Schweitzer Fachinformationen
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Jetzt, am Ende meines Lebens, habe ich viel Zeit. Genug, um meinen kleinen Bruder zu retten. Ich muss es versuchen. Ich muss es schaffen. In drei Wochen werde ich neunzehn Jahre alt, und diesen Geburtstag werde ich nicht erleben. Mein Tod ist beschlossene Sache. Aber vorher muss ich das hier hinter mich bringen. Nehmen Sie es als mein Geständnis, Herr Schneider. Dabei will ich nicht um Verständnis betteln. Zum ersten Mal in meinem Leben geht es mir überhaupt nicht um mich. Ich bin nicht mehr wichtig. Ich habe nur noch ein Ziel: Benny darf nichts geschehen. Er ist erst sieben Jahre alt. Wem soll er denn trauen, wenn er nicht einmal mir trauen kann? Ich habe ihn im Stich gelassen. Bin einfach abgehauen, ohne Erklärung und ohne Abschied. Sie sind Polizist, da müssen Sie doch einen Weg finden, einen kleinen Jungen vor Menschen wie mir und Martin zu beschützen. Und wenn er erwachsen ist, wenn er genug Vertrauen in sich und die Welt hat, dann geben Sie ihm diesen Bericht. Geben Sie ihn nicht unserer Mutter, nie, die verhökert ihn doch nur an die meistbietende Illustrierte. Wenn Martin das hier liest, oder sein Freund, dann bedeutet das nicht nur meinen Tod, sondern vor allem, dass Benny weiter in Gefahr schwebt. Und nicht nur er. Deshalb treibe ich ein doppeltes Spiel. Die letzte Anstrengung meines verpfuschten Lebens. Die einzige, die einen Wert hat.
Ich weiß nicht, wann es angefangen hat schiefzulaufen. Vielleicht bei meiner Geburt. (Heute denke ich, es wäre besser gewesen, meine Mutter hätte mich abtreiben lassen. Aber das hätte nicht in ihre egoistische Lebensplanung gepasst.) Vielleicht hat es schon vor meiner Geburt angefangen, mit der falschen Kombination der Gene. Ganz sicher aber ist es seit meinem ersten Kuss schiefgelaufen.
Ich muss ein bisschen ausholen. Sicher sind Ihnen, Herr Schneider, die Narben in meinem Gesicht aufgefallen. Ich habe sie mir mit zwölf Jahren zugezogen, bei einem Küchenunfall. Waren ziemlich üble Brandwunden. Meine Mutter und ich haben verschiedene Ansichten darüber, wie es passiert ist. Sie sagt immer, es sei meine eigene Schuld gewesen. Weil ich beim Frittieren alles mit Fett vollgespritzt habe, auf dem glitschigen Boden ausgerutscht bin und mich, dämlich, wie ich bin, am Topf mit dem heißen Öl festhalten wollte. Ich sage, dass ich reflexartig nach dem Gitter oben auf dem Gasherd gegriffen habe, das schon lange kaputt und wackelig war und das meine Mutter aus Geiz und Faulheit nie hat auswechseln lassen.
Egal, wer schuld war, mir sind jedenfalls hässliche Male geblieben. Inzwischen sind sie etwas verblasst und nicht mehr so auffällig, aber damals sah ein Teil meiner linken Wange ziemlich übel aus, wie ein angefaulter Pfirsich, bräunlich rote Flecken, wulstige Narben. Ohr, Hals und Schulter hatten auch etwas abbekommen. Mit dreizehn, als die meisten Mädchen in meiner Klasse schon ihre ersten Erfahrungen mit Jungs machten, hat mich keiner angeschaut. Und wenn, dann nur, um sich schnell wieder mitleidig oder angewidert abzuwenden.
Zugegeben, ich war damals auch ein bisschen kratzbürstig. Wenn mich niemand mochte, dann mochte ich eben auch niemanden. Nur Martin hat sich von meinem Stacheldrahtcharme nicht beeindrucken lassen. Als mich einmal zwei Jungs aus meiner Klasse blöd angemacht haben, wegen meiner heruntergelatschten Turnschuhe und unmodernen Klamotten und weil ich meine Narben damals trotzig zur Schau gestellt habe, da hat Martin mich als Einziger verteidigt. Die haben mich Freak genannt, und er hat die Mistkerle verdroschen. Ohne Vorwarnung, ohne ein Wort, total cool. Er war fünfzehn, groß und kräftig gebaut, hübsches, freundliches Gesicht, blonde Haare, dunkelbraune Augen. Vielleicht war es diese ungewöhnliche Kombination von Haar- und Augenfarbe oder ein bestimmter Ausdruck, keine Ahnung, irgendwas Geheimnisvolles. Ich kann es nicht genauer beschreiben. Jedenfalls fand ich es sehr anziehend.
Es war Zufall, dass er vor unserer Schule aufgekreuzt ist. Er ging aufs Gymnasium und hatte bei uns nur seinen kleinen Bruder abholen wollen, Jonas, der zwei Klassen unter mir war. Nachdem die Mistkerle ordentlich bedient waren, hat mich Martin zum Eis eingeladen. Das heißt, eigentlich habe ich ihn einladen wollen, als Dank, aber dann hat er darauf bestanden, für mich zu bezahlen. Und dann hat er mich geküsst. Vor den zwei geprügelten Hunden und noch ein paar anderen Mitschülern von mir. Richtig geküsst. Auf den Mund und mit Zunge und allem. Ich schmolz schneller als das Eis in meiner Hand.
Ich habe ihm meine Telefonnummer gegeben und nach seiner gefragt, aber er sagte, er sei gerade dabei, mit seiner Familie umzuziehen. «Ich ruf dich an», sagte er zum Abschied. Hat er aber nicht. Auch sein Bruder kam nicht mehr in meine Schule zurück. Es war leicht, seinen Nachnamen herauszukriegen, aber dann habe ich die Telefonauskunft doch nicht angerufen. Irgendwie verbot mir das mein Stolz. Ich habe Martin vier Jahre lang nicht mehr gesehen und ihn so gut wie vergessen. Bis sein Name im Fernsehen fiel. Ich saß gerade bei Benny am Bett, wie fast jeden Abend, und las ihm aus dem Herrn der Ringe vor. Meine Mutter hing wie üblich nebenan vor der Glotze. «Martin W.» Ich rannte hinüber, obwohl es eigentlich total verrückt war zu glauben, dass es mein Martin sein könnte. Aber er war es tatsächlich. Sie zeigten ihn bei seiner Festnahme.
MARTIN W. Der Name knallte in mein Leben wie ein Meteorit in die Wüste.
«Ich hätte ihn auch umgebracht», sagte Gunter.
Martin blickte überrascht vom Waschbecken auf, in dem er seine Socken wusch. In den drei Wochen, die sie nun die Zelle miteinander teilten, hatten sie kaum über ihre Taten gesprochen. Gunter Sand saß wegen eines Raubüberfalls in Untersuchungshaft. Als man ihn zu Martin in die Zelle brachte, erkannte er ihn sofort und beschwerte sich lautstark über diese Zumutung. Der Fall Martin Werneck war vor einem halben Jahr durch die Presse gegangen: Er hatte seinen vierzehnjährigen Halbbruder Jonas getötet. Das hatte er auch gestanden. Eine Tat im Affekt. Weil er Jonas beim Mord an dem zehnjährigen Joey überrascht hatte. Sagte sein Verteidiger. Es konnte aber ebenso ein kaltblütiger Doppelmord zur Vertuschung seiner eigenen sexuellen Straftat gewesen sein. Sagte der Staatsanwalt. Die Indizien waren spärlich und nicht eindeutig.
Gunter hatte, wie jeder Kriminelle, der auf sich hielt, nur Verachtung für Kindermörder und zeigte sie offen. Martin nahm es ihm nicht übel. «Ich bin unschuldig», beteuerte er. «Wäre ich es nicht, würde ich mich selbst verachten.» Er lächelte ein freundliches, offenes, selbstbewusstes Lächeln.
Irgendwie sind ja immer alle unschuldig im Knast. Gunter glaubte ihm nicht. Er sprach nur das Allernötigste mit ihm, spielte lieber allein Karten. Martin blieb dennoch gut gelaunt. Wenn ihn die Zurückweisung ärgerte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken.
Vor Gericht würde sich schon herausstellen, dass er die Wahrheit sagte, betonte er immer wieder, ungefragt. Immer klang es ruhig und voller Vertrauen in die Weisheit des Gerichts. Gunters strikte Ablehnung bekam nach und nach Risse. Er wandte sich nicht mehr demonstrativ ab, wenn Martin versuchte, eine Unterhaltung zustande zu bringen, über den Knastalltag oder über das Radioprogramm. In der zweiten Woche las Martin seine «Fanpost» vor, Liebesbriefe, die ihm wildfremde Frauen jeden Alters ins Gefängnis schickten. Sie alle glaubten an seine Unschuld. Die blumigen oder ungelenken Formulierungen amüsierten ihn und rangen sogar Gunter manchmal ein Grinsen ab. Gelegentlich waren auch schamlose Angebote dabei, die an Pornographie grenzten, und sie lachten beide über diese seltsamen Wesen. Ein wenig großspurig begann Martin dann von seinen Affären mit Mädchen zu erzählen. Gunter hörte immerhin zu, wenn auch schweigend.
Martin schien sich auch ehrlich für das Leben seines Zellengenossen zu interessieren. Anfang der dritten Woche erzählte Gunter von seiner Frau und seinem Sohn und heftete ein Familienfoto an die Wand. Fragen nach seinem missglückten Raubüberfall beantwortete er nicht. Das tut man während der Untersuchungshaft einfach nicht, man weiß ja nie, wie weit man einem Mithäftling trauen kann. Außerdem war ihm die Erinnerung an sein Versagen peinlich. Er saß schon das zweite Mal. Fragen nach Martins Tat stellte er nicht, vielleicht, um ihn nicht bei einer Lüge zu ertappen. Das hätte die neue, entspannte Atmosphäre in der Zelle sofort zunichtegemacht. Er vermied es sogar, sich zu fragen, warum er keine Fragen stellte.
Am Tag vor der Urteilsverkündung, der Martin noch immer gleichmütig entgegensah, beschloss Gunter, an seine Unschuld zu glauben. Er bot ihm eine Zigarette an, zum ersten Mal. Martin trocknete sich erstaunt die Hände ab und nahm sie, obwohl er sonst nicht rauchte. Nur gelegentlich nahm er eine, wenn sie ihm von der richtigen Person angeboten wurde, weil es eine unverdächtige Art der Kontaktaufnahme war. Manchmal - draußen - hatte er auch selbst ein Päckchen in der Tasche, weil sich viele Jungs ernst genommen fühlten, wenn ihnen ein Älterer eine Zigarette anbot, und das konnte von Vorteil sein.
«Jeder würde reagieren wie du», sagte Gunter. «Das muss auch der Richter so sehen.»
Martin lächelte sein offenstes Bubenlächeln, aufrichtig dankbar für die Zigarette ebenso wie für das Vertrauen.
«Du sitzt sowieso bloß, weil deine Mutter, die Schlampe .»
«Stiefmutter», korrigierte Martin und zündete sich die Zigarette mit Gunters Feuerzeug an.
«Erst recht Schlampe. Sonst...
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