Schweitzer Fachinformationen
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Die Hitze hatte noch immer nicht nachgelassen, dabei war schon September: Zwei Wochen war ich weg gewesen.
Die Linden am Nordufer ließen müde und niedergeschlagen ihre staubigen Blätter hängen, und auf meinen funkelnagelneuen Fenstern klebte bereits eine zähe Schmutzschicht. Steife Plastikplanen verhüllten die Wohnzimmereinrichtung. Stühle, Bücher, das tibetische Thangka und die schwarzen Musiker des Puppenorchesters aus Stockholm schimmerten durch dieses Plastikeis wie Treibgut von der Titanic.
Während meines Aufenthalts in Südkorea hatten sie wie vereinbart die Fenster ausgetauscht.
Ich holte meine Mitbringsel aus dem Koffer. Umgeben von dem Meer aus Plastik, wirkten die kleinen koreanischen Gegenstände verloren und absurd, als hätten auch sie Schiffbruch erlitten.
Mein Fieber stieg; seit über einer Woche hatte ich erhöhte Temperatur.
Ich lächelte und sagte etwas, vom Fieber aber schwieg ich.
Ab jetzt hatte ich wieder Mutter zu sein, und Lebensgefährtin.
Und Tochter.
In Korea wohnte ich im Zentrum des alten Seouls, in einer wachsenden Enge aus Schaufelbaggern, Parkhäusern, McDonald's-Filialen und Bürogebäuden aus Beton.
Aus der aufgerissenen Straße vor dem Hotel ragten Kabel; zum Eingang gelangte man nur über ein paar lose hingeworfene Planken, die über die in der Erde klaffende Wunde führten.
Doch hinter der schwarzlackierten Tür öffnete sich eine hübsche koreanische Ansicht.
In der Mitte des Innenhofs stand ein Baum. Seinem krummen Wuchs zum Trotz schob er die Zweige unermüdlich in die Sonne.
Neben dem Stamm ruhte ein aus Ton gemauerter Ofen, leere Coca-Cola-Kästen stapelten sich vor der Brennkammer, die unbenutzt blieb, das Hotel hatte einen Abrissbescheid erhalten.
Papierne Schiebetüren umrahmten den Innenhof. Hinter ihnen lagen zwei Quadratmeter große Zimmerchen, auf deren Boden man zum Schlafen eine dünne Bastmatte ausrollte.
Bevor das Haus ein Hotel wurde, hatten in den Zimmern Söhne und Töchter, Schwiegersöhne und Schwiegertöchter gewohnt.
Zu der Zeit führten die Großeltern das Haus, und zu den Mahlzeiten aus Kimchi und Reis versammelten sich alle um den Ofen, durch dessen schmales Abzugsrohr der Rauch aus dem Hof in den Himmel stieg.
Jetzt zogen Staubwolken von der Baustelle über dem Haus entlang.
Die dauerlächelnden alten Hotelbesitzer taten, als sähen sie es nicht.
Und wir Hotelgäste, Jäger der Vergangenheit, husteten in unsere Taschentücher.
Der Plankenweg, der zum Hoteleingang führte, wurde mit jedem Tag länger.
Hinaus gelangte man nur noch durch die Hintertür.
Sie ging auf eine Gasse, in der es nach Urin und Fischabfällen stank.
Als ich am Abreisetag meinen Koffer zum Taxi schleppte, das nicht bis zum Hotel hatte vorfahren wollen, sah ich, wie ein deutscher Tourist in Wanderkleidung mit einem Schweizer Armeetaschenmesser eine gebrannte Keramikverzierung von der Regenrinne des Hotels löste.
Erst abends rief ich in der Hämeentie an, der Straße, in der ich lange gewohnt hatte.
Ich musste warten, bis abgehoben wurde.
Vaters Stimme klang müde und depressiv, mal wieder.
»Ich bin's nur.«
Ihre Stimme klang weich, irgendwie süßlich.
Seit einiger Zeit redete sie mit ihrem Vater wie mit einem
Kind.
»Ach so.«
Dann legte er den Telefonhörer auf den Tisch, es war deutlich zu hören.
Ich probierte den Calvados, den ich auf dem Rückweg über Paris gekauft hatte. Er war vierundzwanzig Jahre alt, besaß ein dezentes Raucharoma und eine noch dezentere Apfelnote, wie es sich für guten Calvados gehörte. Trotzdem schmeckte er mir nicht, und das Fieber jagte mir unangenehme Schauer über Rücken und Beine.
Eine Minute verging, eine zweite.
Ich hörte ein Rauschen, das Poltern des Gehstocks, das vertraute Husten. Dann:
»So, ich habe mir einen Stuhl geholt. Du bist also wieder zurück.«
»Ja, seit einer Stunde.«
Warum log sie?
»Aha.«
»Ja.«
Ich nahm einen weiteren Schluck. Der Alkohol brannte in der Kehle und trieb mir Schweiß auf die Stirn, den das Fieber gleich trocknete.
»Schon wieder eine Reise. Dauernd unterwegs.«
»Es war wegen der Arbeit.«
Sie verteidigte sich.
Aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis, sich zu verteidigen.
»Wie geht's denn so?«, fragte ich.
»Kann mich nicht beschweren.«
»Rumsitzen. Wie's Leben halt ist.«
»So ist es. Oft jedenfalls.«
Wie eine Wasserpflanze im warmen Meeresstrom schaukelte sie in Vaters Sprachrhythmus.
»Ja, oft«, brummte er.
»Tja.«
»Das ganze Leben.«
»Hmm.«
»Und wie geht's Kerttu?«
Kerttu war sechsundachtzig Jahre alt, doch Vater bezeichnete sie als seine Freundin.
Als sie Kerttu vor zehn Jahren kennenlernte, saß diese in dem Sessel, in dem schon ihre Mutter gesessen hatte. Und aus dem Sessel waren seit dem Tod ihrer Mutter schon mindestens Aune, Lempi, die Wermut trank und ab acht Uhr morgens Patiencen legte, und Siviä geflohen, die sich auf eine Brieffreundschaftsannonce gemeldet hatte.
Kerttu war eine stilvoll gealterte Witwe, die adrett hüstelnd den Cognac trank, den Vater ihr zum Kaffee servierte. Im Laufe von zehn Jahren machte er sie auch mit Whisky, Koskenkorva, Smirnoff, süßen Beerenlikören, Bier und Longdrinks mit Gin vertraut.
»Sie holen sie jeden Abend ab und bringen sie irgendwohin.«
»Kerttu?«
»Wohin denn?«
»Ich weiß nicht.«
Vaters Stimme klingt jetzt erregt.
Sie muss die fiebrigen Wogen verlassen.
»Aber wohin bringen sie sie denn?«
»Wo man alte Menschen eben hinbringt. Sie verraten es nicht.«
Ich zünde mir eine Zigarette an. Auch die schmeckt nach Fieber.
»Und wer holt sie ab?«
»Raimo, ihr Sohn. Jeden Abend, mit dem Auto. Jeden Abend.«
»Oh je.«
Im Hörer rauscht es wieder.
Es klingt ungeduldig.
»Vielleicht rufst du da mal an«, tönte es ängstlich in mein Ohr.
»Wo denn?«
»Da, wo man sie hinbringt.«
Die Pause wird unangenehm lang.
Ich müsste Fieber messen, denkt sie.
»Gut, ich rufe da an«, lüge ich.
»Ja, mach das.«
»Klar.«
»Die werden dir schon was sagen.«
Ich schaffe das nicht, denkt sie.
Tochter sein. Heute, mit diesem Fieber.
Wieso denke ich mich als sie, denkt sie.
»Ich komme morgen bei dir vorbei«, sage ich und spreche noch tiefer und sanfter.
»Mach das.«
»Ich würde schon heute kommen, aber ich habe wohl etwas Temperatur.«
»Na dann, halte durch.«
»Muss ich ja.«
»Bis morgen.«
Sie legt auf und schaut durchs Küchenfenster in den Innenhof.
Der Hausmeister fegt den Asphalt und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Die im Frühling gepflanzten Blumen ragen aus ihren Pressspankästen vertrocknet in die Abendsonne.
Dieser Sommer endet nie, denkt sie.
Nachts im Traum war ich wieder einmal in der Fleminginkatu, auch dort habe ich als Kind gewohnt.
Mutter war von einer langen Reise zurück, aber einen Koffer hatte sie nicht dabei.
Heiter und abwesend saß sie im Sessel und trug den Rock aus Bukarest mit den tanzenden Nationen unten am Saum.
Ich stand an der Flurtür und suchte nach einem Wort, einem Satz oder einem Lied, mit dem ich Mutter davon abhalten konnte, erneut fortzugehen.
Die Sonne stach durch den Spalt zwischen den Vorhängen und malte ihr strenge Schatten unter die Augen und die markanten Nasenlöcher.
Sie lächelte zufrieden in sich hinein und sah mich nicht an.
An dieser Stelle wachte ich auf. Das Fieber war ein wenig gesunken.
Schon um neun rief ich Vater an.
Er ging nicht ans Telefon.
Um zehn rief ich Raimo an.
Der erzählte, dass Kerttu seit vorigem Dienstag in einem Heim für Demenzkranke wohne und seitdem garantiert nicht mehr in der Hämeentie gewesen sei.
Sofort machte ich mich dorthin auf.
Aber
bereits am Nordufer bleibt sie stehen, denn hinter den schlaffen Linden liegt das ölig-stille Meer, auf dem ein Schoner mit roten Segeln geruhsam dahingleitet.
Den Schoner prägt sie sich ein.
Sie braucht ihn und das Meer und diesen Moment dringend und betet, er möge nicht enden, damit sie nicht in die Hämeentie gehen, die Tür aufmachen und vorfinden muss, was sie schon vorzufinden weiß, auf der anderen Seite.
Letztes Jahr im Juni hat Vater das Sommerhaus verkauft.
Als ich meine Sachen abholte, schaute ich nicht mehr auf den See, aber ich wusste, dass er glitzerte und die Birken das saftige Grün des Frühsommers feierten, so, wie wir es seit achtundzwanzig Jahren bewundert hatten.
Im November musste Vater sich im Gesundheitszentrum einen Gehstock holen, und im Januar verkaufte er das Auto.
Als der Lada in die Päijänteentie einbog und verschwand, bemerkte Vater seinen Fehler, umklammerte meinen Arm und stützte sich mit der freien Hand an der Betonwand der Garage ab.
»Jetzt habe ich gar nichts mehr.«
Im März war die Beerdigung von Jopi, einem alten Verwandten.
Ich holte Vater ein Schinkenbrot und ein Stück Karamellkuchen vom Büfett im neuen Gemeindehaus, das irgendwann plötzlich neben dem Friedhof Malmi aufgetaucht war; das Speisenangebot für den Leichenschmaus hatte ich im Laufe der letzten Jahre gründlich kennengelernt.
»Nach und nach verschwinden alle«, klagte Vater,
und
wieder muss sie vor der abgenutzten Trostlosigkeit seiner Stimme fliehen, und so ist sie mitten im gleichmütigen Kerzenlicht und dem kühlen Klirren der Kaffeetassen weit, weit weg, auf einem glitzernden Meer ohne...
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