Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Februar 1766 bei Büdingen
Waidbach, Februar 1766
Ihr könnt jetzt zu ihr gehen.« Ein kalter Lufthauch wehte aus der mit Vorhängen abgedunkelten Kammer, als Pastor Jäckel heraustrat. Er zog den Kopf mit dem grauen Haarkranz ein, um nicht gegen den Balken zu stoßen.
Er nickte Christina zu, die vor der Tür gewartet hatte, und nahm dann die hinter ihr stehende Eleonora in die Arme. Christina sah, wie er die knochigen Schultern beugte, ihre Schwester an sich drückte und ihr dabei über den Rücken streichelte.
Christina hob das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. Dass sie nicht zu seinen liebsten Schäfchen in der Gemeinde zählte, war kein Geheimnis. Doch wen kratzte das? Wer brauchte die Zuwendung eines weltfremden Pfaffen? Er sollte seines Amtes walten, wann immer er gebraucht wurde wie jetzt am Sterbebett ihrer Mutter, und sich ansonsten aus den Dingen heraushalten, die ihn nichts angingen.
Ob er Mitleid für ihre Schwester empfand? Weil der verfluchte Krieg ihr früh den Mann genommen hatte und sie mit ihrer knapp dreijährigen Tochter zusehen musste, wie sie über die Runden kam?
Aber nein. Nicht die Umstände erwärmten des Pastors Herz für ihre Schwester und ließen eine Zornesfalte zwischen seinen Brauen wachsen, wann immer er in ihre, Christinas, Richtung blickte. Es lag an ihren unterschiedlichen Wesen.
Dem Pastor passte es seit ihrer Jugend nicht, dass sie das Leben in vollen Zügen zu genießen verstand und sich mit flinken Fingern als Erste die Rosinen herauspickte, wo immer es Kuchen gab.
Das bescheidene Auftreten ihrer Schwester hingegen, ihre Sanftmut, ihr Gemeinschaftssinn und ihr geradliniges Denken fanden seine Zustimmung und zauberten, wann immer er ihr begegnete, ein Lächeln auf sein langes, faltiges Gesicht.
»Komm jetzt!« Sie packte Eleonora an der Schürze, die sie über ihrem Winterkleid trug, und riss sie aus der Umklammerung des Geistlichen.
»Ich will auch zu Mutter, ich will auch!« Die Stimme der achtjährigen Klara erklang aus der Wohnstube, dann das Poltern, als sie die drei Stufen hinauf zum ersten Stockwerk des Fachwerkhauses hastete.
»Pst«, zischte Christina ihr zu.
Pastor Jäckel nahm Klaras von Sommersprossen übersätes Gesicht in beide Hände und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Geh mit deinen Schwestern, Klara, und nimm Abschied in Würde!«
»Abschied? Oh, nein, Herr Pastor, bitte nicht. Bitte machen Sie, dass sie noch nicht stirbt! Sie darf noch nicht sterben. Was soll aus uns werden, wenn sie nicht mehr da ist? Bitte, Herr Pastor, helfen Sie ihr .«
»Kindchen, Kindchen .« Der Geistliche presste das Mädchen an sich, streichelte über die Zöpfe. »Gott ruft sie zu sich. Ihre Stunde ist gekommen. Hilf ihr, in Ruhe und Frieden zu gehen!«
Klaras Schluchzen an seinem Bauch verebbte. Zitternd zog sie die Nase hoch und wischte sie mit dem Blusenärmel ab.
Eleonora drängte sich in dem engen Flur, in dem sich der Geruch nach feuchtem Holz mit dem abgestandenen Rauch des Bollerofens aus der Küche mischte, an dem Pastor vorbei. »Wo ist Sophia? Hast du nicht gerade noch mit ihr gespielt, Klara?«
Christina unterdrückte ein Seufzen. Selbst in der Todesstunde der Mutter galt die Sorge ihrer Schwester wie stets dem Töchterchen.
Klara wies mit dem Arm in die Wohnstube. »Sie spielt mit dem Kochgeschirr und den Löffeln auf den Dielen. Ich habe ihr eine Wolldecke untergelegt, wegen der Kälte vom Boden.«
Eleonora linste um die Ecke, um sich selbst zu vergewissern, dass es dem Kind an nichts fehlte.
Nacheinander betraten die drei Schwestern das Sterbezimmer der Mutter. Das bittere Aroma von Kräutern überlagerte den Modergeruch der Holzbalken. Der Doktor hatte Anweisung gegeben, die Fenster nicht mehr zu öffnen, und so wölkte sich seit Tagen über dem Holzbett etwas wie der Hauch des Todes, den Theresa Weber mit jedem Ausatmen verströmte.
Christina setzte sich auf den einzigen Hocker. Das Holz knarrte. Rechts von ihr ging Eleonora auf die Knie. Klara kauerte sich ans Fußende, umklammerte durch die Laken hindurch die Beine der Mutter und bettete den Kopf in ihren Schoß.
»Mutter .« Christinas Stimme klang belegt, als sie das Gesicht der Sterbenden betrachtete. Wächsern wölbten sich die Wangenknochen unter der grauen Haut. Die Augen lagen tief in den Höhlen, von Schatten umgeben. Der Mund war eingefallen, die Lippen nach innen geglitten. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem Tuch.
Theresa griff nach Christinas Ellbogen, mit der anderen Hand tastete sie nach Eleonora. Theresas Blick unter halb geschlossenen Lidern heftete sich auf Christina. »Du musst es mir versprechen«, hauchte sie.
Christinas Herz begann zu pochen, während sie näher mit dem Ohr an den Mund der Sterbenden ging. »Was soll ich dir versprechen, Mutter? Was?«
»Du musst mir versprechen, dass du dich um deine Schwestern kümmerst. Dass du die Weberei fortführst mit allen Kräften .« Ein Hustenanfall unterbrach Theresa. Endlich beruhigte sie sich so weit, dass sie fortfahren konnte. »Die Weberei ist alles, was ihr besitzt. Ihr müsst neue Kunden gewinnen, reichere Kunden, bessere Garne erwerben, nicht nur den Flachs von der Wiese verspinnen . Der Pastor wird euch helfen .«
»Mutter, die Weberei . ich . Ich verspreche dir, dass ich die Schwestern nicht im Stich lasse. Wir werden einen Weg finden. Du kannst in Frieden schlafen, wir werden es schaffen.«
»Die Weberei, Christina, das Lebenswerk eures Vaters. Er hat es sich so sehr gewünscht .«
»Ja, Mutter, wir versprechen es!« Klara unterbrach das Flüstern der beiden. »Wir versprechen, dass wir die Weberei fortführen! Ich werde von morgens bis abends am Webstuhl sitzen, des Nachts das Spinnrad treten und mich bis nach Büdingen umhören, wo Leinwand vonnöten ist, damit wir neue Aufträge bekommen.«
Christina schoss ihr einen strafenden Blick zu, sah dann zu Eleonora, die die Stirn auf die Hand der Mutter gedrückt hielt.
Christina strich der Mutter die Haare aus dem Gesicht. »Ich werde mich um alles kümmern. Du kannst dich auf mich verlassen. Uns wird es besser gehen als jemals zuvor, das schwöre ich dir beim Andenken unseres Vaters.«
Eigentlich hätte es Eleonora zugestanden, dieses letzte Gespräch mit der Mutter zu führen. Mit ihren einundzwanzig Jahren war sie die älteste der drei Weber-Töchter, Christina ein Jahr jünger. Klara war gerade erst acht geworden.
Es stellte aber schon seit vielen Jahren unter den Weber-Frauen niemand infrage, dass Christina bei allen wichtigen Entscheidungen das Sagen hatte. Wie lebenstüchtig, schlau und zäh sie war, hatte sie bei vielerlei Gelegenheiten in ihrem Weiberhaushalt bewiesen. Sie war diejenige, die immer einen Laib Brot, einen Korb Eier oder ein Huhn von irgendwoher auftrieb, wenn der Hunger drückte. Die irgendein Mannsbild - einen Knecht vom Nachbarhof, einen Gesellen auf der Wanderschaft - ins Haus schob, wenn der alte Webstuhl im Kellergewölbe mal wieder hakte und sich festgezurrt hatte. Die eine Handvoll fröhlicher Mägde überredete, beim Spinnen zu helfen, und ihnen dafür als Lohn im Weber-Haus lustige Gesellschaft mit den Burschen aus der Nachbarschaft bot.
Christina füllte diese Führungsrolle in der Familie mit Selbstverständlichkeit aus, und Eleonora war nicht der Typ Frau, der sie ihr streitig machte. Klara war von einem anderen Schlag, aber wiederum viel zu jung, als dass sie überhaupt jemand ernst nahm.
»Ruhe in Frieden, Mutter«, flüsterte Eleonora nun, da die Atemzüge der Mutter immer dünner wurden und sich ein Engelslächeln wie von einem Neugeborenen auf ihren Zügen ausbreitete.
»Ruhe in Frieden«, sagte Christina in dem Moment, als Theresa ihren letzten Atemzug tat und die Luft kaum vernehmbar zwischen ihren Lippen ausströmte. Klara schluchzte auf.
Eleonoras und Klaras Augen waren immer noch rot verquollen, als die drei Schwestern wenig später in der Stube saßen und heiße Milch tranken. Gleich würde der Tischler klopfen. Wie stets würde er der erste Dorfbewohner sein, der Eintritt ins Trauerhaus erhielt, um die Maße für den Sarg zu nehmen.
Sie wärmten ihre Finger an den Bechern, aber die Kälte in ihrem Inneren blieb.
»Wie geht es weiter mit der Weberei?«, fragte Klara schließlich. Sie streckte Sophia einladend die Arme entgegen, aber das Kind kuschelte sich nur noch enger auf dem Schoß der Mutter zusammen. Eleonora schlang die Arme um ihr Töchterchen, als müsste sie es beschützen vor dem Tod, der durch das Haus geschlichen war und sich geholt hatte, wonach ihm verlangte.
»Gar nicht geht es weiter mit der Weberei«, gab Christina zurück. Der Tod der Mutter verursachte ein Ziehen in ihrem Herzen. Andererseits kam er nicht unerwartet - sie hatten sich seit vielen Wochen, in denen die Mutter das Bett nicht mehr verlassen hatte und nicht einmal die dünne Suppe bei sich behalten konnte, darauf vorbereitet.
Klara erstarrte.
Eleonora blickte ihre Schwester an. »Was hast du vor?«
Noch bevor sie antworten konnte, sprang Klara so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden polterte und gegen das Spinnrad stieß. Mit dem Zeigefinger wies sie auf ihre Schwester, als wollte sie sie aufspießen. »Du hast es ihr versprochen! Du...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.