Schweitzer Fachinformationen
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Tot. Seit Stunden schon lasse ich meine Gedanken um dieses Wort kreisen, ohne zu verstehen. Ab und zu höre ich mit dem Denken auf, um zu Simo zu sagen: »Verdammt, das ist doch nicht möglich! Ich habe gestern um halb elf noch mit ihr gesprochen .«, und ähnliche Banalitäten, als ob der Tod sich anzukündigen pflegt und diesmal eine unbegreifliche Ausnahme gemacht hat.
Wir hatten vor dem Kiosk gestanden, bereit für die erste Aufnahme, mit einer etwas zusammengewürfelten, aber enthusiastischen Truppe; die Statisten standen in den Startlöchern, und der Zeitungsverkäufer, der in der ersten Szene des Films erscheint und sich selbst spielt, platzte fast vor Stolz.
Es lag ein Knistern in der Luft, und auch wenn sich die spielerische Leichtigkeit, mit der wir das Projekt ins Leben gerufen hatten, inzwischen in einen enormen Leistungsdruck verwandelt hatte - ganz tief drinnen waren wir außer uns vor Freude. Wir hatten es geschafft, es ging los, alles war bereit, nur eine fehlte: ich. Das heißt, nicht ich fehlte, sondern Silvia, die die Rolle der Chiara, also mich, spielen soll, pardon, sollte.
Wir haben immer wieder versucht, sie anzurufen, zuerst wütend, dann besorgt, und schließlich gaben wir auf: Bei ihr zu Hause ging niemand ans Telefon, auch auf dem Handy nicht, und so blieb uns nichts anderes übrig, als den so sehnsüchtig erwarteten ersten Take zu verschieben, überzeugt, es handle sich um den üblichen coup de foudre, dem immer wieder mal eine von uns zum Opfer fällt, die dann tagelang verschwindet, ohne sich um Arbeit, Mutter oder Partnerin zu scheren. In so einem Fall kennt jedoch eine gute Freundin den geheimen Rückzugsort - für Notfälle -, die dann ihrerseits zwei weitere gute Freundinnen ins Vertrauen zieht, die es wieder zwei anderen erzählen und so weiter, bis am Ende alle wissen, wo man sich aufhält und mit wem, inklusive dem Arbeitgeber, der Mutter und der inzwischen zur Ex gewordenen Liebsten. In Silvias Fall jedoch war es unmöglich, diese Informationen zu bekommen, denn niemand kannte sie. Sie hatte jahrelang in London gelebt und war gerade erst nach Italien zurückgekehrt; bei dem Filmprojekt wollte sie auch deshalb mitmachen, um ein paar Freundinnen zu finden. Also mussten wir abwarten, bis sie von sich hören ließ, um ihr den Kopf zu waschen, sie uns vorzuknöpfen und herauszubekommen, mit wem sie sich eingelassen hatte.
In diese Grübeleien war ich versunken gewesen, als Simo plötzlich blass und atemlos vor meiner Tür stand, mir wortlos die Zeitung in die Hand drückte und auf eine der Kurznachrichten im Lokalteil zeigte:
Silvia S. aus Mailand, 25, wurde erhängt in ihrer Wohnung gefunden. Die Mutter der jungen Frau entdeckte die Leiche .
O Gott . wie wär's mit einem Joint? Simona rollt schweigend eine ihrer üblichen krummen, buckeligen Tüten - nach jahrelanger Übung hat sie immer noch nicht raus, wie man es macht -, während ich zum fünften Mal den Artikel lese.
»Ich kann das nicht glauben. Hättest du je gedacht, dass sie sich umbringen wollte?«
»Nein, auf keinen Fall, aber so gut kannten wir sie ja nicht .«
»Stimmt, aber sie kam mir nie so verzweifelt vor - irgendetwas hätte man ihr doch angemerkt! Ich kann nicht glauben, dass es einer so schlecht gehen kann, dass sie sich am Kronleuchter aufknüpft, ohne dass irgendjemand in ihrem Umfeld etwas bemerkt!«
»Vielleicht hat sie ihre Lieblingsunterhose versehentlich in den Ofen gelegt anstatt in die Schublade, und dann hat sie ihn eingeschaltet, um einen Apfelkuchen zu backen, und als sie ihren Fehler bemerkte, war es schon zu spät, woraufhin sie beschloss, dem Ganzen ein Ende zu setzen .«
»Du bist wirklich bescheuert, weißt du das?«
»Komm, ich mache doch nur Spaß. Wenn wir es nicht wenigstens unter uns ein wenig leichter nehmen . Vielleicht hat sie LSD genommen und plötzlich schreckliche Dinge gesehen, die schlimmsten Monster, die man sich vorstellen kann - es wäre ja nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.«
»Aber das hätte doch in der Zeitung gestanden, oder nicht?«
»Was weiß ich.«
»Wenn eine sich umbringt, machen sie dann eine Autopsie?«
»Keine Ahnung, wirklich. Ich wüsste auch nicht, wen man so etwas fragen könnte . Fällt dir jemand ein?«
»Hm, einen Arzt vielleicht, oder einen Polizisten .«
»Kennst du da welche?«
»Polizisten? Also bitte, jede Menge!«
Simona hat ein lustiges, sehr ausdrucksstarkes Gesicht, dunkle Augen, die ständig in Bewegung sind, eine kräftige Nase und glattes, mittellanges Haar; ihre Bewegungen sind etwas träge und wenig graziös, und es gelingt ihr stets, die Dinge von ihrer komischen Seite zu betrachten, wobei sie häufig ins Zynische oder Surreale abrutscht - je nach Laune, Qualität und Quantität der psychotropen Substanzen, die sie zu sich genommen hat. Nachdem wir jahrelang davon gesprochen hatten, irgendwann einmal zusammen einen Kurzfilm zu drehen, sobald uns eine gute Idee über den Weg liefe, kam uns die Idee eines Tages ganz plötzlich, während wir in unserem Stammcafé an der Bar saßen und ich einer Gruppe Freundinnen mit dramatischen Ausschmückungen von meinem letzten fehlgeschlagenen Liebesabenteuer erzählte. Simonas Augen funkelten lebendig, nach dem dritten Cocktail nur eine Spur ironischer als sonst, doch sie versuchte, ernst zu bleiben. Man merkte ihr an, dass sie sich nur mühsam zurückhielt. Irgendwann konnte sie nicht mehr, sprang vom Stuhl und platzte heraus: »Ich hab's! Jahrelang hatten wir es vor der Nase, ohne es zu bemerken!«
»Was denn?«
»Na, den Film! Dein Leben ist eine fantastische Vorlage - so eine Person könnten wir uns nie ausdenken . die vielen Verwicklungen und Missgeschicke!«
Wir anderen stiegen nicht sofort auf ihre Idee ein - ich, weil ich nicht in der richtigen Stimmung war, unsere Freundinnen, weil sie Simonas spöttische Art kennen und auch weil man über mein Leben eher eine ganze Serie drehen könnte als einen Kurzfilm. Sie insistierte jedoch so lange, bis ich überzeugt war: Wenn weder sie noch ich, noch irgendjemand sonst ernst bleiben konnte, wenn ich von meinen Misserfolgen erzählte, warum sollte man daraus nicht wirklich etwas machen können? Gar nicht zu reden vom therapeutischen Effekt: vom Niederschreiben bis hin zur öffentlichen Aufführung, eine einzige Psycho-Kur, die mich von jeder Paranoia befreien würde.
Nachdem die Entscheidung gefallen war, machten wir uns sofort auf die Suche nach einer, die ein glaubhaftes Drehbuch schreiben konnte. In unserem Umfeld gab es genügend schreibbegeisterte Frauen und auch viele, die privat oder beruflich mit Leuten aus dem Literaturbetrieb, dem Theater oder Kino zu tun hatten. Und doch war es nicht einfach, eine zu finden, die sich die Zeit für ein no-budget-Projekt wie das unsere nehmen wollte, das von zwei blutigen Anfängerinnen, um nicht zu sagen Dilettantinnen, ins Leben gerufen worden war, wobei eine von beiden ständig damit beschäftigt war, jede Art von Drogen auszuprobieren, die sie in die Finger kriegte, und die andere in ihrem Bemühen, die wahre Liebe zu finden, jede geneigte und weniger geneigte Frau der Stadt im biblischen Sinne kennengelernt hatte. Zu unserem Glück konnten wir Elena, eine professionelle Drehbuchschreiberin, schließlich für unser Projekt begeistern.
Das erste Mal traf ich sie bei einer Feier, für die sie eine Konzertaufführung organisiert hatte. Sie war weder groß noch klein, weder dick noch dünn, dunkelhaarig, alterslos, wie die meisten Lesben. Sie sah interessant aus in ihrem Dirigentenfrack, wie sie konzentriert und mit zerzaustem Haar vor ihrem Orchester stand. Sie war bei weitem die beste von allen, doch an diesem Tag war meine Aufmerksamkeit von irgendeiner anderen Frau angezogen worden, die meine Hormone stärker in Wallung brachte - zu diesem Zeitpunkt die einzige Art, menschliche Sympathien in mir zu wecken. Ich habe damals nicht mit ihr gesprochen und auch in der Zeit danach nie persönlich mit ihr zu tun gehabt, aber viel von ihr reden hören. Eine Freundin, die heimlich für sie schwärmte, erzählte mir von ihrer Militanz, und es war auch dank dieser gemeinsamen Freundin, dass wir uns schließlich kennenlernten und unsere starke intellektuelle Verbundenheit und unseren großen Respekt füreinander entdeckten.
Die Tatsache, dass Elena eingewilligt hat, an dem Film mitzuwirken - inzwischen haben wir die Idee des Kurzfilms aufgegeben und wollen einen richtigen Film daraus machen, wahrscheinlich mit Überlänge -, hat mich besonders gefreut, vor allem weil wir auf diese Weise vielleicht unser mangelndes Kapital sowie fehlende Mittel und Erfahrung durch ein professionelles und unterhaltsames Script ausgleichen können. Außerdem hat sich meine Beziehung zu ihr rapide verändert, und wir sind in Rekordzeit vom Abstrakten, Politischen zum Persönlichen übergegangen, das heißt, in der Zeit einer filmischen Fiktion anstatt in Echtzeit. Wir haben uns ein paar Mal allein getroffen, um über Personen und Handlung des Films zu sprechen, und ich habe angefangen, ihr gegenüber unanständige Gedanken zu hegen und mir unwahrscheinliche Situationen auszumalen, die ich niemals suchen werde zu verwirklichen, entschieden wie ich bin, den Kopf, die Hände und den ganzen Rest unter Kontrolle zu halten, wenigstens bei ihr.
Während Elena am Drehbuch schrieb, fingen Simo und ich an, darüber nachzudenken, wie wir es umsetzen wollten. Wie lange kenne ich sie schon? Zwölf Jahre? Dreizehn? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich erinnere mich genau an all die Projekte, die wir zusammen ausgeheckt haben, und an all die Stunden, die wir damit verbrachten, ohne...
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