu fangen. Zahnputzbecher, Haarbürsten, Gel-, Pasten- und Rasierschaumtuben explodieren in einem geradezu kafkaesken Durcheinander, krachen und klappern in den schäumenden Wasserstrahl. Eine eiskalte Fontäne prallt von den Bechern ab und ergießt sich über mich. Ich schlage nach der Armatur, treffe das Pillendöschen, das mit einem Purzelbaum die drei verbliebenen Pillen in den Siphon befördert, wo sie sich auflösen. Dann klatscht das Pillenraumschiffchen ins Waschbecken, rollt fast schon bedauernd in die sanitäre Singularität, hinter den drei Kameraden her und ist verschwunden.
»NEIN!«
Ein letztes Mal schlage ich nach der Armatur und treffe sie endlich. Der Wasserstrahl versiegt.
Und Nova brüllt: »Tuva! Hast du nicht gehört?! Mach endlich die Tür auf!«
Mich als fassungslos zu bezeichnen, wäre die Untertreibung des Jahres. Wie viele schwedische Kronen habe ich gerade dem Universum geopfert? Nur weil meine Eltern es nicht lassen können, überall versteckte Hinweise auf ihre zahlreichen Weltreisen zu platzieren, dröhnt unsere Türglocke wie eine Kreuzung aus Big Ben und tibetischem Klostergong!
DING! DANG! DENG! DONG!
»TUVA!«
»JA!« Verzweifelt drücke ich an meinem hauchzarten T-Shirt herum, das davon nur verknitterter, aber nicht trockener wird. Damit ich wegen der verdammten Glocke nicht noch etwas zerstöre, stürme ich aus dem Bad, falle fast die Treppe hinunter und reiße tropfend die Haustür auf, kurz bevor der Finger des Besuchers den Klingelknopf ein drittes Mal berührt.
Auge in Auge und vor allem tropfend stehen wir uns gegenüber. Der Typ ist genauso nass wie ich, nur dass es sich bei ihm um Schweiß handelt. Kein Wunder bei 37 Grad Außentemperatur. Da sorgen auch seine Cargo-Shorts nicht für Abkühlung. Ist das ein verirrter Tourist? Und warum die Weste? Wer so was trägt, kann doch nur .
»Hallo. Ich bin Hauptkommissar Olofsson. Sind deine Eltern da?«
. ein Polizist sein!
Der nächste Blitz droht einzuschlagen. Kurz habe ich das Gefühl, die Tablette hätte mich ins Delirium gespül. nein. Die liegt ja im Siphon.
»Äh . ja.« Ich bewege mich keinen Millimeter. Ein Polizist! Hat uns jemand verpfiffen? »Haben Sie einen Ausweis?« Die Frage kenne ich aus dem Fernsehen. Also muss sie auch gestellt werden.
»Tuva! Was soll das denn? Lass doch den Herrn nicht vor der Tür stehen!« Ich kann Novas Auftauchen förmlich riechen. Sie ist eine wandelnde Parfümflasche, Duftnote Lavendel, quasi eine olfaktorische Super-Nova. Und sie hasst meine Wortspiele, haha.
Der Hauptkommissar hat sicher schon mit Menschen in allen Lebenslagen gesprochen. Da können ihn weder Novas rosa Seidenhausmantel noch die hochgeschobene Schlafbrille auf der Stirn erschüttern. »Ich bin Hauptkommissar Olofsson vom Dezernat für Tötungsdelikte. Frau Eklund, ich müsste Sie oder Ihren Mann sprechen.«
Wie auf Kommando wird Nova sehr, sehr blass. Unsicher tastet ihre Hand nach mir. »Milva, würden Sie meinen Mann .«
»Milva ist im Urlaub«, knurre ich. Muss...