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Kurz nach seiner Rückkehr ins Dorf traf José zufällig seinen Freund Manuel, der sich wie er von der Begeisterung im Juli hatte mitreißen lassen, sich jedoch nicht dazu hatte entschließen können, seine Familie zu verlassen. José schilderte ihm bis ins Detail seine Erlebnisse in der Stadt und die grandiose Euphorie, die dort herrschte. Aber er verlor kein Wort über die Fehden zwischen den Fraktionen, die denen im Dorf aufs Haar glichen, er verlor kein Wort über die verlogene Propaganda der Politkommissare mit dem russischen Akzent und den runden Brillengläsern, er verlor kein Wort über das furchtbare Feixen der beiden Mörder im Café an den Ramblas, das er nie vergessen würde - als ob er diese Dinge in sich zum Schweigen bringen könnte, indem er sie anderen verschwieg, als ob dieses Lügen durch Weglassen ihn vor einem vollkommenen Zusammenbruch retten könnte.
Sein Freund Manuel, der vor dem Krieg so enthusiastisch gewesen war, hörte ihm nun mit trübsinniger Miene zu, als ob die Worte, die José von sich gab, ihn in eine ferne und fast vollständig vergessene Phase seines Lebens zurückversetzten. Er hatte seine alten Gewohnheiten wieder aufgenommen, bestimmt weil er schnellstmöglich die überschwängliche Begeisterung des Juli abschütteln und sich nicht der beängstigenden Aussicht stellen wollte, sich an den grandiosen Idealen messen zu müssen, die ihn erfüllt hatten.
Gegenwärtig war ihm alles, was er noch vor einem Monat geliebt und verteidigt hatte, gleichgültig.
Noch schlimmer, er sagte sich davon los. Er lehnte es ab.
Und zu seiner Rechtfertigung packte er die ganze Litanei von Vorwürfen aus, die er in zwei Wochen gegen seine ehemaligen Kameraden angesammelt hatte und die größtenteils absurd waren und jeder Grundlage entbehrten: dass sie Borrachos waren, Faulpelze, Schwule, die ein Chaos anrichteten, nur um ihre lidibi, libibi, libidinösen Instinkte zu befriedigen, dass sie sich übertrieben ehrenhaft verhielten, ein gleichermaßen beunruhigender Charakterfehler, und dass sie den Nationalisten in die Hände spielten, lauter Vorurteile und Lügen, die in Windeseile das tatsächliche Geschehen in den Hintergrund gedrängt hatten (José sollte bald feststellen, dass Manuels Vorwürfe sich mit der Rasanz einer Grippeepidemie im Dorf verbreitet hatten).
José fühlte sich hilflos.
So hilflos angesichts dieser unerwarteten Feindseligkeit, dass er nicht die moralische Widerstandskraft besaß, die Bewegung zu verteidigen, der er sich mit so viel Eifer in Lérima angeschlossen hatte.
Er dachte sich, dass er die Wankelmütigkeit der Menschen und ihre Fähigkeit, eine Kehrtwende zu machen, unterschätzt hatte.
Er dachte sich, dass er ihr Bedürfnis, die schönsten Dinge zu verunglimpfen und in den Schmutz zu ziehen, falsch beurteilt hatte.
Und wieder einmal machte er sich Vorwürfe wegen seiner Naivität.
Aber er hoffte noch. Es gibt nichts Hartnäckigeres, nichts Zäheres als die Hoffnung, vor allem wenn sie unbegründet ist, die Hoffnung ist eine Quecke.
Er glaubte, dass es noch zu früh sei, um seine Meinung zu ändern. Zu früh, um sich geschlagen zu geben, um die Hoffnung zu begraben.
Und obwohl seine Begeisterung seit den unvergesslichen Tagen enorm abgekühlt war, obwohl seine Vorstellung von der Revolution von einem Schatten befleckt worden war, der sich immer weiter ausdehnte (ich: wie Chagrinleder unaufhörlich schrumpft, meine Mutter: was für ein schöner Ausdruck), weigerte sich etwas in ihm, seinen großen Traum einfach sterben zu lassen.
Er gab sich einen Ruck, um sich wieder zu fangen.
In scheinbar unbeteiligtem Tonfall, denn er wollte nicht als unverbesserlicher Naivling dastehen, weihte er Manuel in sein bescheidenes Projekt ein, die Analphabeten im Dorf zu unterrichten, die absichtlich in einem Zustand der Zurückgebliebenheit gehalten wurden, was ein gewisser Diego schamlos ausnutzte.
Manuel verzog das Gesicht. Er verhehlte kaum seine Skepsis. Er versuchte José davon zu überzeugen, dass er sich besser Diegos Lager anschließen solle, statt sich auf gewagte Abenteuer einzulassen. Andernfalls würde er sich womöglich Ärger einhandeln.
Cuidado con el pelirrojo! Vorsicht vor dem Rothaarigen!
Niemals! José verkündete das mit letzter Kraft! Lieber krepieren als sich mit Diego einigen! Er werde keinen Fingerbreit von seiner Überzeugung abweichen, dass jede Macht gleichbedeutend mit Unterdrückung sei. Um nichts in der Welt wolle er den Fehler seiner Kameraden aus der Stadt wiederholen, die Schritt für Schritt verloren, was ihre Stärke ausgemacht habe, weil sie sich auf eine Beteiligung an der Regionalregierung einließen.
Was José jedoch im weiteren Gespräch mit Manuel am deutlichsten klar wurde, war, welch wichtige Position Diego binnen weniger Tage im Dorf eingenommen hatte.
Wie er feststellen musste, hatten sich fast alle Bauern ihm angeschlossen. Die größten Kommunistenhasser sangen jetzt Diegos Loblied. Speichellecker umschmeichelten ihn. Sie sind der Mann der Stunde. Die Liebediener liebedienerten und verkündeten, um ihm zu gefallen, demonstrativ ihre totale Ablehnung des dummen Gefasels der Anarchisten. Die Unterwürfigen stürzten sich für einen marxistisch-leninistischen Händedruck erster Güte auf ihn. Und die Hausfrauen und Mütter warfen sich fromm vor seinen Cojones nieder, weil die Hausfrauen und Mütter sich liebend gerne vor den Cojones der Chefs niederwerfen (sagt meine Mutter).
Gegen Ende seiner Diskussion mit Manuel erfuhr José noch, dass auch sein eigener Vater ein Anhänger Diegos geworden war. Das traf ihn wie ein Messerstich ins Herz.
Während José in seinem Dorf Trübsal blies, genossen Montse und Francisca kilometerweit entfernt in vollen Zügen die Freuden des Stadtlebens. Jeden Abend setzten sie sich auf die Terrassen der Cafés, wo man seit der Revolution umsonst ein Glas Wasser trinken konnte, ohne hinausgeworfen zu werden, wo man zusehen konnte, wie die Nacht sich langsam auf die Dächer der Häuser herabsenkte.
An einem Abend im August, es war ein Mittwoch, nahm Montse alleine im Café L'Estiu Platz, das sie am Tag ihrer Ankunft besucht hatte. Am Nebentisch erkannte sie sogleich den jungen Franzosen, der das Gedicht über das Meer rezitiert hatte.
Da grüßten sich unsere Augen; und die Liebe stieg in den Herzen hoch, sagt meine Mutter zu mir und beginnt zu singen.
Las naran las naranjas y las uvas
En un pa un un palo se maduran
Los oji los ojitos que se quieren
Desde le desde lejos se saludan
Der junge Mann bat um Permission, sagt meine Mutter, sich an ihren Tisch setzen zu dürfen, was sie ihm umstandslos gewährte (denn eine Revolutionärin, die diese Bezeichnung verdiente, war es sich schuldig, Affektiertheiten, Ziererei, falsche Scham und andere Symptome bourgeoiser Manieriertheit mit Verachtung zu strafen).
Der junge Mann hieß André. Er war Franzose.
Er sprach Spanisch mit einem kaum hörbaren Akzent und stellte sich als angehender Schriftsteller vor. Er war acht Tage zuvor aus Paris aufgebrochen und wartete auf seinen Einberufungsbescheid in eine Internationale Brigade, um an der aragonesischen Front zu kämpfen. In Perthus hatte er einen überfüllten und verschmutzten Zug bestiegen, aber die aufgeheizte Atmosphäre in den Abteilen, die mit Weißwein gefüllte Feldflasche, die herumgereicht wurde, die leidenschaftlichen Deklamationen, die heiseren Gesänge, die Beschimpfungen, die gegen El Hijo de la gran Puta y su pandilla de cabrones ausgestoßen wurden, eine undefinierbare Düsternis und Überschwänglichkeit - wie eine Angst, die sich in Triumph verkehrt, in dem jedoch noch eine gewisse Melancholie mitschwingt - hatten ihn den Schmutz schnell vergessen lassen. Auf dem Bahnsteig war er von Guapas mit Blumen im Arm empfangen worden, die ihn ins Hotel Continental begleitet hatten, wo er für einen Spottpreis wohnte und das bei perfektem Service.
Er sagte zu Montse, dass er sich für Frankreich und für Europa schäme, die vor Hitler kuschten, und für die katholische Kirche, die mit den Militärs ins Bett ging.
Am nächsten Morgen würde er aufbrechen.
Er hatte einen Abend für sich und die ganze Nacht.
Montse liebte ihn von der ersten Sekunde an, bedingungslos und für immer (für die Unwissenden: Man nennt es Liebe).
Sie beschlossen, ins Kino zu gehen, das ebenfalls gratis war, seitdem die Anarchisten die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Und kaum hatten sie Platz genommen, stürzten sie sich aufeinander und tauschten in der Finsternis einen Kuss aus, der nicht weniger als eineinhalb Stunden dauerte. Es war Montses erster Kuss, und sie hielt damit einen grandiosen Einzug auf dem Gebiet der Sinnlichkeit vor der Leinwand, auf der andere Küsse zu sehen waren, die zweifellos professioneller und doch knauseriger waren.
Und da seit Juli nichts mehr den alten Regeln folgte und da die Moral sich den Befehlen des Verlangens unterworfen hatte und da sich niemand mehr mit den alten Zwängen herumschlug und da alle oder beinahe alle sie ohne den Hauch eines Zweifels (allerdings trotzdem mit einer gewissen Unruhe) über Bord warfen, willigte Montse nach dem eineinhalb Stunden währenden Kuss, der zum Sterben süß war, ohne zu zögern darin ein, den Franzosen in sein Hotelzimmer zu begleiten. Und sie hatte weder die Zeit noch die Geistesgegenwart, sich zu fragen, ob die Unterwäsche, die sie trug, passend war (großer Baumwollschlüpfer, ein absoluter Liebestöter, und dazu passendes Unterhemd), denn da fielen sie schon auf das Bett, atmeten und streichelten einander, verknäuelten sich...
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