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Die Augen des Hundes flackerten kurz und öffneten sich mit einem Mal. Sie sahen aus wie vom Regen geschliffene schwarze Kiesel. Er blickte mich an. Hilflos. Hoffend.
«Ich bring dich nach Hause», sagte ich noch einmal, damit er nicht sogleich wieder die Lider schloss.
«Wirklich?», fragte er kaum hörbar.
«Wirklich. Aber dafür musst du aufstehen und mir folgen.» Und tatsächlich richtete sich der Fremde langsam auf. Erst rollte er sich auf den Bauch, dann stellte er die zittrigen Beine auf. Ich merkte ihm an, dass es ihn alle Kraft kostete und es ihm anfangs noch schwerfiel, auf der verletzten Pfote zu stehen.
«Kennst du denn den Weg?» Seine Stimme war nun ein wenig deutlicher. Die Hoffnung schien ihn zu stärken.
«Du kennst ihn nicht?», fragte ich erstaunt zurück.
«Nein», antwortete er traurig.
Der Fremde hatte sich ganz offensichtlich verirrt. Wenn ich ihn nicht weiter anlog, würde er wieder mutlos in sich zusammensinken. So antwortete ich: «Dafür weiß ich aber, wie du nach Hause kommst.»
«Schön», sagte er erleichtert und stand gleich ein wenig fester. Er glaubte mir. Ich musste ihn jetzt nur noch ein paar Schritte in den Schatten führen, der ihn vor der Sonne schützte. Dort konnte der Fremde genug Kraft schöpfen, um die Nacht zu überleben. Aber plötzlich kam mir ein fürchterlicher Gedanke: Wenn Blitz ihn hier entdeckte, würde er unser Revier gegen den Eindringling mit aller Macht verteidigen. Gegen meinen Bruder hätte der harmlose Fremde keine Chance. Blitz würde ihm nicht nur das Auge ausreißen, er würde ihn töten. Um Gnade für den schwarzen Hund könnte ich nicht bitten. Auf mich würde Blitz nicht hören. Das hatte er noch nie getan, und seitdem ich ihm nicht den Gefallen getan hatte zu sterben, redete Blitz nicht einmal mehr mit mir. Mein Bruder wartete, so war jedenfalls mein Gefühl, doch nur auf den geeigneten Anlass, um mich zu verjagen. Ich war immerhin die Einzige, die es gewagt hatte, seinen Führungsanspruch in Frage zu stellen. Wenn ich mich für den Fremden einsetzte, würde er mich aus dem Rudel verstoßen. Nur, wo sollte ich dann hin?
«Wir müssen dir erst einmal einen sicheren Platz für die Nacht suchen», sagte ich zu dem schwarzen Hund.
«Ich will aber nach Hause», protestierte er. Seine Stimme war überraschend tief, sogar dunkler als die von Erstgeborenem. Sie musste beeindruckend klingen, wenn der Fremde bellte.
«Du bist zu schwach für einen langen Marsch.»
Der schwarze Hund wollte schon widersprechen, aber er schien zu merken, dass ich recht hatte. Fieberhaft dachte ich nach, wo er die Nacht sicher verbringen könnte. Auf der Müllkippe gab es keinen solchen Ort. Ich musste ihn also zum Fluss bringen. Das Wasser hatte Mama uns immer verboten. Sie sagte, wenn wir hineinspringen, würden wir untergehen und keine Luft mehr bekommen. Um uns zu zeigen, dass uns das Wasser die Luft zum Atmen nahm, ließ sie uns beim nächsten Gewitter die offenen Mäuler gen Himmel halten. Wir durften die Regentropfen erst ausspucken, wenn Mama uns die Erlaubnis dazu gab. Unsere Schnauzen füllten sich, ich sah die panikgeweiteten Augen meiner Geschwister. Es war das erste Mal, dass ich ahnte, ich könnte die Mutigste von uns sein. Erst als Mama uns erlaubte, das Wasser auszuspucken, ging es uns wieder ein wenig besser. Seit diesem Tag hatten wir mehr als nur Respekt vor dem Fluss. Wir hatten Todesangst.
Ich hatte gedacht, Mama wollte mit dieser Prüfung nur sicherstellen, dass wir nicht ertranken, aber mein schmächtiger Bruder Denker, sicherlich der Klügste von uns, war anderer Meinung. Denker argwöhnte, unsere Mutter wolle verhindern, dass eines ihrer Kinder jemals in die Stadt lief, in der sie vermutlich schreckliche Dinge mit den Menschen erlebt hatte, von denen sie uns nichts erzählen mochte. Denker glaubte gar zu wissen, dass Mama uns etwas verheimlichte. Immer wieder nannte sie ihn Klein, obwohl er nicht so hieß. Und Blitz nannte sie manchmal Wolf. Aber es waren keine neuen Namen, die sie ihnen gab, sondern schlicht falsche. Mama wirkte dann immer ein wenig verwirrt. Und danach tieftraurig, als wäre ihr ganzer Körper in Schatten gehüllt.
Als sie Denker an einem Tag gleich zweimal Klein nannte, sagte er vor dem Einschlafen zu mir: «Ich schätze, sie hatte vor uns schon einmal einen Wurf Welpen. Auf der anderen Seite des Flusses. In der Stadt. Und die sind alle gestorben.» Daran musste ich fortan immer denken, wenn Mama nachts von einem Berg der Müllkippe auf die Lichter der Stadt blickte.
«Komm mit», sagte ich jetzt zu dem Fremden, ging voran und merkte erst nach ein paar Schritten, dass er mit seiner verletzten Pfote nur humpeln konnte. Ich passte mich seinem Tempo an und lief stets zwei Hundelängen voraus. Ich überlegte mir, was für ihn besser war: den direkten Weg über die Müllberge zu nehmen oder unten um sie herum zu marschieren, auch wenn dies die längere Strecke war. Kaum hatte ich das gedacht, staunte ich über mich: Warum überlegte ich überhaupt? Ich führte, er musste folgen! Ich wählte den direkten Weg, und er kam hinterher, ohne zu jammern, obwohl ihm seine Verletzung und die Hitze sicher schwer zusetzten. Auch ich hechelte, sobald wir aus dem Schatten traten und uns in der prallen Sonne die Müllberge hinaufkämpften. Der Fremde sagte die ganze Zeit kein Wort. Und auch ich schwieg. So musste ich ihn nicht weiter anlügen.
Nach drei Müllbergen blieb der schwarze Hund im Schatten stehen. Ich hätte ihn antreiben sollen, war ich doch die Anführerin, aber auch ich war froh über eine kleine Verschnaufpause.
«Ich heiße Max», sagte er unvermittelt und mit der Klarheit eines Hundes, der nur einen Namen im Leben hatte.
«Was bedeutet Max?», fragte ich, hatte ich dieses Wort doch noch nie gehört.
«Es ist einfach nur mein Name.»
«Aber er muss doch eine Bedeutung haben.»
«Es ist einfach der Name, den mir mein Frauchen gegeben hat.»
«Frauchen? Meinst du deine Mutter?», hakte ich nach und setzte mich wieder in Bewegung. Jetzt jedoch gingen wir nebeneinander.
«Meine Mutter hat mir nie einen Namen gegeben», sagte er.
«Ist sie bei der Geburt gestorben?» Mama hatte mir und meiner Schwester Lied erklärt, dass so etwas manchmal passierte. Im Gegensatz zu Lied hatte mir ihre Warnung keine Angst eingeflößt. Entstellt wie ich war, würde ich ohnehin keinen Hund finden, der mit mir Nachkommen zeugen wollte.
«Nein, meine Mama war ganz gesund», antwortete der Fremde mit dem ungewöhnlichen Namen. «Sie sagte zu uns: Ich bekomme so viele Kinder, und ich muss mich von allen trennen. Da will ich euch keine Namen geben.»
Das klang schrecklich. Und sinnlos. Das machte es noch fürchterlicher.
«Was ist mit den Welpen deiner Mutter passiert?», fragte ich.
«Mich hat sie an mein Frauchen verschenkt.»
«Du hast mir immer noch nicht gesagt, was das ist, ein Frauchen?»
«Du weißt nicht, was ein Frauchen ist?»
«Nein, verdammt noch mal!»
«Der Mensch, der für mich da ist», erklärte der Fremde, als wäre es das Natürlichste von der Welt.
Was redete er da? Eine Mutter, die ihre Kinder verschenkte? Ein Mensch, der für ihn da war? Das war doch Irrsinn! Die Sonne musste ihm mehr zugesetzt haben, als ich dachte. Ich sah in seine Augen. Sein Blick war nicht irre, sondern klar. Jedenfalls klarer als der meiner Mutter, als sie meine Geschwister mit falschen Namen ansprach oder diese in ihren letzten Nächten gar in den Nachthimmel jaulte: Klein. Wolf. Tänzerin. Glas.
Mama hatte ihrem ersten Wurf Namen gegeben. Und uns auch. Meine Mutter hatte mich geliebt. Die meiste Zeit jedenfalls. Vielleicht bis ans Ende. Falls der Schmerz, der sie zerfraß, nicht alle Liebe in ihr abgetötet hatte. Etwas, was ich selbst in meinen finstersten Stunden nie glauben wollte.
«Was ist mit deinem Auge geschehen?», fragte der Fremde.
«Das geht dich nichts an», zischte ich.
«Es muss sehr weh getan haben», sagte er sanft.
Mitgefühl. Keines meiner Geschwister hat je so etwas geäußert. Auch Erstgeborener nicht, als er mir das Wasser brachte. Er hatte nur nicht gewollt, dass ich vor Mama starb, und erzählte was von der natürlichen Abfolge des Todes, die es zu bewahren galt. Ich hätte auch kein Mitgefühl gewollt. Und das des Fremden machte mich wütend. Weil ich mich schwach fühlte. Ich war nicht schwach!
Ich lief wieder voran und schwieg, hoffte, der schwarze Hund würde meinem Beispiel folgen. Als er wieder sprach, klang es fast so, als habe er durch sein Mitgefühl selbst an Kraft gewonnen: «Wie ist das mit deinem Auge geschehen?»
«Ich hab gesagt: Das geht dich nichts an!», kläffte ich nun.
«Ich wollte dich nicht verärgern. Verzeih.»
Verzeih? Wenn man als Hund einen Fehler begeht, dann schweigt man! Um Verzeihung zu bitten war ein Zeichen von Schwäche wie das Jaulen bei Schmerz. Ich sollte diesen Weichling auf der Stelle allein lassen, sollte er doch sehen, wie er mit den Ratten klarkam. Oder mit Blitz.
«Und wie heißt du?», fragte er.
Ich schnaubte verächtlich.
«Willst du es mir nicht sagen?»
«Kannst du es nicht erraten?»
«Nein, kann ich nicht», antwortete er erstaunt.
«Narbe», zischte ich noch verächtlicher.
In seinen Augen lag nun noch mehr Mitgefühl. Damit er jetzt das Maul hielt, knurrte ich. Schweigend erklommen wir den letzten Müllberg. Man konnte das Wasser bereits riechen, da flüsterte der Fremde mit einem Mal: «Danke.»
«Danke?»
Denker war der Letzte gewesen, der mir gedankt hatte. In jener Nacht, als ihm klarwurde, dass Mama vor uns schon einmal Welpen geboren und sie verloren hatte....
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