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1953 -1975 Manyo Akakuchiba
Im Sommer, als Manyo Akakuchiba zehn Jahre alt war, sah sie einen Mann hoch am Himmel fliegen. Manyo war meine Großmutter, und da sie damals, bevor sie in die alte Familie Akakuchiba, den Geldadel der Region San'in einheiratete, noch ein einfaches Mädchen vom Lande war, hatte sie keinen Nachnamen. Im Ort rief man sie nur »Manyo«.
Meine Großmutter hatte seltsame Dinge gesehen, seit sie denken konnte. Sie war eine große, kräftig gebaute Frau mit Haaren so schwarz wie nasse Krähenflügel, die ihr bis zur Taille reichten - obwohl ihr Haar später, wie zu erwarten war, schneeweiß wurde. Hin und wieder machte sie ihre großen Augen ganz schmal und starrte hinauf zu den fernen Berggipfeln. Sie hatte sehr gute Augen; und sie sah Dinge, die für das Auge unsichtbar sind. Die Geschichte, wie es dazu kam, dass sie die hellsichtige Herrin des Hauses Akakuchiba genannt wurde, liegt noch vor uns - ich will hier zunächst von der Kindheit meiner Großmutter erzählen. Doch schon als sie noch ganz klein war, wurde deutlich, dass sie manchmal in die Zukunft blicken konnte.
Ab und zu zeigte sich das als Voraussage, die sich durch eine spontane Neuordnung der kunstvoll gemalten, tintenschwarzen Buchstaben auf einer Schriftrolle in einem traditionellen Wohnzimmer ergab; dann wieder erschien ein Toter in einem Zimmer und wies ihr die Zukunft; und ein anderes Mal sah sie sie als ein Bild, dessen Bedeutung sie nicht verstand. Aber eigentlich erwähnte Manyo dies nicht gegenüber den Leuten im Ort. Für sie war sie nur das fremde »Ausländerkind«, was in meiner Großmutter gleichzeitig Stolz und Sorge weckte, weil sie anders war als andere. In diesem 28. Sommer der Showazeit - 1953 nach dem westlichen Kalender - war Manyo wohl etwa zehn Jahre alt. Das ist nur geschätzt, denn niemand im Ort wusste ihr genaues Alter, nicht mal Manyo selbst. Eines Tages war sie einfach in einer abgeschiedenen Region Japans erschienen, die man San'in nennt und die aus einem schmalen Streifen Land zwischen der schwarzen Gebirgskette der Chugoku-Berge und der grauen Fläche des Japanischen Meers besteht, wo immer schlechtes Wetter herrscht. Es war, als wäre sie irgendwo aus den Tiefen der Berge aufgetaucht. Manyo erinnerte sich nicht mehr daran, aber die Ausländer hatten sie einfach im Ort gelassen, als sie ungefähr drei Jahre alt war.
Beim Schreiben dieser Geschichte habe ich mich für den Namen »Ausländer« entschieden. Die Menschen der Region San'in hatten sehr lange Zeit versteckt in den Bergen gelebt, und im Gegensatz zu uns Ortsansässigen bekamen diese Nomaden keinen festen Namen, sondern wurden nur »sie«, »die da« oder auch »die Bergmenschen« genannt. In neuerer Zeit haben Völkerkundler ihnen offenbar Bezeichnungen wie »Sanka«, »Nobuse« und »Sangai« gegeben, aber im Ort Benimidori im Westen der Präfektur Tottori wurden sie nie benutzt.
Wahrscheinlich Hunderte von Jahren oder noch viel, viel länger haben Menschen tief verborgen in den Bergen gelebt: Der Wind ließ ihre langen, pechschwarzen Haare wie eine Fahne hinter ihnen wehen, ihre Haut war so dunkel wie Leder, sie waren kräftig gebaut und blieben niemals lange an einem Ort, sondern streiften frei durch die Berge, so wie die Jahreszeit es erlaubte. Es gab keine jährlichen Tribute, keine Versammlungen und keine der neumodischen Steuern, aber da sie auch keinen Staat hatten, mussten sie auf sich selbst aufpassen.
Allerdings hat niemand in Benimidori, Tottori oder dem entfernteren Izumo in den letzten fünfzig Jahren auch nur eine Spur von ihnen gesehen, daher weiß ich nicht, ob sie immer noch in den Chugoku-Bergen leben. Die kleine Manyo jedenfalls kam vor etwa fünfundsechzig Jahren mit Erwachsenen des Stammes hinunter nach Benimidori, mit der letzten Generation, die noch den Ort besuchte, und wurde aus unerfindlichen Gründen allein zwischen den Häusern zurückgelassen, als die Erwachsenen wieder in die Berge aufbrachen.
Da die meisten, die sich noch an diese Zeit erinnern, bereits unter den Toten weilen, kenne ich keine Einzelheiten, aber während der letzten hundert Jahre dieser Zeit kamen die Ausländer, wann immer sie gebraucht wurden, schnell wie ein schwarzer Wind aus den Bergen und halfen. Bei den wichtigen zeremoniellen Anlässen - Hochzeiten und Totenwachen, Festen und Übergangsriten - wurden sie speziell für die Beerdigungen gebraucht.
Wenn ein junger Mensch durch einen Unfall starb, verbrannten die Dorfbewohner ein Büschel ganz bestimmter Gräser und ließen dadurch purpurfarbenen Rauch aufsteigen. In der nächsten Nacht erschienen dann die Ausländer und bereiteten alles für die Bestattung vor. Sie schlugen Holz, um eine Kiste zu bauen, und bei Morgengrauen brachen sie der steifen Leiche die Oberschenkel- und Schienbeinknochen und zwängten sie in die würfelförmige Kiste. Danach nahmen sie die Kiste immer mit und warfen sie in eine tiefe Bergschlucht, während sie eine Beschwörungsformel sangen. Wenn die Ausländer kamen, warteten die Dorfbewohner einfach, bis sie mit dem jungen Toten wieder in den Bergen verschwanden. Nicht einmal der oberste Geistliche im Tempel konnte eingreifen.
Daher muss an diesem Morgen vor etwa fünfundsechzig Jahren, als Manyo zurückgelassen wurde, ein Mensch jung gestorben sein. Selbst heute weiß ich noch nicht genau, ob das Brechen der Beine und Verstauen in der Kiste verhindern sollte, dass die Leiche sich verwandelt und entflieht, oder ob die würfelförmige Kiste eine geheimnisvolle Bedeutung hatte. Aber diese Frage können wir den Volkskundlern überlassen. »Sie« jedenfalls verschwanden mit dem Toten in der Kiste und ließen ein kleines Mädchen zurück - Großmutter, dunkel, kräftig, lange schwarze Haare, typisch Ausländer -, pflanzten es einfach wie eine Puppe vor einem Haus auf den Boden und lehnten es an den Brunnen, dessen Eimer von den rosa Ranken einer Prachtwinde geschmückt war.
»Man hat mich wohl vergessen«, seufzte Großmutter etwa fünfundsechzig Jahre später, kurz vor ihrem Tod.
»Aber sie können dich doch nicht einfach vergessen und zurückgelassen haben.«
»Dann frage ich mich, wieso sie es trotzdem getan haben.«
Darauf weiß niemand die Antwort, bis heute nicht. Doch genau so geschah es, dass die kleine Manyo zwischen den Kindern des Ortes Benimidori aufwuchs.
Das junge Pärchen, das drei Häuser entfernt von dem blumengeschmückten Brunnen wohnte, nahm Manyo bei sich auf. Zwar war das Mädchen etwas seltsam und sah ein kleines bisschen anders aus als wir, aber das junge Pärchen achtete darauf, es genauso aufzuziehen wie alle anderen.
Wir Einwohner der Region San'in sahen von Benimidori bis nach Izumo alle gleich aus: hellhäutig, zartknochig, dünn. Unser ovales Gesicht mit den schmalen Augen wirkte, freundlich ausgedrückt, kaiserlich oder, unfreundlich ausgedrückt, wie ein verkümmerter, unreifer Flaschenkürbis. Es gibt eine Theorie, nach der die Einwohner dieser Gegend in der Yayoi-Zeit von der Koreanischen Halbinsel kamen und den Japanern die Kunst der Tatara-Eisengewinnung beibrachten, daher sehen wir so aus.
Im Gegensatz dazu waren die Ausländer, die Manyo zurückgelassen hatten und wieder in den Bergen verschwunden waren, dunkelhäutig und starkknochig. Manyo wirkte im Ort und in der nächsten Stadt fehl am Platz, doch das junge Pärchen kümmerte sich manchmal liebevoll, manchmal streng um das fremde Kind. Sie wurde auch zur Schule geschickt, kam aber aus irgendeinem Grund nicht mit Buchstaben und Zahlen zurecht. »Ich kann nicht lesen«, »Ich kann nicht schreiben«, sagte sie; all ihre Bemühungen waren vergeblich.
Stattdessen äußerte sie hin und wieder seltsame Voraussagen. Zu der Zeit war die Nationale Polizeireserve (die später als Nationale Sicherheitskräfte bekannt und nach dem Krieg von MacArthur ins Leben gerufen wurden) in Izumo stationiert, in der Präfektur Shimane, und jedes Mitglied trug dank des amerikanischen Militärs einen Karabiner bei sich. Die Streitkräfte bestanden im Wesentlichen aus den jungen Männern dieser Generation, die in der Gegend und auch weiter weg geboren und nicht in den Krieg eingezogen worden waren. Natürlich fanden die Dorfbewohner den Karabiner, eine merkwürdige Waffe, aus der Feuer schoss, furchterregend. Selbst heute noch hat die ländliche Kultur aus der Edo-Zeit im Ort Bestand. Wenn jemand eine Straftat begeht, versammeln sich alle am Haus des Dorfvorstehers, fangen den Straftäter mit Speeren und Netzen und übergeben ihn den Behörden.
Als damals die jungen Männer in ihren kakifarbenen Uniformen mit den Karabinern in der Hand ins Dorf stolziert kamen, zeigte die kleine, dunkelhäutige Analphabetin namens Manyo auf einen von ihnen und sagte: »Feuerblitz, Platzen.«
Das junge Pärchen dachte sich erst mal nichts dabei, doch als sie hörten, dass in derselben Nacht einem Soldaten der Nationalen Sicherheitskräfte das Gewehr explodiert war und ihn getötet hatte, wiegten sie nachdenklich den Kopf. Aber auf ihre Nachfrage antwortete Manyo nur: »Feuerblitz, Platzen. Ich hab's gesehen.« Das war Kindergeplapper, daher taten die beiden es einfach ab, ohne zu merken, dass Manyo manchmal unerklärlicherweise die Zukunft vorhersehen konnte. Vielleicht war das der wahre Grund, warum die Ausländer sie an jenem Morgen am Brunnen zurückgelassen hatten.
Hin und wieder sah Manyo also die Zukunft. Offenbar geschah dies vor allem, wenn sie sich in einer gewissen Höhe befand. Sie hatte die Explosion des Gewehrs gesehen, als der Mann des jungen Pärchens sie auf seinen Schultern hatte reiten lassen. Und wann immer sie den Berg hinaufgingen oder auf die Anhöhe...
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