Schweitzer Fachinformationen
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Buch 1
1780-1781
Das alles haben wir mit unseren Händen geschaffen, dachte Klara, während ihr Blick die von Holzhäusern gesäumte Dorfstraße entlang bis zum Kirchplatz ging. Dort bildete das weiß getünchte Gotteshaus das Herz der Kolonie Waidbach.
In den Bauerngärten sprossen Frühblüher, Tulipane und Narzissen, das Grün an den Zweigen vereinzelter Apfel- und Pflaumenbäume leuchtete in der Mittagssonne.
Klara legte eine Hand voll Frühlingslauch in den Weidenkorb, der über ihrem Arm baumelte, und stemmte die Hand in den Rücken. Sie ächzte und lächelte zugleich.
Was war schon ein drückendes Kreuz gegen das Leid der letzten vierzehn Jahre, in denen sie sich hier auf der Bergseite der Wolga eine neue Heimat aufgebaut hatten?
Aus der Hütte hinter ihr drangen Klappern, Kinderrufen und das Weinen der Kleinen. Die vertrauten Geräusche mischten sich mit dem Rauschen des Aprilwindes durch das Steppengras, das die Kolonie umgab.
Ein Scheppern erklang. Klara lauschte für einen Moment. Hatte Amelia die Holzschüsseln, mit denen sie den Tisch für das Mittagsmahl decken wollte, fallen gelassen? Die knapp einjährige Henny quäkte. Amelia begann zu singen, laut und klar, ein Lied aus der alten Heimat, das Klara ihrer Ältesten selbst gern vorsang, wenn sie abends nicht einschlafen konnte. Es waren zwei Königskinder .
Wie gut sich die Tochter Melodie und Text gemerkt hatte, wie rein ihre Stimme tönte und die jüngere Schwester beruhigte.
Ihre beiden Mädchen.
Wann immer Klara die Kinder lachen oder singen hörte, den Sommerwiesenduft ihrer Haare einsog, ging ihr das Herz über vor Glück. Dass ein Mensch so viel Liebe empfinden konnte, hätte Klara nicht für möglich gehalten, bevor sie mit Sebastian vor den Traualtar getreten war.
Sie streichelte über ihren wachsenden Bauch, bevor sie erneut in die Hocke ging, um weitere Lauchstangen abzuschneiden und das Unkraut zu jäten.
Amelia trat aus der Haustür, mit nackten Füßen und einer geflickten Schürze über dem Trägerrock. Klara stellte den Korb ab, bückte sich und öffnete die Arme. Das Mädchen schmiegte sich an sie.
»Essen wir jetzt, Mutter? Ich hab Hunger wie ein Wolf.« Ein bittender Ausdruck trat in ihre schlehenblauen Augen.
Klara küsste sie auf den Scheitel. Ihre Haare, mit all den Farben des Herbstlaubs wie ihr eigenes, waren an den Seiten geflochten und zu taudicken Schnecken gedreht. »Fangt schon ohne mich an.«
Amelia nickte und lief zurück ins Haus.
»Nimm deine Schwester auf den Schoß, wenn du sie fütterst!«, rief Klara ihr noch nach und fragte sich einmal mehr, ob sie der Vierjährigen nicht zu viel zumutete.
Die anderen Mädchen und Jungen in diesem Alter verbrachten die Tage in der Kinderstube. Diese grenzte an die Dorfschule, die Anton von Kersen mit Rute und Zeigestock führte. Alle Waidbacher brachten die Kinder in diese dörflichen Einrichtungen, damit die Erwachsenen ihrem Tagwerk auf den Äckern, an den Schutzwällen, im Backhaus oder in der Mühle nachgehen konnten.
Dass Amelia nicht die Kinderstube besuchte, lag daran, dass Klara sich kaum von ihr trennen mochte. Und warum denn auch? Klara wuselte nur in der Nähe des Hauses herum, fegte, putzte, kochte, kümmerte sich um den Garten - da störte das Kind nicht, konnte ihr gar bei der Pflege des Geschwisterkindes zur Hand gehen.
Ihr Haus erschien ihr nicht nur wie ein Platz zum Wohnen, Essen, Schlafen, sondern wie der sicherste Ort der Welt. Ein Ort, der ihr Recht, Schutz und Frieden bot. Am behaglichsten fühlte sich Klara, wenn sich all ihre Lieben um sie scharten.
Das Dorf lag still, nur das Hämmern aus der Schmiede erklang gedämpft, ein Schwarm Krähen rief sein Kra-kra über die Dächer. Ab und zu drang aus den geöffneten Fenstern der Dorfschule ein Kinderlachen, ein Weinen oder ein gemeinsam gesungenes Lied mit dünnen Stimmen und dem Bass des Lehrers.
Sie beschattete die Augen mit einer Hand, als eine Gruppe zerlumpter Männer und Frauen aus der Kirche schlurfte. Ihnen voran schritt erhobenen Hauptes Pastor Laurentius Ruppelin, die Hände vor der Brust gefaltet, den massigen Körper leicht gebeugt. Sonnenstrahlen schimmerten auf seinen grauen Haarbüscheln. Er hatte schon einige Jahre auf dem Buckel, wirkte aber lebendig wie ein knorriger, trutziger Baum.
Klara richtete sich auf und trat an den Lattenzaun, der ihren Garten umgab. Sie reckte den Hals, kniff die Augen zusammen.
Was waren das für Leute? Sie zählte ein knappes Dutzend, Erwachsene und Kinder: abgerissene Gestalten in durchlöcherter, vor Schmutz starrender Kleidung, Lumpen um die Füße gewickelt.
Die Worte des Pfarrers wehten zu ihr herüber, ohne dass sie sie verstand. Die Fremden trotteten schweigend, als wären sie zu ermattet oder zu krank, um zu sprechen.
Weitere Einwanderer?
Klaras Magen verkrampfte sich, sie drückte die Handflächen auf ihren Leib, als müsste sie das Ungeborene vor Gefahr bewahren. Ihr Blick flackerte zum Haus. Durch die geöffnete Tür sah sie, dass die Kinder sich über eine Schüssel beugten.
Unvermittelte Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie war ihr vertraut, und meistens kam sie grundlos. Sebastian schimpfte sie lachend ein Hühnchen, sobald er mitbekam, dass sie sich in ihre Furcht hineinsteigerte und sich aufplusterte wie ein Federvieh über dem Gelege.
Immer wieder mal trafen weitere Kolonisten aus den deutschen Gebieten ein, setzten sich hier in Waidbach ins gemachte Nest. Tief in ihrem Inneren wusste Klara, dass sie die Landsleute zu Unrecht verurteilte und dass die Neuen ein Anrecht auf ein Willkommen und eine Unterkunft hatten. Wenigstens das, wenn sie schon nicht das erhoffte Paradies vorfanden.
Auch diese Leute mühten sich, genau wie die erste Generation, zu Tode erschöpft, verlaust und entwurzelt, Tausende von Meilen von der deutschen Heimat entfernt, ein neues Leben aus dem Nichts aufzubauen. Die meisten hatten, genau wie die Koloniegründer, den Großteil des ursprünglich verschnürten Gepäcks auf dem Weg gelassen, weil die Last zu schwer wurde. Auch ihre Träume.
Als die Gruppe näher kam, verstand Klara Satzfetzen. Pastor Ruppelin wies mal nach rechts, mal nach links, erklärte den Leuten, was sie wo fanden. Das Arzthaus, in dem der Medicus Cornelius Frangen die Verletzten und Kranken heilte; die angrenzende Apotheke von Anja Röhrich; die Dorfschenke, in der an den Festtagen die Dielen im Polkatakt knarzten; den Krämerladen, in dem es nach Seife und Fallobst, nach Most und Bienenwachs roch; die Schmiede, aus der das Klirren von Metall auf Metall drang und hin wieder ein Zischen.
Dem Dorfschulzen Bernhard oblag die Pflicht, die Neuen einzuweisen, aber der ackerte wohl mit den anderen auf den Feldern. Den Pfarrer freute es, sich wichtigtun zu dürfen.
Klara verengte die Lider zu Schlitzen, um die Gesichter erkennen zu können. Doch die Ankömmlinge schleppten sich gebeugt und hielten die Köpfe gesenkt, als fehlte ihnen die Kraft, aufrecht zu gehen.
Klara zählte drei Männer, drei Frauen und eine Traube von Kindern. Wo würden die unterkommen? Hoffentlich würde der Pastor ihnen ein Baugrundstück am äußersten Ortsrand abstecken. Während der Übergangstage durften sie allerdings das Gästehaus nutzen, das zum Pfarrhaus gehörte.
Die Waidbacher galten als hilfsbereit, der Bau der Hütten würde nicht mehr als einen Monat dauern. Dann konnten die Neuen einziehen und damit beginnen, sich ihren Platz in der Gemeinschaft zu suchen.
Was für eine Bequemlichkeit, ging es Klara durch den Sinn. Mit Schaudern dachte sie an ihre eigene Ankunft hier auf der Bergseite der Wolga. Wie sie sich mit ihren Schwestern und Mitreisenden fassungslos umgesehen hatte, weil es nicht das geringste Anzeichen gab, dass hier jemals schon Menschen gelebt hatten. Eine Wildnis - und diese Erdhöhlen, in denen sie den ersten Winter über schliefen, kochten und auf das Licht des Frühjahrs warteten, ohne Hoffnung, ohne Kraft, ohne Zuversicht.
Dennoch hatten sie es nach der Schneeschmelze geschafft, in dieser Ödnis Häuser zu zimmern und in den Jahren danach eine Dorfgemeinschaft zu entwickeln, in der ein jeder seine Verantwortung trug und keiner hungern musste.
Klara erinnerte sich an ihre Weigerung, die deutsche Heimat zu verlassen, an das Gefühl von Fremdheit, als sie sich zum ersten Mal in diesem entlegenen Landstrich umgesehen hatte.
Ohne Sebastian wäre sie verloren gewesen.
Ihre beiden Schwestern, die mit ihr reisten, erwiesen sich als wenig verlässliche Stützen. Die älteste, Christina, ertrug den Dorfalltag nicht und floh nach St. Petersburg. Die zweite, Eleonora, fand ihr Glück an der Seite des Knechts Matthias im nahe gelegenen Saratow.
So war Klara als Einzige der drei hessischen Webertöchter, die im Februar 1766 dem Ruf der russischen Kaiserin Katharina gefolgt waren, in der Kolonie Waidbach verblieben.
Das Leben hatte Klara gelehrt, wie leicht man verlieren konnte, was man liebte, und wie weh der Verlust tat. Ihre Mutter, die Schwestern, vermeintliche Freunde und einmal sogar fast sich selbst . Die Angst in ihr lauerte hellwach.
Aber gegen die Furcht stand ihr kriegerischer Wille, diejenigen zu schützen, die jetzt zu ihr gehörten: ihre Töchter und ihren Mann. Eine heile Welt in einer schmucken...
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