Schweitzer Fachinformationen
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6. August 1665
Endlich schwieg die Glocke. Dass sich nun wieder Stille über dem Dorf ausgebreitet hatte, entnahm der schwarz verhüllte Mann auf seinem entfernten Beobachtungsposten der Tatsache, dass sich die Schar aufgeschreckter Vögel kreisend um den doppelten Kirchturm sammelte und schließlich wieder auf dem Dachfirst niederließ. Für die unschuldigen Geschöpfe zählte nur der Moment. Was bis vor wenigen Augenblicken im Kirchenschiff tief unter ihnen geschehen war, konnten sie nicht ermessen.
Vorsichtig zog sich der Fremde die talggetränkten Stoffpfropfen aus den Ohren. Zunächst noch misstrauisch und bereit, sie sofort zurückzustopfen. Doch seine Sorge erwies sich als unbegründet. Kein Geräusch drang vom Dorf zu ihm herüber. Es war vorbei.
Der sehnige Mann hatte seinen Posten am Waldrand bereits im Morgengrauen bezogen und achtete auch jetzt sorgsam darauf, den Schutz der Bäume nicht zu verlassen. Noch eine Weile verharrte er regungslos im Schatten. Dann zog er sich behutsam zurück und lief zielstrebig in die Tiefe des Waldes.
Nach einigen Minuten erreichte er den Rand eines schmalen Tales. Im Dickicht war der schroffe Einschnitt kaum auszumachen. Ein feuchter Nebelteppich lag unbeweglich über der Senke, so als wollte er den Ort zusätzlich vor neugierigen Blicken verbergen. Geschmeidig stieg der Fremde hinab, immer bemüht, auf dem Geröll keine lauten Geräusche zu machen oder es gar in Bewegung zu versetzen. Trotzdem ertönte schon bald ein alarmiertes Schnauben. Im Dämmerlicht des Grundes schälte sich ein dunkler Schemen aus dem Dunst, der sich unruhig tanzend hinter einem Baum bewegte und dabei seine Form unablässig veränderte. Erst als ein weiterer Nebelschwaden durchschritten war, kamen die Konturen eines edlen schwarzen Pferdes zum Vorschein. Der Mann ging geradewegs auf das stattliche Tier zu. Es erklang ein kurzes, kraftvolles Wiehern, als der Rappe seinen herannahenden Besitzer erkannte.
»Arco.« Sofort war die Aufregung des Tieres verschwunden. Der Fremde beließ es bei diesem einen Wort, in welchem eine merkwürdige Melancholie gelegen hatte. Mit präzisen Handgriffen löste er die Leine, mit der das Pferd an dem Baum festgebunden war, und führte den Rappen davon, wobei sich das Tier eng an die Seite seines vertrauten Herrn drückte.
Kurz vor dem Ausgang der Talsenke gab der Nebel einen leichten Pferdewagen frei, der versteckt hinter einer dichten Eichengruppe stand. Bisher hatte der Fremde nichts an seiner Mission dem Zufall überlassen, und auch die Art des Wagens war bewusst gewählt. Klein und unauffällig sollte er sein, aber bei näherer Betrachtung von einer dezenten Eleganz, damit sein Lenker im Falle einer Überprüfung als respektabler Herr durchgehen konnte. Von außen nicht sichtbar waren die Verstärkungen des Rahmens und der Achsen mit Beschlägen aus geschmiedetem Eisen, die dafür sorgen sollten, dass der Wagen seine besondere Bestimmung erfüllte.
Der Mann tätschelte den Hals seines Rappen, führte ihn an die Deichsel und legte ihm routiniert das Zuggeschirr an. Nur wenige Augenblicke später verließ der Pferdewagen den Schutz des Tales und bog in einen Hohlweg ein, der direkt aus dem Wald herausführte. Eine wichtige Aufgabe hatte der Fremde noch zu erledigen. Ein letztes Mal musste er ins Dorf.
Von den Ausläufern des Waldes führte ein staubiger Fahrweg in gerader Strecke bis hinunter zu dem kleinen Weiler. Die Räder schwerer Fuhrwerke hatten über die Jahre zwei tiefe Rinnen in den Boden gepflügt, denen der Reisewagen des Fremden nun schlingernd folgte. Obwohl die Sonne ihren Zenit noch längst nicht erreicht hatte, lag schon eine schwere Wärme über den goldenen Feldern links und rechts. Das Korn stand gut auf dem Halm und wartete auf seine Ernte.
In den letzten Wochen war der Fremde schon einige Male hier gewesen, um sich mit den Umständen und Gepflogenheiten der Gegend vertraut zu machen. Doch nur ein einziges Mal hatte er sich bis hinunter in die Ansiedlung gewagt. Es war für sein Vorhaben unvermeidlich gewesen.
Obwohl er einen wilden und exzentrischen Charakter besaß, achtete er bei seinen Missionen peinlich genau darauf, im Hintergrund zu bleiben und seine Spuren im Bewusstsein der Menschen durch ein betont unauffälliges Auftreten zu verwischen. Deswegen hatte er auch die Gastwirtschaft des Dorfes gemieden und für die Zeit seiner Unternehmung eine Herberge in einem benachbarten Flecken gewählt. Dort hielt man ihn für einen in sich gekehrten Magister der Botanik, der seine Zeit mit dem Sammeln von Feldpflanzen verbrachte.
Eine Schar Gänse machte lärmend Platz, als das Gefährt des Fremden die Dorfgrenze erreichte. Der Einspänner steuerte zielstrebig auf den doppeltürmigen Kirchenbau zu, der sich auf einem Hügel am gegenüberliegenden Ende des Weilers erhob. Über dem gesamten Ort lag eine drückende Stille. Einzig das rhythmische Aufstampfen der Hufe und das Knarren des Reisewagens störten den Frieden dieses Augustvormittags. Der schwarz gekleidete Mann auf der Sitzbank des Einspänners warf aufmerksame Blicke zu den Fenstern der windschiefen Gesindekaten und in die Einfahrten der Gehöfte. Doch keine Menschenseele begegnete ihm. Es war Sonntag. Die Bewohner des frommen Dorfes hatten sich zur Messe in der Kirche versammelt.
Das Gotteshaus erhob sich auf einer großen Wiese, die vom Staub der Sommerwinde grau gefärbt war. Eine Gruppe mächtiger alter Bäume umgab das Gebäude wie eine stumme Wachmannschaft. Die beiden Türme verliehen der Kirche eine robuste Präsenz. Obgleich nicht sehr groß, strahlte der Bau schlichte Erhabenheit aus.
Mit einem Schnalzen und einem kurzen Zug an den Leinen brachte der Ankömmling das Gefährt zum Stehen. Während er die Speichenräder seines Wagens mit einem Keil arretierte, ließ er seinen Blick noch einmal vorsichtig umherschweifen. Dann tastete er kurz über die Tasche seines Wamses und versicherte sich, dass er die talggetränkten Ohrenstopfen griffbereit hatte. Auch wenn sie ihn vermutlich in dieser Nähe nicht retten konnten. Aber er ging ohnehin davon aus, dass die Glocke nicht mehr ertönen würde.
In die kühle Abgeklärtheit des Fremden mischte sich jetzt, als er die letzten Schritte zum Kirchenportal zurücklegte, eine Spur düsterer Aufregung. Die schwere Tür war geschlossen. Die Bäume wiegten sich sanft im Wind, während ihre Schatten auf dem ausgeblichenen Holz flimmerten. Kein Geräusch drang aus der Kirche. Der Fremde betrachtete die abgenutzte Türklinke aus einem schnörkellosen Eisenband. Wie viele Menschen hatten sie in ungezählten Jahren heruntergedrückt? Er griff nach dem schmalen Metall. Es war an der Zeit, sein Werk zu begutachten. Entschlossen trat er ein.
Nach der gleißenden Sonne schlug ihm im Inneren der Kirchenhalle fast komplette Dunkelheit entgegen. Seine Augen schmerzten. Der kühle Raum umgab ihn wie eine düstere Landschaft aus Schatten. Doch dann, nach einer kurzen Zeit der Gewöhnung, kehrte das Sehvermögen mit erbarmungsloser Klarheit zurück. Das gesamte Dorf war in der Kirche versammelt. Frauen und Männer. Kinder und Greise. Kräftige und Schwache. Keiner hatte die Andacht verpassen wollen. Alle befanden sich hier.
Der Fremde hatte geglaubt, auf das, was ihn erwartete, vorbereitet zu sein. Doch als er in die ersten Augenpaare blickte, schrak er zurück. Hass lag darin, aber auch Erstaunen, Schmerz und Resignation. Am Ende war es die friedliche Stille, die ihm fast den Verstand raubte. Er hatte den Ort der Apokalypse betreten. Niemand im Raum lebte mehr. Er blickte in die Gesichter von Toten.
Langsam schob sich der Besucher tiefer in die dunkle Halle. Registrierte mechanisch die Gruppen unnatürlich verdrehter Leiber, die wie zu einem bizarren Schlachtgemälde erstarrt waren. Ein jeder von ihnen hatte bis zuletzt gekämpft. Doch sie waren keinem Feind zum Opfer gefallen. Sie hatten sich gegenseitig umgebracht.
Wie in Trance schritt der Fremde durch die Kirche. Es hatte keiner Waffen bedurft. Die wären unter den unschuldigen Besuchern des Gottesdienstes auch kaum zu finden gewesen. Stattdessen hatten sie alles benutzt, was ihnen zum Schlagen oder Stechen geeignet erschienen war. Gusseiserne Kandelaber. Aus den Fenstern gebrochene Glasscherben. Am Ende sogar ein Kruzifix. Viele mussten sich mit bloßen Händen aufeinandergestürzt haben. So lange, bis keiner von ihnen mehr übrig gewesen war.
Plötzlich stutzte der Fremde. Seine Hand zuckte zum Griff seines Degens. Da war jemand! Er spürte es nur, aber seine lange Erfahrung in Dingen dieser Art gab ihm Gewissheit. Argwöhnisch ließ er seinen Blick zur Seite schweifen. Und tatsächlich: Im fahlen Licht des Altarraums stand ein alter Mann im schmucklosen Kittel eines einfachen Bauern. Ohne Regung verharrte er an seinem Platz. Der Alte schien den Besucher nicht wahrzunehmen, starrte stattdessen ungläubig und mit glasigen Augen auf seine schwieligen Hände.
Die Begegnung mit dem Überlebenden erschreckte den Fremden mehr als der Anblick der Toten. Für einen Augenblick überlegte er, ob er den Mann mit einem schnellen Stoß seiner verzierten Klinge zu den Seelen der anderen schicken sollte. Doch das war nicht nötig. Der Irrsinn hatte den armen Schlucker bereits in eine fremde Welt gerückt, die ohnehin nichts mehr mit dieser gemein hatte.
Der Besucher zwang sich, seinen Blick von der grausamen Szenerie loszureißen. Was hier geschehen war, würde nicht lange unbemerkt bleiben. Er musste das Artefakt bergen. Nur deswegen war er in diese Hölle zurückgekehrt.
Eilig durchquerte er das Kirchenschiff, verfolgte nun wieder mit kühler Zielstrebigkeit seine Mission. Die niedrige Pforte, die zu einer der Turmtreppen führte, stand weit offen. Dahinter lag die Stiege verwaist im...
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