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KAPITEL 2
Kat
Kat machte den Kofferraum auf, warf ihren Rucksack hinein und knallte die Heckklappe zu. Was für eine Zeitverschwendung. Gestern Abend hatte sie extra noch eine SMS geschickt, um sich zu vergewissern, dass das Zimmer nach wie vor frei war, und ihr war versichert worden, dass das der Fall sei. Jetzt hatte sie durch die Fahrt hierher einen ganzen Vormittag verloren, den sie hätte nutzen können, um anderswo nach einem Zimmer und einem Job zu suchen. Kat hatte sowieso gezögert, nach Chalcot zurückzukehren. Vielleicht war das ein Zeichen, dass sie nach so vielen Jahren lieber doch nicht hier sein sollte? Sie riss die Fahrertür auf und verzog das Gesicht, als diese protestierend quietschte.
»Sorry, Marge«, murmelte sie und tätschelte den Türrahmen. Heute auch noch von ihrem Auto im Stich gelassen zu werden, war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
So behutsam wie möglich setzte sich Kat auf den Fahrersitz, aber gerade als sie die Tür zuziehen wollte, rief jemand ihren Namen. Sie schaute zurück zum Haus. In der offenen Tür stand ein weißhaariger Mann und winkte ihr zu.
»Hallo? Sind Sie Kat?«
Sie nickte, rührte sich aber nicht vom Fleck.
»Sagen Sie bloß, Sie haben es sich schon anders überlegt?« Der Mann lächelte schief.
Sollte das ein Scherz sein? Kat machte erneut Anstalten, die Tür zu schließen.
»Ich weiß, so toll sieht es von hier draußen nicht aus, aber das Zimmer ist wirklich hübsch«, rief er. »Sie sollten es sich zumindest mal ansehen, bevor Sie es ganz abschreiben.«
Noch immer lächelte er sie hoffnungsvoll an. Kat stieß die Tür wieder auf und sprach laut und langsam, für den Fall, dass er Schwierigkeiten hatte, sie zu verstehen.
»Ihre Frau hat mir gesagt, dass das Zimmer schon vergeben ist.«
Er runzelte die Stirn. »Meine Frau?«
»Ja. Sie hat gesagt, hier ist kein Zimmer frei.«
Er zögerte kurz, und Kat empfand ein bisschen Mitleid mit ihm. Der arme Mann musste wirklich schwer verwirrt sein, wenn er sich nicht mal an seine eigene Frau erinnern konnte. Doch dann grinste er, und um seine Augen bildeten sich Fältchen.
»Oje, ich glaube, Sie haben die falsche Tür erwischt! Keine Sorge, da sind Sie nicht die Erste.«
Nun war Kat diejenige, die die Stirn runzelte. »Also ist das Zimmer doch noch zu haben?«
»Aber sicher. Kommen Sie rein, ich zeige Ihnen alles.«
Er trat von der Eingangstür zurück und hielt sie für Kat geöffnet, aber sie blieb im Auto sitzen. Wollte sie wirklich hierbleiben? An das Gebäude konnte sie sich noch lebhaft aus ihrer Kindheit erinnern. Immer wenn Kat zu ihrem Großvater geschickt worden war, um vorübergehend auf seiner Farm am Dorfrand zu wohnen, hatte sie der Weg zur Grundschule von Chalcot an Shelley House vorbeigeführt. Damals hatten sich die anderen Kinder Geschichten erzählt, dass in dem unheimlichen, verfallenen alten Haus eine böse Hexe lebte, die Kinder auf dem Dachboden einsperrte, und darum hatte Kat immer einen Zahn zugelegt, wenn sie an dem Haus vorbeiging, nur für den Fall, dass die Hexe auch sie entführen wollte.
Sie ließ den Blick über das Haus schweifen. Vor kinderfressenden Hexen hatte sie keine Angst mehr, aber etwas Beklemmendes hatte Shelley House nach wie vor an sich. Die Farbe war verblasst und das Mauerwerk bröckelte, die Fensterrahmen waren verzogen und der Lack blätterte ab wie in einem Horrorfilm. In der steinernen Balustrade auf dem Dach fehlten Teile, und das ganze Bauwerk schien sich bedrohlich zur Seite zu neigen. Wenn es schon von außen so aussah, weiß Gott, in welchem Zustand es dann innen war. Kein Wunder, dass die Zimmermiete so günstig war. Kat konnte sich kaum vorstellen, dass jemand freiwillig hier wohnte.
Noch immer stand der Mann in der Tür und beobachtete sie. Über seinem Kopf prangte der in Stein gravierte Namen des Gebäudes. Seit ihrem letzten Besuch war der Schriftzug dem Vandalismus zum Opfer gefallen, und nun war da nicht mehr SHELLEY HOUSE zu lesen, sondern HELL HOUSE. Kat konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, und der Mann strahlte zurück.
»Na los, kommen Sie! Ich habe gerade Wasser aufgesetzt.«
Ach, was sollte es. Sie hatte den ganzen Weg auf sich genommen, da konnte sie sich auch das Haus ansehen, vor dem sie als Kind so viel Angst gehabt hatte. Sie stieg aus Marge und schloss vorsichtig die Tür.
Oben auf der Treppe streckte ihr der Mann die Hand entgegen.
»Joseph Chambers. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
»Kat Bennett«, sagte sie, ließ aber die Hände in den Hosentaschen.
Sie folgte ihm hinein, und hinter ihnen fiel die Tür schwer ins Schloss. Kein natürliches Licht drang herein, und es dauerte einen Moment, bis sich Kats Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Sobald das geschehen war, stellte sie fest, dass sie sich in einem unscheinbaren Hausflur befand. Schwarz-weiß karierte Bodenfliesen ließen eine prächtige Vergangenheit des Gebäudes erahnen, aber inzwischen war der Flur zu einer Deponie für ungewollte Besitztümer verkommen. Auf einem Regalbrett stapelte sich ungeöffnete Post, und von irgendwo weiter oben hörte Kat Drum-and-Bass-Musik, aber sonst gab es keine Anzeichen von Leben. Links und rechts im Flur befand sich je eine Tür ohne Schild, und Kats Blick huschte zwischen ihnen hin und her.
»Ich wohne in Nummer eins, gleich hier«, sagte Joseph und deutete auf die linke. »Wohnung zwei gehört Dorothy Darling. Ich glaube, Sie hatten bereits das Vergnügen, mit ihr zu plaudern.«
Kat hatte nichts Nettes über die alte Frau zu sagen, die sie über die Gegensprechanlage angeschnauzt hatte, darum hielt sie lieber den Mund. Joseph schmunzelte.
»Das habe ich mir schon gedacht. Keine Sorge, Dorothy ist exzentrisch, aber bellende Hunde beißen nicht. Und wo wir gerade dabei sind .« Er ging zur linken Tür, und als er sie erreichte, ging auf der anderen Seite Gekläffe los. »Sie sind aber nicht auf Hunde allergisch, oder?«
»Nein.«
»Gut.« Er stieß die Tür auf, und prompt stürmte ein kleiner braun-weißer Jack Russell Terrier aus der Wohnung, umkreiste Joseph und kam schlitternd vor Kats Füßen zum Stehen. Sein Bellen erreichte einen neuen Geräuschpegel, während er an ihrem Bein hochsprang.
»Das ist Reggie«, rief Joseph über das Getöse hinweg. »Er fängt sich gleich wieder. Er ist immer sehr aufgeregt, wenn er jemand Neuen kennenlernt.«
Kat beugte sich hinunter und hielt Reggie auffordernd die Hand hin. Eifrig schnupperte er daran, seine Nase fühlte sich feucht an. Kat strich ihm über den Kopf und musste dabei an einen anderen Hund denken, dessen Fell ebenso kurz und drahtig gewesen war wie Reggies - und an den beruhigenden Geruch von Zigarrenrauch, der ihn stets begleitet hatte. Sobald Kat begann, Reggie zwischen den Ohren zu kraulen, hörte er auf zu bellen.
»Er mag Sie!« Joseph klatschte vor Freude in die Hände. »Das ist ein ausgezeichnetes Omen. Meinen letzten Untermieter konnte er nicht ausstehen. Hat ständig hinter seinen Kleiderschrank gepinkelt, aber ich glaube, das Problem werden wir mit Ihnen nicht haben. Komm, Reggie, dann wollen wir Kat mal alles zeigen.«
Beim Klang seines Namens trottete der Hund gehorsam zurück in die Wohnung. Kat machte sich auf alles gefasst, als sie auf die Tür zuging, aber beim Eintreten stockte ihr der Atem. Das Zimmer, in dem sie sich wiederfand, war riesig, hoch über ihren Köpfen spannte sich eine Gewölbedecke auf, und ihre Füße standen auf polierten Holzdielen. Die Wände hatten einen neuen Anstrich nötig, und es roch ein bisschen muffig, aber durch das großzügige Erkerfenster strömte Licht ins Zimmer, und der überwiegende Teil der hinteren Wand wurde von dem größten Kamin eingenommen, den Kat je gesehen hatte. Mit so einem beeindruckenden Anblick hatte Kat im Leben nicht gerechnet. Ihr war, als befände sie sich am Set eines Historiendramas, nur dass die Möbel von IKEA stammten und in der Ecke ein Flachbildfernseher stand.
»Nicht schlecht, oder?«, sagte Joseph.
»Es ist unglaublich.«
»In viktorianischer Zeit hat hier ein reicher Industrieller gewohnt. Tatsächlich standen in der ganzen Straße Villen wie diese hier, und alle waren nach berühmten englischen Dichtern benannt: Byron, Wordsworth, Keats und so weiter, daher auch der Name Poet's Road. Die Hälfte der Villen wurde im Zweiten Weltkrieg zerbombt, der Rest wurde später abgerissen und durch kleinere, praktischere Häuser ersetzt. Irgendwie hat Shelley House überlebt, wurde aber in den Sechzigern umgebaut und in kleinere Wohneinheiten unterteilt.«
Schweigend ließ Kat das alles auf sich wirken. Ihr Großvater hatte sein ganzes Leben lang in diesem Dorf gelebt, was bedeutete, dass er die Poet's Road schon gekannt haben musste, als die anderen Villen noch gestanden hatten. Wer weiß, vielleicht war er sogar mal in Shelley House gewesen? Bei dem Gedanken spürte Kat ein Stechen in der Brust.
»Wenn Sie das Haus jetzt schon beeindruckend finden, hätten Sie es vor dreiunddreißig Jahren sehen sollen, als ich hier eingezogen bin«, fuhr Joseph fort. »Damals war es eins der prächtigsten Gebäude in der Nachbarschaft und wurde tadellos instand gehalten. Aber im Laufe der Jahre haben es die wechselnden Vermieter leider ziemlich vernachlässigt, daher der jetzige Zustand.« Er deutete auf einen feuchten Fleck an der Wand neben ihnen, an dem die Farbe abblätterte. »Aber genug von der Geschichtsstunde. Ich führe Sie herum.«
Joseph steuerte die beiden Türen am anderen Ende des Raums an, und Reggie flitzte ihm schlitternd über den glatten Boden hinterher.
»Hier ist die Küche«, sagte Joseph und...
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