Schweitzer Fachinformationen
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Emmy tanzte. Die Musik aus dem in die Jahre gekommenen Gettoblaster schepperte erbärmlich, aber das störte die junge Frau nicht. Unablässig hämmerten die elektronischen Beats durch den leeren Kantinenraum, der einstmals zu einem Betriebsferienheim gehört hatte und jetzt kaum mehr als eine marode Halle war. Die milchigen Fensterscheiben hatten den langen Leerstand auf wundersame Weise überstanden, aber bis auf ein paar verwaiste Stühle erinnerte nichts mehr daran, dass hier in früheren Zeiten bunte Urlauberscharen zum täglichen Wettrennen um die besten Plätze angetreten waren.
Emmy tanzte allein, und sie tat es voller Hingabe. Die Augen geschlossen, ließ sie sich vom Rhythmus treiben. Ihr schlanker Körper zuckte im Takt, und das blonde Lockenhaar flog wild um ihren Kopf. Es war ihr tägliches Ritual, mit dem sie Triumphe feierte oder Rückschläge vergaß. Im Moment waren die Triumphe selten.
Zusammen mit ihrem Freund Dominic hatte Emmy, die eigentlich Emilia Weick hieß, das ehemalige Ferienheim in einem malerischen Tal des Thüringer Waldes gekauft und damit begonnen, es zu einem Pferdehof umzubauen. Reiten war ihre gemeinsame Leidenschaft, und sie liebten die Tiere und die Ausritte durch die wilde Forstlandschaft. Das Paar hatte immer davon geträumt, ihr Hobby zum Beruf zu machen und dabei von dem boomenden Naturtourismus zu profitieren, von dem alle Welt sprach. Doch in ihrer Begeisterung für die Idee war ihnen entgangen, dass nicht hinter jeder Dornenhecke ein Dornröschenschloss wartete. Bald nach dem Kauf hatte sich herausgestellt, dass sich die leer stehenden Gebäude in einem weit erbärmlicheren Zustand befanden, als es den Anschein gehabt hatte. Das Dach des Haupthauses, eines zweistöckigen Würfels, zu dem auch die ehemalige Kantine gehörte, war undicht, und die Wände waren feucht. Und von den hölzernen Bungalows, die früher als Unterkünfte gedient hatten, war kein einziger mehr zu retten. Lediglich ein Nebenhof mit Garagen und Wirtschaftsräumen wies kaum Schäden auf. Diesen Bereich hatten Emmy und Dominic liebevoll zu einer Stallanlage umgebaut, sodass vor zwei Jahren die ersten vier Pferde eingezogen waren. Eine kleine Wohnung über der Werkstatt diente den jungen Besitzern als provisorische Unterkunft. Der Traum von einem eigenen Restaurant und einer Pension war mittlerweile in ferne Zukunft gerückt, jetzt galt es erst einmal, genügend zahlungskräftige Touristen für Reitausflüge und Kutschfahrten zu gewinnen.
Emmy drückte einen Knopf am Gettoblaster, und die Beats erstarben. Einen Moment noch lauschte sie dem Nachhall der Musik in ihrem Kopf, dann tauschte sie ihre Turnschuhe gegen klobige Gummistiefel und trat ins Freie. Sofort umfing sie die Ruhe des verträumten Tales. Entfernte Vogelstimmen drangen aus der Tiefe des Waldes. Der Geruch von Holz und Erde lag in der Luft. Es war früher Vormittag, und die verschleierte Sonne hatte noch nicht die Kraft, die feuchten Nebelschwaden in der Senke zwischen den steilen Berghängen aufzulösen.
Jetzt ganz im Arbeitsmodus, marschierte Emmy zu den Stallgebäuden hinüber. Ihr altersschwacher Transporter stand nicht an seinem Platz. Dominic war vorhin damit weggefahren. Als gelernter Tischler nahm er immer wieder kleinere Aufträge in der Umgebung an, um ihre desaströse finanzielle Situation wenigstens etwas zu verbessern. Stattdessen parkte ein fabrikneuer Geländewagen auf dem geschotterten Areal vor dem Stalleingang. Das wuchtige Fahrzeug gehörte Justus Holthoff. Der Erfurter Investor galt als Schwergewicht seiner Branche und war überall in Thüringen bekannt. Warum er sich für seine Ausritte in die spektakuläre Berglandschaft ausgerechnet ihren halb fertigen Pferdehof ausgesucht hatte, stand in den Sternen. Nicht weit entfernt gab es in Oberhof, dem berühmten Ferienort, gut etablierte Reittouristikunternehmen. Aber Justus Holthoff kam immer nur hierher - zu ihnen in ihr einsames Tal. Emmy vermutete, dass den prominenten Unternehmer die Einsamkeit reizte.
Heute war Holthoff schon am frühen Morgen aufgetaucht. Er hatte glänzende Lederstiefel und seinen schwarzen Reitmantel getragen und Emmy gebeten, Amigo zu satteln. Der kräftige schwarze Wallach war sein Favorit. Er erwartete, dass ihm das Pferd zur Verfügung stand, wann immer er hier auftauchte. Der milde Julitag war kaum richtig angebrochen, da hatte ihr wohlhabender Kunde das Gelände bereits wieder verlassen und war auf dem Rücken des Rappen im dunstigen Forst verschwunden.
Emmy hoffte, dass Dominic bald zurück sein würde. Möglichst vor Holthoff mit Amigo. Die junge Pferdewirtin wollte vermeiden, mit dem Investor allein zu sein. Denn der mochte nicht nur diesen Reiterhof, sondern auch dessen Besitzerin.
Das war Emmys zweite Baustelle. Seit Holthoff zu ihnen zum Reiten kam, musste sie sich seiner Avancen erwehren. Manchmal waren es Komplimente, manchmal kleine Aufmerksamkeiten oder scheinbar zufällige Berührungen. Nie sprach er aus, was er von ihr wollte, aber in seiner Anwesenheit fühlte sie sich auf unangenehme Weise unter Druck gesetzt. Holthoff war verheiratet, doch das schien ihn nicht zurückzuhalten. Bisher hatte sich Emmy jedes Mal mehr oder weniger charmant aus der Affäre ziehen können, achtete aber darauf, dass Dominic möglichst immer in ihrer Nähe war. Ihrem Freund etwas von den Annäherungsversuchen zu sagen wagte sie nicht. Einerseits, weil es ihr peinlich war, andererseits, weil sie schlichtweg von Holthoff abhingen. Er war einer ihrer wenigen verlässlichen Kunden, und er zahlte pünktlich. Doch Emmy wusste, dass sie mit diesem Balanceakt den Konflikt nicht löste, sondern nur vertagte. Holthoff galt als ein Mann, der bekam, was er wollte.
Emmy drückte sich an dem Geländewagen vorbei und betrat den Stall. Hinter Amigos leerer Box bog ein Seitengang ab. Hier befanden sich die Abteile, in denen ihre anderen drei Pferde gleichmütig an den Resten des Morgenfutters knabberten.
»Hi, Richard. Mach mal Platz.« Emmy schob das Türgatter zur Seite und den großen Braunen sanft aus dem Weg. »Wie sieht's denn hier schon wieder aus? Das ist kein Pferdestall, das ist ein Saustall!« Mit gespielter Verärgerung raffte sie das Futterheu, das der Wallach in der ganzen Box verteilt hatte, wieder zu einem Haufen zusammen. Dann umfing sie seinen breiten Hals und schmiegte sich an ihn. Richard war das erste Pferd, das sie gekauft hatte, und ihr unbestrittener Liebling. Sanft tätschelte sie ihm das glänzende Fell, bis aus dem Nachbarabteil ein Schnauben zu vernehmen war.
»Nicht so ungeduldig. Ihr kommt auch noch dran.« Emmy lächelte, löste sich von Richard und liebkoste auch die übrigen beiden Pferde. Mathilda, die gutmütige alte Stute, die hier ihr Gnadenbrot erhielt, und Freddy, den etwas zu klein geratenen Apfelschimmel, der seinen geringen Wuchs durch jugendlichen Übermut wettmachte. Dann mistete Emmy alle Boxen aus. Es dauerte nicht lange; sie hatte darin seit ihrer Kindheit Routine.
Die nächste Aufgabe wartete bereits vor dem Stall. Auf einem Pferdehof hörte die Arbeit nie auf. Im Moment war es die alte Kutsche, die nach ihrem jüngsten Einsatz auf schlammigen Waldwegen einer gründlichen Reinigung bedurfte. Die junge Frau füllte Wasser in einen Blecheimer, streifte sich Arbeitshandschuhe über und verließ das Gebäude.
Die Sonne hatte sich inzwischen gänzlich verzogen, und der Nebel war deutlich stärker geworden. Emmy sah zu dem Parkplatz hinüber, auf dem nach wie vor ausschließlich Holthoffs Geländewagen stand. Hoffentlich würde Dominic bald nach Hause kommen.
Die Pferdekutsche war ganz am Rand des Grundstücks abgestellt. Emmy griff nach der schweren Gummiplane, die zum Schutz vor Regen darübergebreitet war, und wälzte sie vom Wagen. Ein Schwarm Vögel stob kreischend aus den Wipfeln der umstehenden Fichten, als die Abdeckung lautstark auf den Boden rutschte.
Dann kehrte die Stille zurück. Emmy fiel auf, dass auch das muntere Zwitschern, das vorhin noch das Dickicht ringsum erfüllt hatte, vollends verstummt war. Seltsam. Beklommen sah sie sich um, entdeckte aber nichts, was sie in ihrem merkwürdigen Gefühl bestärkt hätte. »Na, dann wollen wir mal«, sagte sie laut zu sich selbst und schüttelte den Kopf. So idyllisch das entlegene Tal auch war - manchmal mutete es ihr geradezu unheimlich an.
Eine dicke Schlammschicht überzog die Wagenräder der Kutsche, und die verzierte Seitenverkleidung war von graubraunen Schlieren übersät. Emmy begann, energisch mit dem Lappen über den Holzlack zu wischen, und bald wurde die farbenfrohe Bemalung des leichten Reisewagens wieder sichtbar.
Plötzlich stockte Emmy. War das ein Pferdewiehern gewesen? Das Geräusch kam nicht aus dem Stall, sondern aus der Ferne. Konnte das Amigo sein? Kehrte Justus Holthoff schon von seinem Reitausflug zurück? Das war ungewöhnlich. Normalerweise dauerten seine Touren drei oder vier Stunden.
Die junge Pferdewirtin blickte angestrengt in die Richtung, aus der das Wiehern gekommen war. Zuerst vermochte sie nichts Konkretes auszumachen. Die gesamte Talsohle lag in einem dichten, unbeweglichen Nebelmeer. Doch dann schälte sich allmählich ein schwarzer Umriss aus dem milchigen Weiß. Ein großes Pferd und auf seinem Rücken ein Reiter in einem Umhang, dicht über den Hals des Rappen gebeugt. Er war noch zu weit entfernt, um ihn genau zu erkennen, aber eigentlich konnte das nur Holthoff sein.
Verdammt! Schnell wendete sich Emmy wieder ihrer Arbeit an der Kutsche zu. Wenn Holthoff sah, dass sie beschäftigt war, ersparte er ihr vielleicht seine amourösen Anspielungen. Verbissen zog Emmy den Lappen durch die Speichen des großen Hinterrades, den Blick fest nach vorn gerichtet. Es dauerte nicht lange, da vernahm sie das Klappern der Hufe auf dem Kiesweg. Emmy hatte gehofft, dass der...
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