Schweitzer Fachinformationen
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Ein gelber Zitronenfalter tänzelte durch die Luft. Stella reckte sich und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. Solange sie denken konnte, hatte sie der Anblick eines Schmetterlings berührt. Besonders die Zitronenfalter im Frühling. Sie spürte es sogar körperlich, denn sie bekam eine Gänsehaut, und mit jedem Flügelschlag schoss ihr Puls nach oben und trieb ihr die Hitze ins Gesicht, wie berauscht war sie dann. Dabei hatte sie das Gefühl, als überbrachten ihr die kleinen Tierchen eine Botschaft. Los, komm schon! Es ist an der Zeit! Sie wusste zwar nie genau, was das bedeuten sollte, aber oft, wenn sie den ersten Schmetterling des Jahres gesichtet hatte, veränderte sie irgendetwas in ihrem Leben. Das konnten Kleinigkeiten sein wie ein neuer Haarschnitt oder die Anschaffung eines ausgefallenen Möbelstücks oder auch größere Veränderungen wie ein neuer Job, eine neue Wohnung oder der Umzug in eine andere Stadt. Dabei war es nie so, dass sie mit dem, was sie hatte, unglücklich war, vielmehr handelte es sich um eine Art Neugierde auf das Leben, das hinter der nächsten Wegkreuzung auf sie wartete.
Stella stand auf und folgte dem Falter. Er war hellgelb, ein Weibchen. Sie erwachten meist kurz nach den Männchen, die eine leuchtend gelbe Farbe hatten. Dieses Jahr hatte Stella noch gar kein Männchen zu Gesicht bekommen, obwohl sie, wenn es warm genug war, meist schon Ende März durch die Luft flatterten. Gerade wollte sie den Arm ausstrecken, um dem Falter einen Landeplatz anzubieten, da spürte sie, wie jemand sie an der Jeansjacke zupfte. Sie fuhr herum.
»Leo!«, rief sie und nahm ihren Sohn in die Arme.
»Was machst du?«, fragte er sie.
»Ach, ich hab nur den Zitronenfalter beobachtet. Hast du gesehen, wie schön er ist?«
Leo war sieben, er selbst würde sagen, sieben Jahre und drei Monate, und Stella kannte niemanden, der mehr auf Zack war. Jetzt blickte er vom Schmetterling zu seiner Mutter und wieder zurück.
»Das ist ein Insekt«, sagte er nüchtern. »Und die magst du doch nicht.«
Stella musste lachen und wuschelte ihm durchs Haar, dann warf sie einen letzten Blick auf den Schmetterling, der jetzt seinen Platz in einem Busch gefunden hatte, und versuchte, ihre Sehnsucht, wieder einmal den Flügelschlägen ins Ungewisse zu folgen, zu unterdrücken. Jetzt hatte sie Leo, und der brauchte festen Boden unter den Füßen und keine Mama, die bei der erstbesten Gelegenheit davonflatterte.
Sie nahm seine Hand, und so gingen sie los. Stella war dankbar für jeden Tag, an dem sie seine warme, weiche Kinderhand noch halten durfte. Die Zeit würde kommen, wenn er sie lieber in die Hosentasche steckte. Sie warf einen Blick auf ihn. Er war stiller als sonst. Normalerweise quasselte er wie ein Wasserfall, wenn er aus der Schule kam. Jedes Wort, das er von seinen Klassenkameraden und Lehrern gehört hatte, musste er loswerden. Doch heute war er ruhig, verstockt ging er neben ihr, seine Bewegungen auch nicht so ungestüm wie sonst.
»Und wie war's heute in der Schule?«, fragte sie schließlich.
»Gut«, war seine Antwort.
»Wirklich?«
Er nickte, doch nachdem sie eine Weile gelaufen waren, blickte er auf zu ihr.
»Johannes wohnt diese Woche bei seinem Papa.«
»Aha«, sagte Stella.
Johannes war einer von Leos besten Freunden, und seine Eltern hatten sich vor einiger Zeit getrennt. Von Johannes' Mutter hatte Stella schon erfahren, dass die Kinder sich an die neue Situation ganz gut gewöhnt hatten und damit klarkamen, abwechselnd eine Woche bei Mama und eine bei Papa zu wohnen.
»Er hat gefragt, warum ich nie bei meinem Papa wohne.«
»Aha«, sagte Stella erneut und merkte selbst, dass ihre Stimme angestrengter klang.
»Ich hab ihm gesagt, ich hab keinen Papa«, fuhr Leo fort. »Aber Johannes hat gemeint, jeder hat einen Papa.«
Fieberhaft dachte Stella nach. Auf den Moment hätte sie sich vorbereiten sollen. Je älter Leo wurde, desto mehr Fragen würde er stellen. Sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden.
»Und was hast du dazu gesagt?«, fragte sie, um noch ein paar Sekunden Zeit zu gewinnen.
»Das, was du immer sagst, manche Kinder haben eben zwei Mamas oder zwei Papas oder vier Eltern. Und andere Kinder nur eine Mama. Ich hab gesagt, das ist nichts Besonderes.«
»Stimmt ja auch«, sagte Stella und hoffte inständig, dass er sich damit zufriedengeben würde.
Leo sagte kein Wort, heftete seinen Blick nur stur an den Fußweg.
Stella versetzte es einen Stich. So wie jedes Mal, wenn der Zweifel sie überkam. Sie wusste, wer Leos Vater war, doch das würde sie ihm nie erzählen können.
Er hieß Lars und wohnte mit Frau und drei Kindern in Stockholm. Stella hatte mit ihm geschlafen, als er in Göteborg auf einer Konferenz gewesen war und in dem Restaurant gegessen hatte, in dem sie kellnerte. Hinterher hatte er es bereut und beteuert, dass er noch nie fremdgegangen sei und seine Frau über alles liebe. Doch Stella hatte ihn beruhigt und versichert, seine Frau müsse nichts erfahren, sie hätten einfach eine schöne Nacht miteinander verbracht und er solle ohne schlechtes Gewissen zurück in sein Familienleben gehen. Sie selbst hatte mit einem One-Night-Stand kein Problem und auch keinerlei Erwartungen, dass daraus mehr werden würde.
Rein aus Neugier hatte sie ihn hinterher auf Instagram gesucht und sich die Fotos von seiner Bilderbuchfamilie angesehen. Danach hatte sie keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet, bis zu dem Tag, drei Monate später, als sie einen Schwangerschaftstest machte und entsetzt auf zwei Striche starrte. Dann hatte sie seine Handynummer im Internet ausfindig gemacht. Sie hatte sich ihre Worte vorher gut zurechtgelegt und ihm mitgeteilt, dass er sich um das Kind nicht kümmern müsse, denn sie wisse ja, dass es seine private Situation komplett auf den Kopf stellen würde. Aber sie hatte beschlossen, das Kind zu behalten. Er reagierte erst geschockt, dann verschreckt, und am Ende mit Dankbarkeit.
Als das Jugendamt sich nach der Vaterschaft erkundigte, hatte Stella angegeben, Leo sei bei einer Kneipentour gezeugt worden, sie sei stockbetrunken gewesen und könne sich an den Mann, der der Vater ihres Sohnes war, nicht mehr erinnern, sie wisse nur noch, dass er auf der Durchreise gewesen war. Die Sorgenfalte auf der Stirn der Sachbearbeiterin war während des ganzen Gesprächs nicht gewichen, und die Frau hatte betont, dass sie die Aufgabe hätten, die Vaterschaftsfrage im Sinne des Kindeswohls zu klären. Stella hatte erwidert, das könne sie verstehen und sie wüsste es ja selbst gern - eben, um es Leo sagen zu können. Damals hatte sie sich für ihre Lüge sehr geschämt und hatte der Frau kaum in die Augen sehen können, doch sie hatte keine andere Wahl gehabt. Lars und sie hatten eine Entscheidung getroffen, und die war zum Wohle aller. Sie erhielt das alleinige Sorgerecht, und von dem Tag an waren sie ein Zweierteam, Stella und Leo. Für immer.
»Du bist mein Glückstreffer, das weißt du doch?«, sagte sie, weil ihr nichts Besseres einfiel.
Leo nickte kaum merklich.
Stella betrachtete ihren Sohn, der zwar vom Wesen her ganz anders war als sie, aber äußerlich viel Ähnlichkeit mit ihr hatte. Sie hatten blondes Haar und tiefblaue Augen, dasselbe hübsche Gesicht. Darüber war sie heilfroh, wie gut, dass er sie nicht an jemand anders erinnerte. Sie biss sich auf die Wange. Würde sie ihrem Sohn eines Tages dieselbe Lüge auftischen - dass sie sich nicht mehr erinnern konnte, wer sein Vater war? Welche Folgen hätte das wohl für ihn?
Leo zeigte auf die kleine Stadtteilbibliothek, und Stella nickte. Mit neuen Büchern kam er sicher schnell auf andere Gedanken. Leo war eine Leseratte, und nach der Schule führte der erste Weg meist in die Bücherei.
Sie folgte ihm, als er zielstrebig auf ein Regal zuging, wo das Buch, das er ausleihen wollte, stand. Das große Buch vom Weltall. Wie oft sie das ausgeliehen hatten! Leo ging an die Theke, wartete, bis er seinen PIN-Code eintippen konnte, und scannte das Buch. Dann klemmte er es unter den Arm, und so verließen sie die Bücherei. Da hüpfte er auch wieder von einem aufs andere Bein, ganz normal, und Stella atmete auf. Vielleicht hatte sich der Sturm diesmal gelegt, bevor er zum Orkan anschwoll. Ihr war klar, dass Leo die Vaterfrage wieder zur Sprache bringen würde, und sie nahm sich fest vor, bis dahin eine vernünftige Antwort parat zu haben.
Stella ging die Treppen bis zu ihrer Wohnung im dritten Stock hinauf, Leo benutzte den Fahrstuhl. Sie veranstalteten immer ein kleines Wettrennen. Heute ging Stella absichtlich etwas langsamer und ließ ihn gewinnen. Als sie die Wohnungstür aufschloss, keuchte sie übertrieben laut. Schnell streifte er im Flur seine Sneaker ab und verschwand in seinem Zimmer. Stella ließ die Schuhe einfach liegen, machte es sich in dem großen Rattan-Pfauensessel bequem und schnürte in Ruhe ihre weinroten Stiefel auf.
Den Stuhl hatte sie auf einem Flohmarkt gefunden. Wenn man in die Wohnung kommt und als Erstes auf ein Möbelstück blickt, auf dem schon so viele legendäre Frauen posiert haben - Elizabeth Taylor, Marilyn Monroe, Zsa Zsa Gabor -, dann kann der Tag nicht mehr schlecht werden, hatte sie sich gedacht und ihn mit Leos Hilfe nach Hause geschleppt. Er hatte es ziemlich peinlich gefunden, mit dem auffälligen Stuhl in der Straßenbahn, aber Stella war ganz im Glück gewesen und hatte die Blicke der anderen Fahrgäste einfach ignoriert.
Sie schmunzelte und fuhr über die Armlehnen. Sie hatte recht behalten, allein da Platz zu nehmen, machte glücklich. Sie stand wieder auf,...
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