Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Das postsowjetische Jekaterinburg, kurz vor Silvester: Petrow, Automechaniker und erfolgloser Künstler, fühlt sich grippig. Auf dem Weg zur Arbeit wird er von seinem alten Freund Igor abgefangen und schon sitzen die beiden in einem Leichenwagen um einen Sarg und kippen einen Wodka nach dem nächsten. Währenddessen versucht Petrows Ex-Frau die Mordgedanken zu unterdrücken, die ständig von ihr Besitz ergreifen ...
Nicht nur der Alkohol benebelt hier die Sinne wie seit Wenedikt Jerofejews »Reise nach Petuschki« nicht mehr. Alexei Salnikow fasst den maroden Zustand der postsowjetischen Gesellschaft ins Bild einer ansteckenden Krankheit, die niemanden verschont. Unverdaut stehen in den fiebrigen Gehirnen der Petrows Erinnerungssplitter aus der Breschnew-Ära neben Fetzen westlicher Popkultur, trifft Ideologie auf Reklame, Dostojewski auf die Turtles. Nach moralischem Halt sucht man vergebens, während Ewiggestrige und Marginalisierte durch die verstörte Gegenwart marodieren. Dass die Petrows inmitten des Irrwitzes trotz allem eine zarte Menschlichkeit bewahren, zeichnet Salnikows hochaktuellen Roman aus.
Kapitel 2
Es war noch hell, als Petrow zu sich kam, zunächst glaubte er, die Stille habe ihn geweckt. Sein Bewusstsein schaltete sich in großen Segmenten ein, als legte es ein primitives Puzzle aus neun Teilen zusammen. Zunächst glaubte Petrow also, die Stille habe ihn geweckt, er dachte, er sei erwacht, weil Wiktor Michajlowitsch endlich den Radiorekorder ausgeschaltet hatte. Dann beschloss Petrow, dass ihn die furchtbare Kälte geweckt haben musste, die ihn von allen Seiten umfing, bis er schließlich feststellte, dass er mit dem Sicherheitsgurt an einen Autositz festgeschnallt war, und vorne, durch die Windschutzscheibe, war eine reglose Straße zu sehen, voll blauen Morgenschnees, zerfahren von Reifenspuren. Rechts der Straße zog sich ein niedriger schwarzer Zaun hin, als hätte man den Buchstaben »H« vielfach kopiert und aneinandergereiht. Was Igor am Vorabend gegenüber von Wiktor Michajlowitschs Bruchbude für ein einziges fünfstöckiges Gebäude gehalten hatte, erwies sich als lose verstreute Ansammlung zweistöckiger Häuser, ein weiteres, tatsächlich fünfstöckiges Haus stand abseits der Straße auf einer Anhöhe. Weiter vorne, in einiger Entfernung, begann das gepflügte Feld einer Bauernsiedlung, deren Hütten hinter einem hohen Zaun zusammengepfercht waren, wo sie bis zum bewaldeten Horizont in buntem Durcheinander aufragten. Zwischen der Siedlung und dem Auto, in dem Petrow saß, standen ein paar Leute herum, in zwei von ihnen erkannte Petrow Igor und Wiktor Michajlowitsch, die beiden anderen waren Fremde, aber ihre Milizuniformen machten auch so deutlich, um wen es sich handelte.
Die Szenerie hätte Petrow einen kalten Schauer über den Rücken jagen müssen bei der Erinnerung daran, was Igor und er gestern getrieben hatten und in welchem Transportmittel sie unterwegs gewesen waren, Petrow verspürte regelrecht ein Verlangen nach diesem kalten Schauer, als er sich umsah und feststellte, dass er in besagtem gestrigen Leichenwagen saß, selbst der gestrige Sarg war an Ort und Stelle, der Leichnam war also noch immer nicht zu den Verwandten zurückgebracht, all das hätte Petrow einen kalten Schauer über den Rücken jagen müssen, und vielleicht tat es das sogar, nur konnte Petrow es nicht spüren, weil er selbst kalt wie ein Eskimo war, nachdem er im Schlaf offenbar mehrere Erfrierungsstadien durchlaufen hatte. Selbst in Rachen und Lunge schien kein Quäntchen Wärme mehr übrig. Mit tauben Fingern drückte Petrow den Knopf am Sicherheitsgurt, die Fesseln, die ihn gehalten hatten, glitten nach rechts beiseite.
Die Leute auf der Straße schenkten Petrows Regungen keinerlei Beachtung. »Ihr könnt mich mal«, dachte Petrow, öffnete behutsam die Tür zur Freiheit, kletterte hinaus, ohne zu wissen, wie er auf den nahezu gefühllosen Füßen stehen sollte, schloss die Tür hinter sich und ging mucksmäuschenstill an der Seitenwand des Autos entlang in die Richtung, die ihn, Petrow, von dem auf Abenteuer erpichten Igor möglichst weit entfernte. Petrow steckte die Hände in die eisigen Jackentaschen und stahl sich im Schatten des Autos fort, humpelte langsam voran auf der Suche nach einem Transportmittel. Er fragte sich, in welchen Stadtteil ihn Igor gestern gelockt haben mochte, aber das himmelblaue Straßenschild am nächstgelegenen Haus sagte Petrow nichts. »Ist das der Samjatin, der >Wir< geschrieben hat, oder irgendein Revolutionär?«, überlegte Petrow. Die verschneiten Fahrspuren, die den Weg markierten, schwenkten nach rechts, in Umgehung eines weiteren fünfstöckigen Hauses, Petrow stapfte sie gefügig entlang und kam schließlich auf eine normale, von Pappeln gesäumte Straße, die bergab führte. Die Straße war menschenleer, nicht einmal Hunde gab es. Petrow wanderte an den Pappeln vorbei, hielt ringsum Ausschau nach einer größeren Straße, bis er schließlich ganz unten erneut auf die Zäune der Bauernsiedlung und ein paar Garagen stieß, weiter vorne und rechts von den Garagen und Wohnhäuschen war wieder Wald, aber links fuhr auf einer für den halb erfrorenen Petrow sehr fernen Straße ein blauer Trolleybus.
Petrow marschierte in Richtung des Busses. Auf dem Bänkchen an der Haltestelle saßen ein paar Penner, nicht zu unterscheiden von den lokalen Anwohnern, oder lokale Anwohner, kaum zu unterscheiden von Pennern, irgendwelche Randfiguren mit Visagen, die rot waren vor Kälte oder vom Alkohol. Verblüffenderweise tranken sie ihren 777er Portwein und das Baltika-9er-Bier in völliger Stille, als wollten sie den Grad ihrer Alkoholisierung im Frost steigern. Petrow horchte in sich hinein und begriff, dass er nicht das leiseste Anzeichen eines Rausches spürte, außer vielleicht dem Gefühl einer gewissen Losgelöstheit seines Bewusstseins vom Körper, keine völlige Losgelöstheit, das nicht, aber eine gewisse, kaum merkliche Distanz zwischen Körper und Geist, gesteigert durch den üblichen elenden Brechreiz, der sich nicht entladen konnte, und Kopfschmerzen. »Dieser Igor hat's raus«, dachte Petrow. Das ganze Geschehen, vom ersten Beginn des Besäufnisses, dem Umstieg in den Leichenwagen bis zum Erwachen in selbigem hatte sich für Petrow bereits mit einem Schleier von Nostalgie überzogen, der nur das im Gedächtnis behielt, was lustig und gut war, und der dem ringsum herrschenden Frostschleier ähnelte.
Neben den Trinkern auf ihrem Bänkchen stand direkt an der Fahrbahn ein junger Typ mit schwarzem Rucksäckchen, ohne Mütze, die im Wind rotglühenden Öhrchen wirkten durch ihre Farbe zart wie die Pölsterchen an Katzenpfötchen, der untere Teil des Gesichts war mit einem bereiften schwarzen Schal umwickelt. Petrow war es peinlich, sich dem jungen Mann zu nähern und ihn mit seiner Fahne einzunebeln, umso mehr, als der Mann sich erkennbar von allen fernhielt, von der Suffbande ebenso wie von Petrow. Um es mit den Worten von Pascha zu sagen, der bei Petrow in der Werkstatt arbeitete: Das Bürschlein »hat's drauf angelegt, paar reingeballert zu kriegen«. Hätte er einfach nur dagestanden, wäre der Eindruck des Drauf-Anlegens nicht entstanden, aber er fixierte die Suffköppe ständig, um sich dann wieder verächtlich abzuwenden, warf schräge Blicke auf Petrow, der sich vorkam wie ein Assi, obwohl er gar keiner war.
Petrow erinnerte sich unwillkürlich, wie derselbe Pascha - vom Gebaren her ein Kleinkrimineller, wie er im Buche steht - gerne erklärte, warum er seine Kinder nicht anschrie und ihnen auch noch nie eine geschmiert hatte. Erstens war natürlich Paschas Frau diejenige von beiden, welche die elterlichen Pflichten im Alleingang managte, und zweitens, so sagte Pascha, erwächst aus dem ganzen Anschreien und Verprügeln der Kinder später, im Erwachsenenalter, dieses Schuldgefühl dafür, dass sie dich im Toreingang zusammenschlagen, weil du zu den Oberbabos das Falsche gesagt hast, und überhaupt ist das Gefühl, dass du als Gewaltopfer die Gewalt selbst provoziert hast, quasi dieses Gefühl aus der Kindheit, wo du Hiebe und Geschrei immer dann kassierst, wenn du was ausgefressen hast. Eine Art Dressur. Klassische Konditionierung, die das ganze Leben erhalten bleibt.
»Also ich«, sagte Pascha (und er sagte es oft, praktisch zu jedem neuen Bekannten, als wollte er das Licht seiner Lehre unter den Massen verbreiten), »ich hab irgendwann kapiert: Diese ganzen Oberbabos mit den obercoolen Sprüchen, die gibt's gar nicht, du kannst noch so ein Oberbabo mit noch so harten Sprüchen sein, und genau das bin ich ja gewesen, aber wenn mich diese zwei Männekens zusammengeschlagen hätten, dann hätten alle gedacht, hätt er mal besser nicht geraucht und gesoffen, wär er mal besser schon als Kind zum Boxen gegangen, und wenn ich 'ne Tusse wäre, dann hätt's geheißen, soll sich halt nicht im Minirock in irgendwelchen dunklen Hintergassen rumtreiben.«
Dann erzählte Pascha, wie er die Assis im Toreingang durchgewichst hatte und dabei keinerlei Freude empfand, sondern nur Bitterkeit und Enttäuschung über die triste Realität, und Petrow stellte sich unwillkürlich vor, wie im selben Moment aus himmlischer Höhe eine grelle Lichtsäule auf Pascha niederfuhr, durchwirkt von Schneeflocken oder Staub, je nachdem, zu welcher Jahreszeit Pascha mal wieder in seine übliche Leier verfiel.
Zwischen Petrow und dem jungen Mann auf der einen und der Bank mit den Trinkern auf der anderen Seite kamen auf kältesteifen Stiefelsohlen, die im harten Schneebrei knirschten, ein paar Schüler vorbei, Sechstklässler...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.