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Wir waren pünktlich. Überpünktlich. Um genau zu sein, waren wir fünf Minuten vor der Zeit.
»Ich hole mir ein Glas Milch«, sagte ich.
»Wir haben Krieg. Es gibt keine Milch«, entgegnete Mutter.
»Aber ich habe vorhin welche in der Küche gesehen.«
»Die ist für die Melange deines Vaters, nicht für dich.«
Tante Minna tätschelte mir die Hand. »Sei nicht traurig, Annerl, es kommen wieder bessere Zeiten.«
Sie war Mutters jüngere Schwester, gleichzeitig deren molligere und freundlichere Ausgabe. Nach meiner Geburt, vor mehr als zwanzig Jahren, war sie zu uns gezogen, um Mutter bei der Versorgung ihrer Kinder zu unterstützen, und geblieben. Ich lächelte ihr zu. Bessere Zeiten. Natürlich. Aber wann, und für wen?
Wir warteten auf Papa - Mutter, Tante Minna und ich, die verstaubten Reste unserer einst so vielköpfigen, lebhaften Familie -, so wie wir jeden Mittag auf ihn warteten: fünf Minuten vor der Zeit, damit das Essen um Punkt eins aufgetragen werden konnte. Auf keinen Fall durfte es zu einer Verzögerung kommen, durfte Papas Tagesablauf durcheinandergeraten. Er war heilig. Sein Tagesablauf. Und er selbst.
Als hätte er auf sein Stichwort gewartet, hörte ich, wie die Tür des Durchgangs zum Behandlungszimmer aufging, und im nächsten Moment erschien Papa im Türrahmen. Wohnung und Praxis lagen auf derselben Etage, aber genauso gut hätten es zwei verschiedene Planeten sein können. Stumm nahm Papa am Kopfende des Tisches Platz. Er öffnete die unteren Knöpfe der Weste, stützte den Ellenbogen ab und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.
»Wir freuen uns ebenfalls, dich zu sehen«, äußerte Mutter in ihrer unnachahmlichen Art. Irritiert hob Papa den Kopf, als bemerkte er erst jetzt unsere Anwesenheit.
»Ähem, gewiss«, sagte er.
Die Wohnung war mit wuchtigen dunklen Möbeln eingerichtet, dazu schwere Vorhänge und Stofftapeten, als hätte es die Wiener Werkstätte oder den Secessionsstil nie gegeben. Drüben, bei Papa, sah es nicht anders aus. Derselbe muffige Charme aus dem vorigen Jahrhundert. Solange ich mich erinnern konnte, hatte sich die Einrichtung in beiden Räumlichkeiten nicht verändert. Ebenso wenig wie Papa. Es war erstaunlich: Der Mann, der als der Arzt der Moderne galt, war gleichzeitig der unmodernste Mensch überhaupt.
Die Tür öffnete sich, und Fanni, unsere Haushälterin, trug den Hauptgang auf. Direkt. Keine Vorsuppe. Wir befanden uns im vierten Kriegsjahr. Mangels Einlage hätte die Suppe ohnehin nur aus heißem Wasser bestanden. So betrachtet, war es nicht von Nachteil, dass der Hausstand geschrumpft war. Es gab weniger hungrige Mäuler zu stopfen.
Mathilde und Sophie waren verheiratet. Lebten bei ihren Ehemännern, mit ihren Ehemännern und für ihre Ehemänner. Frauen tun so etwas. Mutter beispielsweise. Meine Brüder hingegen - Martin, Oliver und Ernst - befanden sich im Krieg. Blut statt Blutsbande. Furchterregend.
Auch wenn ich um alle gleichermaßen bangte, Ernsts Weggang hatte mich am meisten getroffen. Nicht nur altersmäßig stand er mir von den Brüdern am nächsten. Er war es, der darauf geachtet hatte, dass die jüngste Schwester mittun durfte, wenn die anderen im Park Verstecken spielten, wenn in der Sommerfrische eine Wanderung oder ein Tag am See geplant waren. »Das Annerl kommt mit, basta!«
Stundenlang lag er mit mir auf dem Parkett im Herrenzimmer, in dem Papa seine wöchentliche Tarockrunde empfing. Ich hatte nie gern mit Puppen gespielt, stattdessen errichteten wir aus Bauklötzen Türme von schwindelerregender Höhe, konstruierten Hausdächer in gewagten Winkeln und Schlösser, die sich nur ein Märchenprinz ausgedacht haben konnte. Es nahm kein Wunder, dass Ernst Architektur studierte, erst hier in Wien, später dann in München. Bis der Krieg kam.
Papa griff nach dem Besteck, wünschte allen ein »Wohl bekomm's« und führte den ersten Bissen zum Mund - er war angekommen. Auf ein Tischgebet oder einen Segensspruch wurde verzichtet. Papa bezeichnete sich gern als »gottlosen Juden«, und das einzige Gebot, an das er sich hielt, war, dass er sich an kein Gebot hielt. Gerade setzte er zu einer seiner Geschichten an - seiner bereits vielfach gehörten Geschichten.
»Heute Nacht habe ich von mir als Bub geträumt, außerdem von Mutter. Dass sie mich stets ihren >goldenen Sigi< genannt und anders als all meine Geschwister behandelt hat. Sogar die Mahlzeiten nahm ich abseits von ihnen ein. Allein, um Punkt eins, keine Minute früher, keine später.«
Ich blickte von Papa zu Mutter, dann zu Tante Minna und wieder zurück. Letztlich hatte sich nicht viel verändert. Weiter stand das Essen täglich um ein Uhr auf dem Tisch: pünktlich, keine Minute früher, keine später. Papa aß zwar nicht mehr allein, aber ich fragte mich, ob das einen Unterschied machte - oder bedurfte es zum Monologisieren eines Publikums?
»Zweifellos hegte Mutter die Hoffnung«, ein mildes Lächeln erhellte seine Züge, »ihr unbestrittener Liebling werde sich einmal einen Namen machen.«
Mutter und Tante Minna, neben ihm, kauten mit gleichmäßigen Bewegungen das zerfaserte Lauch- und Selleriegemüse, das in diesen Tagen fast täglich auf dem Speisezettel stand. Kauten, schluckten und schwiegen.
»Mutters Motive waren nicht gänzlich uneigennützig«, fuhr Papa fort, »unverschuldet war die Familie in finanzielle Nöte geraten, und mir oblag die ehrenvolle Aufgabe, sie aus dem gesellschaftlichen Abseits zurück ins Sonnenlicht gutbürgerlicher Anerkennung zu führen. Darum nahm man sehr viel Rücksicht auf mich. Sogar das Klavier deiner Tante Anna«, er nickte mir zu, seine nächstjüngere Schwester und ich trugen denselben Namen, »wurde aus der Wohnung entfernt, weil man der Meinung war, der Übungslärm könnte mich bei der Erledigung meiner schulischen Pflichten stören.«
»Setz dich gerade hin, Anna.« Mutters Stimme unterbrach Papas Ausführungen. »Ein krummer Rücken macht keinen hübscheren Menschen aus dir.«
Für einen Moment herrschte Stille. Nur das Ticken der Uhr auf dem Vertiko war zu hören. Zweifelsohne war ich nicht ihr »goldenes Annerl«. War es nie gewesen und würde es niemals sein. Nach mir war Mutter nicht mehr schwanger geworden. Ich war naiv genug gewesen, sie danach zu fragen. Sie hatte das Handtuch, das sie gerade faltete, zur Seite gelegt und mich direkt angeblickt. »Irgendwer kommt immer zu spät«, hatte sie gesagt. Nein, Mutter wollte schon vor mir nicht mehr schwanger werden.
Ich fragte mich, ob ich es besser oder weniger gut als Papa angetroffen hatte. Er war der König, von klein auf. Falls ich je Prinzessin werden wollte, müsste ich es aus eigener Kraft schaffen, meinen eigenen Weg gehen - ich zuckte mit den Schultern -, wie immer der aussehen mochte.
»Herrje, der sieht ja zum Fürchten aus!« Fanni war hereingekommen, um den Hauptgang ab- und die Nachspeise, Tante Minnas legendäre Topfenknödel, aufzutragen. Das Esszimmer ging nach vorn, zur Berggasse, hinaus, und sie hatte einen Blick aus dem Fenster geworfen.
»Wer?«, fragten Mutter und Tante Minna unisono. Alles, was das Haus, die Wohnung, die Nachbarn und den Haushalt anging, fiel in ihren Bereich.
»Der komische Kerl, drüben, auf der anderen Straßenseite. Es schaut aus, als würd' er Löcher in die Luft starren.«
Papa runzelte die Stirn. Der Dienstbotenklatsch interessierte ihn nicht. Das Mittagsmahl mit uns drei Frauen auch nur bedingt. Ich wusste, er sehnte sich nach der nachmittäglichen Zigarre und seinem Arbeitszimmer - nach seinem Bereich -, bevor er sich zu seinem täglichen Spaziergang aufmachte. Um Punkt drei säße er wieder im Behandlungszimmer, um mit dem nächsten Patienten zu sprechen: keine Minute früher, keine später. Als Mutter und Tante Minna die Stühle zurückschoben und ans Fenster traten, nutzte er die Gelegenheit, murmelte »Ihr entschuldigt mich« und verschwand.
»Den hab' ich noch nie gesehen«, sagte Tante Minna. Auch Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, der wär' mir aufgefallen, mit dieser seltsamen schwarzen Brille.«
Ich merkte auf. Niemand trug im Winter eine schwarze Brille - die Zeiten waren ohnehin düster genug -, es sei denn, er litt unter einer Augenerkrankung. Ich stand auf und stellte mich ebenfalls ans Fenster. Die Fensterbank, zwischen innerer und äußerer Scheibe, war mit Kissen ausgestopft gegen den eisigen Wind.
Unten, auf der gegenüberliegenden...
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