Schweitzer Fachinformationen
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Mr Steinberg war jung, unverbraucht und eine echte Augenweide. Wir alle waren schlicht und ergreifend hingerissen von ihm. An seinem ersten Tag an der Schule hatte er vor Zimmer 8 gestanden und seine schwarze Aktentasche mit beiden Händen wie einen Schild vor seinen Körper gehalten.
»Hi«, sagte er. Und allein anhand dieses Wortes wussten wir, dass er anders war. Es fühlte sich an, als würde plötzlich ein Hauch von der Welt da draußen zu uns hereinwehen.
Alles an ihm gehörte nicht hierher: seine makellosen Zähne, die moderne Brille mit den runden Gläsern, sein Lächeln, der Kugelschreiber, der aus seiner Hemdtasche ragte, der Ring an seinem Mittelfinger, das »Hi«. Ganz klar: Er wusste nicht, dass Kugelschreiber, Schmuck und lässige Anreden bei uns nicht erlaubt waren. Als ihn eine von uns nach seinem Alter fragte, errötete er und fuhr sich verlegen durch sein dunkles, gewelltes Haar. »Zweiundzwanzig«, antwortete er. Na ja, in Wahrheit sagte er »Zwei'n'zwanzig«. Das Tollste an Mr Steinberg war nämlich, dass er Amerikaner war. Ich hatte noch nie einen Amerikaner kennengelernt, wusste allerdings, dass die meisten Dinge, die Amerikaner taten, verboten waren.
Ich fragte mich, was ihn hierher verschlagen hatte, über den großen Teich. Wahrscheinlich hatten sie ihm erzählt, er könne die Welt retten oder so; dass wir Kinder und die neue Schule die Zukunft seien und eines Tages die frohe Botschaft in die Welt hinaustragen würden. Die übrigens »Om« lautete. Und ich hatte keineswegs vor, sie zu verbreiten, sondern war fest entschlossen, den Mund zu halten. Schließlich erregten wir ohnehin schon genug ungewollte Aufmerksamkeit.
Mr Steinberg war gekommen, um Altgriechisch zu unterrichten, was für uns eine moderne Sprache war, da wir bisher nur Sanskrit gelernt hatten, die älteste Sprache der Welt. Ich stellte mir vor, dass so wahrscheinlich die Höhlenmenschen gesprochen hatten: Bahbah dahdah gahgah, so hörte es sich jedenfalls an, irgendwie brabbelig und primitiv. Vor Tausenden von Jahren hatten die Sanskritmenschen die Veden geschrieben, das erste Gesetzesbuch der Menschheit überhaupt, und Miss Fowler hatte uns erzählt, dass das Sanskrit-Alphabet alle Geheimnisse des Universums enthielt. Was wohl auch der Grund war, warum wir es endlos wiederholen mussten, als würden sich uns besagte Geheimnisse dadurch irgendwann erschließen. Dabei waren wir es so leid, dass Altgriechisch nach einer angenehmen Abwechslung klang.
Am liebsten hätten wir Mr Steinberg den ganzen Tag zugehört. Wir hingen geradezu an seinen Lippen. Wir mussten die ersten drei Verse der Odyssee auswendig aufsagen, und, Herrgott, wie laut wir sie aufsagten. Dabei imitierten wir seinen Akzent. Am Anfang bemerkte er es nicht, doch als es ihm schließlich auffiel, lachte er so sehr, dass er die Brille abnehmen und sich die Tränen aus den Augen wischen musste. Und für uns war es das Größte, ihm dabei zusehen zu dürfen.
Jede von uns hätte ihn sofort geheiratet. Wir waren alle verliebt in ihn - und dementsprechend gut in Griechisch. Selbst diejenigen, die sonst ein bisschen schwer von Begriff waren, strengten sich an. Für mich aber war Griechisch mehr als ein Schulfach. Ich war nicht nur gut darin, sondern die Beste. Und ich musste mich nicht einmal anstrengen, sondern konnte mir alles merken, als hätte ich es längst gewusst.
Daher war es ausgesprochen peinlich, dass ich im Schrank am anderen Ende des Klassenzimmers steckte, als Mr Steinberg mit der Griechischstunde begann. Ich hatte mich vor Miss Fowler versteckt, war aber nicht rechtzeitig herausgekommen, und nun war es zu spät: Sie hatten bereits mit der Prozedur begonnen, saßen mit fest geschlossenen Augen, gerecktem Kinn und im Schoß ruhenden Händen da - die Handflächen wie gewölbte Blätter nach oben gerichtet -, während sie sich darauf konzentrierten, den Kopf freizubekommen und sich für neuen Unterrichtsstoff zu öffnen.
Vorsichtig zog ich die Schranktür vollends zu und fand mich mit der Tatsache ab, den Rest der Stunde in meinem Versteck zubringen zu müssen.
»Om paramatmanaynama attah.« Wie aus einem Munde murmelten sie das Gebet vom Ursprung allen Seins.
Eine Weile lauschte ich im Dunkeln, wie Mr Steinberg die korrigierten Hausarbeiten austeilte, und kratzte den Lack von der Innenseite der Schranktür ab, während ich mich immer noch über mich selbst ärgerte.
»Wo ist Caroline?«, hörte ich ihn fragen und hielt inne. Es war schön, meinen Namen aus seinem Mund zu hören. Er hatte also bemerkt, dass ich nicht da war.
»Sie ist krank«, antwortete Megan.
Meine Lage war ziemlich beengt. In dem Schrank war gerade einmal Platz für zwei Menschen, auch wenn wir uns vor einiger Zeit zu sechst hineingequetscht hatten, alle übereinander, wie Smarties im Röhrchen.
Ich ertastete ein paar Pullover und beschloss, mir ein kleines Lager einzurichten. Ich ließ mich nieder und lehnte mich zurück. Offenbar hing Kates Blazer hinter mir, da mir plötzlich ihr Geruch in die Nase stieg. So hatte sie schon immer gerochen - leicht muffig und nach Mottenkugeln. Ich drehte mich zur anderen Seite und sog den Geruch einer Baumwollbluse ein. Teig und Milch. Meine leichteste Übung: Megan. Ich ging die Reihe durch. Birnenseife, das war Jane. Ich zog einen über mir hängenden Pullover näher heran und hielt ihn an meine Nase. Er roch nach Gras und leicht nach Urin; ja, er gehörte zweifellos Anna.
Wann immer meine Eltern auf Exerzitien waren, versuchte ich, die Woche bei so vielen Klassenkameraden zu verbringen, wie ich nur konnte, um zu sehen, wie sie lebten. Auf diese Weise lernte ich fast alle Familien kennen, auch wenn sich unsere Häuser kaum voneinander unterschieden: sie waren spartanisch eingerichtet, funktional und unserer Sache geweiht. Jedenfalls bemerkte ich, dass jede Familie einen eigenen Geruch hatte. Sobald man das Haus von Anna und ihren Eltern betrat, stieg einem unweigerlich ein Hauch von Urin in die Nase. Ich fragte mich, welcher Geruch von meiner Familie ausging. Probeweise schnupperte ich an meinem Knie - Chlor aus dem Schwimmbad. Ich leckte daran und schnupperte abermals. Roch ziemlich gut, fand ich.
Ich erinnerte mich, wie ich Miss Fowler früher - ich war etwa fünf gewesen, und wir hatten uns noch nicht aus tiefster Seele gehasst - mittags immer gebeten hatte, mir mein Butterbrot zu schmieren. Sie war stets um die auf Böcken ruhende Tischplatte herumgekommen, hatte ihre Arme über meine gelegt und Butter auf mein Brot gestrichen. Natürlich hätte ich es auch selbst machen können, aber ihre Hände rochen nach Dettol, was ich absolut unwiderstehlich fand. Inzwischen empfand ich den Gestank des Desinfektionsmittels allerdings als unerträglich.
Als ich es leid war, an fremder Kleidung zu riechen, ließ ich mich zurücksinken und wartete, während Mr Steinberg Vokabeln abfragte. In Gedanken machte ich mit, fast ohne zu schummeln. Neunzehn Richtige von zwanzig.
Manchmal, wenn wir besonders gut waren, trat Mr Steinberg vor seinen Tisch, rieb sich die Hände, lächelte verschmitzt und setzte sich auf die Tischkante. »Na, wollt ihr die Geschichte von Medea hören?«, fragte er dann, oder: »Wer kennt die Geschichte von Theseus und dem Minotaurus?« Oder: »Habe ich euch schon mal von Ödipus erzählt?« Dann schlugen wir unsere Bücher zu, rutschten aufgeregt auf unseren Stühlen herum und hingen an seinen Lippen. Es waren Geschichten voller Blut, Mord, Inzest, Sex und Tod, denen wir mit offenen Mündern lauschten. Keine von uns erzählte zu Hause etwas davon. Diese Geschichten waren unser Geheimnis. Mr Steinberg hatte offenbar keine Ahnung, wie die Organisation funktionierte. Und wir würden ihn ganz bestimmt nicht darüber aufklären.
Als ich hörte, wie meine Klassenkameradinnen aufgeregt miteinander tuschelten, wusste ich genau, was los war. Es war nicht fair, hier in diesem Schrank eingesperrt zu sein - ausgerechnet an einem Tag, an dem Mr Steinberg eine Geschichte erzählte! Oh, wie ich mir wünschte, dabei sein zu können. Eilig setzte ich mich auf und öffnete die Tür einen Spaltbreit, um einen Blick auf ihn erhaschen zu können. Man musste ihm zusehen, wenn er seine Geschichten zum Besten gab.
Und da war er in all seiner lässigen Eleganz. Er trug seinen grauen Anzug und ein blaues Hemd. Er schob sich die Brille hoch, wie immer, wenn er aufgeregt war.
»Wer kennt die Geschichte von Orestes?«
»Ich nicht!«
»Ich auch nicht!«
Ich hörte, wie die anderen ihre Bücher zuschlugen.
»Ich auch nicht«, murmelte ich in meinem Versteck, öffnete die Tür noch ein bisschen weiter und wandte den Kopf, um ihn besser hören zu können. Anfangs flüsterte er beinahe, so dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen.
»Orestes - der Name bedeutet übrigens so viel wie >Bergsteiger< oder >Er, der Berge überwinden kann< - war der Sohn von Klytämnestra und Agamemnon. Er hatte einen Bruder und zwei Schwestern, Iphigenie und Elektra.«
Ich sah, wie Kate nervös mit den Knien wackelte.
»Also, als Orestes in eurem Alter war, etwa zwölf oder dreizehn, zog Agamemnon in den Krieg gegen die Trojaner. Um sich den Sieg zu sichern, opferte er seine Tochter Iphigenie der Göttin Artemis. Wovon seine Frau bestimmt alles andere als begeistert war. Aber schöne Frauen ziehen nun mal von Natur aus eine Menge Aufmerksamkeit auf sich .«
O Gott, wie inbrünstig ich hoffte, dass ich eine schöne Frau war.
»Jedenfalls vermute ich, dass...
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