Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
5
Es war kurz vor neun, die Sonne verdampfte gerade die letzten Wolken am Himmel. Von der Straße stieg die Feuchtigkeit des nächtlichen Gewitterregens auf und trieb Frederike den Schweiß auf die Stirn.
Sie hörte Alexanders mahnende Stimme, die vorhersagte, dass extreme Unwetter bald die Regel sein würden, wenn es nicht gelänge, den CO2-Ausstoß zu verringern. Dann bräuchte jeder Gummistiefel und ein Schlauchboot im Keller, denn irgendwann wäre der eine Wolkenbruch einer zu viel für die Dämme, und dann würden sich Rhein und Emscher ins Ruhrgebiet ergießen und ein Chaos anrichten.
Wenn er mit seinen Klimastatistiken anfing und die Eigenarten des Ruhrgebiets beschrieb, das sich durch den Steinkohlebergbau fünf, zehn, zwanzig Meter abgesenkt hatte und dadurch tiefer lag als alle Flüsse drum herum, wurde ihr manchmal mulmig. Dann verglich er das Ruhrgebiet mit einer Badewanne ohne Abfluss, das einströmende Wasser konnte nicht entweichen und verwandelte ihr geliebtes Ruhrgebiet in eine ausgedehnte Seenlandschaft.
Sie selbst fand das übertrieben. Auch wenn die Kanalisation manchmal überlief, so musste man nicht gleich die Apokalypse an die Wand malen.
Sie ging denselben Weg, den sie gestern Nachmittag mit Hartmut in umgekehrter Richtung gegangen war, und bog rechts in den schmalen Fußweg ein. Der Untergrund war noch immer matschig, Frederike balancierte zwischen Pfützen und Schlammlöchern hindurch und verfluchte sich dafür, keine festen Schuhe angezogen zu haben.
Sie überquerte den Bach über eine aus Metallplatten bestehende Brücke. Nach wenigen Metern erreichte sie das große Areal, das früher die Halde des Welterbes Zollverein gewesen war. Hier hatte sich durch den vielen Regen ein See gebildet, auf dem zwei Enten schwammen.
Sie ging nach links, vorbei an Brombeerhecken, ihr Blick wanderte dabei die ganze Zeit über die Fläche, ging abwechselnd in das Gestrüpp neben ihr und nach oben in den wolkenlosen Himmel. Im Hintergrund ragten die Türme der Kokerei auf, neben der Kohlenwäsche ein weiterer Besuchermagnet von Zeche Zollverein.
Endlich erreichte sie den befestigten Weg. Auf dem Asphalt sah sie die Hinweismarkierung: links zur Kokerei, rechts zum Schacht XII und geradeaus, die Treppe hinauf, zum Skulpturenpark. Sie bog rechts ab.
Ein Rotkehlchen setzte sich auf einen Brombeerzweig und piepte sie frech an. Früher hätte sie das Vieh erschreckt, dass es keifend davongeflogen wäre. Durch Alexander hatte sich ihr Blick auf die Natur verändert. Sie sah jetzt Bäume, Sträucher, Blumen, wo früher Grünzeug wucherte. Ein zarter Vogel, der sich in dieser Stadtlandschaft einen Lebensraum erobert hatte, brachte sie neuerdings zum Lächeln.
Mit jedem Schritt veränderte sich ihr Blick. Sie nahm die Umgebung mehr und mehr als Kommissarin wahr. Eine ausgetretene Zigarette auf dem Weg wurde zu einem potenziellen Spurenträger; auch ein Taschentuch im Dreck, ein Kaugummi. Sie konzentrierte sich auf jede Kleinigkeit, blieb mehrmals stehen und sah sich die Umgebung genauer an. So entwickelte sie ein Gefühl für das Umfeld, sie suchte nach Verstecken und Fluchtwegen.
Rechts im Hintergrund sah sie das Castell, die Skulptur aus mächtigen Steinquadern. Vom Weg konnte man meinen, dass es aus vielen Blöcken bestand, es waren jedoch nur vier in Form eines L-Winkels. Die beiden Kanten waren jeweils etwa vier Meter lang. Zwischen den Blöcken gab es schmale Durchlässe, durch die man auf einen Platz in der Mitte der vier L-Winkel gelangte.
Der Weg stieg leicht an. Ihr Blick klebte an der flachen Skulptur, während sie direkt auf den Eckpunkt des vorderen L zusteuerte.
Als sie sich neben Alexander kniete, konnte sie nicht sagen, was sie hierherdirigiert hatte. Eine Ahnung, ein unbewusstes Signal oder einfach ihre Erfahrung in solchen Situationen.
Sie kam zu spät. Die gelbe Haut, die sichtbaren Totenflecken an der unteren Wange und dem Hals, Fliegen überall.
»Ach, Alexander. Wer rettet jetzt das Ruhrgebiet?«, fragte sie sich, als sie wieder stand und auf den toten Freund hinuntersah. Dann breitete sich die Sorge um Sandra und ihre ungeborene Tochter aus.
Mit dem dritten Gedanken lief die Routine der ehemaligen Hauptkommissarin ab. Tatort sichern, Spuren sichern - sie sollte die Polizei informieren, damit die das tat. Gleich.
Ihr Blick wanderte zurück zu Alexander. Wie er auf der Seite lag, den Kopf etwas erhöht, wirkte er beinahe, als würde er schlafen.
War es doch das Herz gewesen? Oder hatte jemand nachgeholfen?
Sie öffnete ihren Rucksack, holte die Einweghandschuhe heraus, die immer noch sicherheitshalber in einer Seitentasche lagen, und streifte sie über. Erneut kniete sie sich neben Alexander, bemerkte erst jetzt den Stein, auf dem sein Kopf lag. Als sie den Kopf leicht anhob, sah sie, dass der Stein spitz war, kegelförmig und ein Loch in die Schläfe gedrückt hatte. Blut war ausgetreten.
Kein Problem mit dem Herzen.
Als wäre ein Schalter umgelegt worden, erhob sie sich und inspizierte die Umgebung. Bewegte sich etwas? Wurde sie beobachtet? Lauerte jemand möglicherweise hinter einem Baum? Nachdem sie nichts Auffälliges wahrnahm, kehrten ihre Überlegungen zu Alexander zurück. War es ein Unfall, war Alexander unglücklich gestürzt, oder befand sie sich an einem Tatort?
Sie suchte den Boden ab. Hier lagen keine losen Steine herum und schon gar keine mit einer solchen Form. Sie musste gleich nachsehen, ob sich außerhalb der Quader solche Steine befanden. Kampfspuren erkannte sie nicht. Die schwach erkennbaren Fußspuren lieferten keinen Hinweis.
Mit ihrem Smartphone schoss sie einige Aufnahmen. Dann wählte sie den Notruf und informierte die Diensthabende über die Details. Die Kripo musste anrücken und den Fall übernehmen.
Zurück bei Alexander begann sie mit ersten Ermittlungen. Ihr blieb nicht viel Zeit. Sie versuchte einen Arm, danach ein Bein zu heben, doch die Totenstarre war bereits ausgebildet. Bei der Wärme kein Wunder. Sie tastete vorsichtig die Hosentaschen ab, bemüht, nichts zu verändern. Sein Smartphone steckte in der linken. Sie konnte es herausziehen. In der Reha hatte sie regelmäßig sein Telefon entsperrt, wenn er wieder seine Lesebrille vergessen hatte und die Nachrichten von Sandra nicht lesen konnte. Sie gab die Ziffern von Sandras Geburtstag ein und suchte in den Nachrichten.
Das Martinshorn kündigte frühzeitig den ersten Einsatzwagen an.
»Thorsten und Kai hecken etwas aus, das dir nicht gefällt. Wenn du es nicht verhinderst, gibt es großen Ärger.« Der Absender war anonym, eine unterdrückte Nummer. Sie fotografierte mit ihrem Smartphone die Nachricht. Um zweiundzwanzig Uhr neununddreißig war sie eingegangen. Da hatte sie bei Kalli neben ihm gestanden.
Sie suchte weiter. Zum Nachdenken hatte sie nachher noch genügend Zeit.
Ein zweites Martinshorn ertönte.
Frederike steckte das Telefon zurück in die Hosentasche. Dann richtete sie sich auf, verstaute die Einweghandschuhe im Rucksack und machte einige Aufnahmen von Alexander und der Umgebung. Danach filmte sie alles. Sicher war sicher.
Erst als sie noch einmal die Qualität der Aufnahmen prüfte, wurde ihr bewusst, dass da ein Freund lag. Ein lieber Mensch, der gestern noch strotzend vor Energie eine Versammlung geleitet hatte. So schnell wurde aus einem Freund ein Fall, dachte sie. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Bilder gemeinsamer Abende schossen durch ihren Kopf. Sein Lachen. Seine mahnende Stimme. Für immer verstummt. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen.
Zu Hause warteten eine Frau und ein ungeborenes Kind auf ihn. Eine Frau, die sich Sorgen machte. Die eine Zukunft mit ihm geplant hatte und der nun der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Ich werde mich um Sandra kümmern, nahm Frederike sich vor.
Mit einem Ruck kehrte sie zum Tatort zurück. In wenigen Minuten würde die Ermittlungsmaschine anlaufen. Sie gehörte nicht mehr dazu. Andere würden übernehmen, ihr blieb die ungewohnte Rolle der Zuschauerin.
Sie sah Kowalczyk und Julian Potthoff gleich hier auflaufen und das Kommando übernehmen, sie befragen, nachbohren, wissen wollen, was sie mit dem Toten zu tun hatte. Sie würde zur Zeugin degradiert, die ihre Aussage macht und verschwinden muss. Ihre Fingernägel bohrten sich in die Handflächen. Bei dieser Vorstellung schlug ihr Herz, dass sie es im Hals spürte.
Also traf sie eine Entscheidung: Egal wie, eins würde sie für Alexander, ihren Freund, noch tun - sich persönlich um den Mörder kümmern. »Das tu ich für dich«, murmelte sie und sah Alexander noch einmal an.
Dann trat sie aus dem Steinquadrat.
Vom Weg kamen gerade die Streifenkollegen angerannt. Kaum standen sie neben ihr, fragten sie bereits: »Haben Sie uns informiert?«
Frederike nickte und erklärte ihnen die Lage. Damit war sie raus. Widerwillig stellte sie sich abseits und beobachtete, wie der Tatort gesichert und eine erste Meldung abgesetzt wurde.
Der Rettungswagen tauchte auf, und schon eilte der Notarzt mit seinem Koffer zu Alexander, kniete nieder, richtete sich aber rasch wieder kopfschüttelnd auf.
Frederike wollte nicht weiter hinsehen. Sie rief Hartmut an. Da direkt seine Mailbox ansprang, vermutete sie, dass er noch beim Arzt saß. Sie hinterließ die Information zu Alexanders Tod und bat ihn, sie zurückzurufen. Sandra wollte sie nicht telefonisch informieren. Direkt zu ihr gehen wollte sie auch nicht, denn gleich würden die Spurensicherung und danach Kowalczyk und wahrscheinlich Julian kommen. Vielleicht auch der Staatsanwalt. Das wollte sie noch abwarten.
Es dauerte fünfzehn Minuten, bis Patrick, der Leiter der...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.