Schweitzer Fachinformationen
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Hinterberg hat 365 Einwohner: Einen für jeden Tag im Jahr. Das hat Lotti immer gesagt, aber ich glaube, mittlerweile sind es einige mehr. Denn in den letzten Jahren sind an den Rändern des Dorfs neue Häuser aus den Wiesen gewachsen, wie überall in der Region. Bei uns geht es allerdings ein wenig langsamer vonstatten als in Dörfern, die näher an den grossen Verkehrsachsen und an der Stadt liegen.
So ein gewisses Hin und Her gibt es immer, auch in einem so kleinen Dorf wie dem meinen, wo sich die meisten Leute kennen. Obwohl Hinterberg mittlerweile mindestens 380 Einwohner zählt - das sind quasi zwei Wochen mehr als ein Jahr -, hat alles nichts genützt. Heute ist der letzte Tag im Leben unseres Dorfladens, und ich bin untröstlich.
Mit einem Herzen, das schwer ist wie ein ausgewachsener Blauwal, sitze ich vor dem alten Veloständer mit der Glacéreklame und warte. Die sich automatisch öffnende Schiebetür, die die Menschen in den Laden lässt und sie wieder ausspuckt, bildet leider die Schwelle zu einer No-go-Area für mich. Meine Ohren hängen so tief, als würden sie von der Erde magnetisch angezogen, und doch können sie meine Stimmungslage nicht adäquat wiedergeben. Sonst müssten sie förmlich am Boden kleben.
Wieder bewegt sich die Glastür geräuschvoll zur Seite, und Conny, die Wirtin des Gasthofs Hirschen, kommt heraus. »Na, Vasco, wartest du auf dein Wursträdchen?«
Ich wedle und schaue sie treuherzig an. Sehr treuherzig. Denn so schwer mein Herz auch ist, das Stichwort »Wursträdchen« lässt Hoffnung in mir aufkeimen, und unmittelbar läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Ich muss aufpassen, dass ich nicht sabbere - das finden die meisten Menschen nämlich eklig, und eklige Hunde werden weniger gern gefüttert als niedliche.
Leider scheine ich Conny falsch verstanden zu haben. Sie fragt mich zwar, ob ich auf ein Wursträdchen warte, hat aber offenbar nicht die geringste Absicht, mir an Silvias Fleischtheke im Ladeninnern eins zu beschaffen. Sie streicht mir über mein leicht struppiges schwarzes Fell, das mit weissen Spritzern übersät ist, als wäre ich als kleiner Welpe mal in einen Gipsregen geraten. Stimmt im Fall nicht: Diese Flecken sind echt, und als Welpe kam ich vor bald acht Jahren aus Spanien nach Hinterberg und ein paar Wochen später zu Lotti auf den Hof. Seither ist Lotti meine Chefin und der Rüttigrund meine Heimat.
Durch die grosse Frontscheibe kann ich die Regale sehen und beobachten, wie die Bewohner von Hinterberg mit Silvia anstossen. Die sind ja nicht ganz bei Trost: feiern das Ende ihres Dorfladens, als wäre das nicht die absolute Katastrophe! Ist es aber! Zwar rentierte er schon lange nicht mehr, habe ich von den Menschen aufgeschnappt, da von den 380 Einwohnern nur wenige ihre Einkäufe hier tätigten. Viele fahren lieber mit dem Auto zu den grossen Discountern unten im Tal, die zahlreiche Aktionen und noch grössere Parkplätze haben. Silvia hat den kleinen Laden während der letzten Jahre mehr als Hobby betrieben. Doch nun hat sie eine Stelle in irgend so einem Bioladen in der nächstgrösseren Zentrumsgemeinde angenommen. Vielleicht stossen die Leute mit Silvia auch darauf an, ich weiss es nicht.
Dass ich von allen Festlichkeiten im Laden, warum sie auch immer stattfinden, ausgeschlossen bin, macht mich noch missmutiger. Nicht einmal die Brösmeli unter den runden Bartischchen, die Silvia aufgestellt und mit Apérohäppchen bestückt hat, kann ich wegputzen. Befinden sich alle in der verbotenen Zone. Und das Schlimmste von allem: Auch Lotti hält sich drinnen auf und scheint sich ohne mich bestens zu amüsieren. Durchs Schaufenster kann ich ihre grauen halblangen Locken erkennen, die immer mal wieder hinter dem breiten Rücken vom Frank, dem Vize-Gemeindepräsidenten, hervorwippen. Sie steht mit drei anderen Frauen am Tischli und beigt Salzstangen in sich rein. An mich denkt niemand.
Ich beschliesse, diesem Trauerspiel nicht mehr länger beizuwohnen. Wenn Melancholie und Hunger aufeinandertreffen, ist es höchste Zeit, auf andere Gedanken zu kommen, sonst bricht sich der ultimative Weltschmerz Bahn. Also verlasse ich meinen Posten und das Dorf, wo mich ja eh keiner vermisst, und trabe nach Hause. Ich weiss, dass Lotti es nicht mag, wenn ich allein im »Zeugs rumstriele«, wie sie sagt, aber ich geh ja nur schon mal vor, um nach dem Rechten zu sehen. Und sie kann echt nicht erwarten, dass ich draussen vor dem Dorfladen sitze und zuschaue, wie die Menschen feiern, wenn alles den Bach runtergeht!
Auf dem Nachhauseweg werde ich zwischen dem Dorfrand und unserem Bauernhof, der etwa fünf oder zehn Rennminuten (kommt auf die Dringlichkeit an) von Hinterberg entfernt liegt, abgelenkt. Das kann manchmal passieren. Diesmal ist es die Fährte eines Rehs. Wahrscheinlich tauscht das Tier gerade seinen eher grauen Winterpelz gegen rehbraunes Sommerfell ein. Es hat sich nämlich am grossen Haselstrauch an einer Hecke in der Nähe gescheuert und viele Haare gelassen. Das riecht umwerfend abenteuerlich. Ich weiss zwar, dass ich Rehen nicht nachstellen darf, und wenn einer der Jäger mich erwischt, werde ich zu einer Leinenhaftstrafe verurteilt. Aber ich muss dabei ja nicht ertappt werden. Und diese Fährte ist einfach zu spannend. Also hopp, Schnauze runter, und los geht es!
Bevor ich es merke, schnüffle ich am Waldrand, einige Hundert Meter oberhalb des Rüttigrunds, wo ich gemeinsam mit Lotti und ihrem Mann Ruedi wohne. Ich liebe den Wald und trabe weiter. Hier stehen ziemlich alte Buchen, zwischen deren Wurzeln sich immer wieder Höhlen von Mäusen, Füchsen und Dachsen finden. Weiter oben wird's steil und schattig. Dort wächst Farn zwischen den Felsen, und die länglichen knallgrünen Blätter der Hirschzunge wedeln im Wind. Da die Menschen nicht immer sehr fantasievoll sind, nennen sie diesen Hang Schattholde. Neben Farn und Hirschzunge gedeihen ganze Felder von Bärlauch, der jetzt, am letzten Tag des Monats April, hochgeschossen ist und bereits seine feinen weissen Blüten gen Himmel streckt. Mit seinem penetranten Duft übertüncht er alles.
Ansonsten riecht es feucht, nach Regen, nach Blättern und den Tieren, die hier wohnen. Doch die Rehfährte habe ich verloren - vielleicht bin ich einfach zu wenig bei der Sache gewesen. Dafür höre ich komische Geräusche drüben am Hang. Klingt, als würden Leute da rumstiefeln und sich leise unterhalten. Das ist echt eigenartig, weil in der näheren Umgebung kein Wanderpfad ausgewiesen ist und sich eigentlich niemand hierher verirrt. Es führt nur ein einzelner Holzweg den Hang hinauf, der sich allerdings - wie es Holzwege so an sich haben - verliert. Wenn ich ehrlich bin: Ich habe überhaupt noch nie eine Menschenseele an diesem Ort gesehen. Ausser Ruedi. Mit dem gehe ich manchmal auf die Suche nach Versteinerungen; Tintenfische, Muscheln und andere solche Dinger, die ansonsten im Oberbaselbiet nicht existieren, eben nur in Form von Steinen. Die sind dann etliche Millionen Jahre alt und leben deshalb nicht mehr.
Aber ich täusche mich nicht: Jenseits des grünen Meers aus Bärlauch müssen sich Menschen am Hang aufhalten. Sehen kann ich sie nicht, weil sie sich offenbar oben, an einer dichten Stelle, befinden, aber ihre Geräusche und Gerüche nehme ich wahr. Es müssen zwei Männer sein. Was eigenartig ist: Sie sind ohne Hund unterwegs. Das rieche ich, und das macht sie irgendwie verdächtig. Menschen gehen nämlich äusserst selten ohne Hund in den Wald. Wäre ich nicht so traurig und antriebslos, würde ich nachschauen gehen. Ich tue es allerdings nicht.
Ein Entscheid, den ich später bereuen werde.
*
Sie hätte nicht so viel trinken sollen. Lotti Niederberger versuchte, den pochenden Schmerz zu ignorieren, der gegen ihre Schädeldecke klopfte und sie am Schlafen hinderte. Entgegen ihrer Gewohnheit war Lotti überaus lange beim Abschlussfest des Dorfladens geblieben. Eigentlich hatte sie nur kurz vorbeischauen wollen, doch dann war es gemütlich gewesen, man war ins Reden gekommen, und irgendwann hatte Silvia verkündet, dass der Wein noch gemeinsam leer getrunken werden müsse. Der ganze Vorrat - und das war recht viel gewesen. Ausser Kirschlikör aus eigener Produktion und hin und wieder einem Gläschen Williams trank Lotti kaum etwas. Wein konsumierte sie nur selten, und Bier mochte sie grundsätzlich nicht. Vielleicht kam das daher, dass sie in einer Zeit aufgewachsen war, in der Frauen sehr selten überhaupt Bier getrunken hatten.
Nun würde sie wohl am nächsten Tag einen tierischen Kater haben. Und das mit 67 Jahren! Ruedi hatte zuerst verwundert geguckt, als sie deutlich beschwipst und mit unverkennbarem Mundgeruch nach Hause gekommen war. Mit ihrem alten, knatternden Töffli hatte sie sogar noch eine Ehrenrunde auf dem Hofplatz gedreht, weil es gerade so Spass machte, und sich dann überschwänglich von ihrem Hund Vasco begrüssen und abschlabbern lassen. Als sie später über Kopfweh zu klagen begann, hatte Ruedi sie laut ausgelacht. Das wiederum war entgegen seiner Gewohnheit. Vielleicht hatte er gedacht, wenn sie sich schon aus der Reihe tanzte, konnte er es ebenso.
Jetzt schlief ihr Mann friedlich im Bett neben ihr. Lotti sah nur seine kurzen weissen Haare unter der Bettdecke hervorlugen. Seine tiefen Atemzüge wirkten beruhigend. Vasco, der in seinem Körbchen im Gang lag, schnarchte hin und wieder. Vorsichtig stand Lotti auf und verliess auf Zehenspitzen das Schlafzimmer. Als sie an ihrem Hund vorbeischlich, sah dieser kurz auf und drehte sich dann wohlig auf den Rücken, alle viere von sich streckend. Sie mochte ihm allerdings gerade nicht den pelzigen Bauch streicheln, auch wenn die Einladung dazu...
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