Schweitzer Fachinformationen
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Montag
Heute Morgen bin ich wieder vor ihr aufgewacht; wieder war die Jalousie oben und der kalkig blaue Himmel zu sehen. Ein dumpfes, pudriges Licht bestäubte das Meer und ihren Leib. Sie hat die Decke im Schlaf beiseitegeschoben und sich flach auf dem Rücken ausgestreckt, liegt mit gespreizten Gliedern da, halbnackt und wehrlos, wie an Land gespült, und atmet kaum merklich. Ihre Brüste platt auf dem Brustkorb, dazwischen die Kuhle ihres Brustbeins; der Grat einer jeden Rippe; die aufragenden Hüftknochen, die im fahlen Morgenlicht einen blassvioletten Schatten auf ihre Haut werfen. Seitlich eine blaue Stelle, als hätte ein Daumen in die Kuhle gedrückt. Ich frage mich, woher sie stammt. Sie bekommt, sagt sie, schnell blaue Flecken. Ihre Handflächen sind nach oben gekehrt und die Finger leicht gekrümmt, als hätte sie eben erst etwas Kostbares losgelassen. Die glatten Flächen ihres nordischen Gesichts. Die Brauen so hell, dass man sie kaum sieht, buschig wie Tierfell stehen sie auf dem Knochen. Ein leises, leises Schnarchen.
»Bist du wach?«, hat sie mich in der Nacht gefragt. War ich nicht ganz, aber hören konnte ich sie; sie rief mich aus dem Schlaf.
Was ist denn?, fragte ich und schob eine Hand hinter mich, um nach ihr zu tasten. Kannst du nicht schlafen?
»Ich habe wieder geträumt«, sagte sie. »Aus den Felsen kam Wasser. Ich stand unten am Strand, das Meer hat geglitzert, und Wasserfälle sind über die Klippen geströmt . und dann hörte ich ein Knacken und sah, wie ein riesiger Riss durch den Felsen lief. Das Wasser brach hindurch und spülte mich weg, ich verlor den Bodenkontakt und musste an die Oberfläche strampeln, und dann sah ich, dass der ganze Felsen, die ganze Insel auseinanderbrach, und alles ist in einer Wasserlawine auf mich eingestürzt.«
Und dann?
»Dann bin ich aufgewacht. Oder ertrunken. Beides.«
Ich drückte noch einmal ihren Oberschenkel und erklärte ihr, hier ertrinke niemand. Sie schwieg. Ich fragte, was ist denn los, wovor hast du Angst? Warum fürchtest du das Wasser? Sie murmelte etwas, das ich nicht verstand, und ich versprach ihr, sie niemals ertrinken zu lassen; ich wollte mich gerade umdrehen und sie in die Arme nehmen, als sie zu meiner großen Überraschung (ich hatte sie für eine unabhängige Schläferin gehalten, so wie mich) näher rutschte und sich an meinen Rücken schmiegte, ihre spitzen Knie in meine Kniekehlen drückte und ihre kühlen Brüste an meinen Rücken, ihr feuchter Atem zwischen meinen Schulterblättern, und dann schlief sie mit einem letzten Seufzer augenblicklich wieder ein. Diese animalische Wärme war so intim, dass ich mich um nichts in der Welt von ihrer klebrigen Haut gelöst hätte. Ich werde, dachte ich, für immer wach bleiben und keinen Moment ihrer Nähe mehr verpassen; aber dann graute plötzlich der Morgen, die Jalousie war oben und sie, die sich in der Nacht von mir losgemacht hatte, lag neben mir im Bett wie gestrandet.
Jetzt sitzt sie mit angezogenen Knien auf dem weißen Sand, der in der Sonne glitzert; die Seehunde tauchen aus den Wellen auf, und das Meer ist saphirblau, als wären wir an der Riviera, nur dass es kalt ist und ihr Rock so lang, dass er ihre Schienbeine bedeckt und ihre hohen Stiefel. Der Himmel ist blau, abgesehen von einer eiklaren Verdickung direkt über dem Horizont, bei der es sich um Dunst oder Nebel handeln könnte oder um eine optische Täuschung, einen Wasserhimmel. Die Flut hat ihren Höhepunkt erreicht, das Wasser zieht sich schon wieder zurück und hinterlässt einen krautigen, klammen Streifen; flach und seitlich und in seidig sanften Wellen schiebt es sich auf den Strand. Weiter draußen krönen winzige, weiße Schaumflocken einen dunklen, graublauen Wasserstreifen, unter dem wohl eine Sandbank liegt; dahinter, in noch größerer Entfernung, ist die Oberfläche wieder glatt und silbrig blau mit dunklen Schlieren, die sich bis an die Erdkrümmung ziehen. Ein weiterer bleicher, sonnengetränkter Tag. Dieser Ort ist schön auf eine eigene, karge Art.
»Bring mich nach Norden«, hatte sie gesagt, und hier sind wir nun. Ich hatte es für eine Laune gehalten, einen nostalgisch-romantischen Wunsch, an den sturmgepeitschten Ort ihrer Geburt zurückzukehren, aber jetzt, da wir hier sind, frage ich mich, wonach sie eigentlich Ausschau hält und ob ihre Verbundenheit tiefer geht, ob es sie hierher zurückzieht. Sucht sie nach einem bekannten Anblick da draußen in den Wellen? Nach einem Muster, einer bestimmten Farbe, die von der alten Heimat erzählt?
Sie kann sich an nichts erinnern. An euer Haus?, frage ich. An die Insel? »Nein«, sagt sie. »Nur das Meer, das Geräusch des Meeres, nachts.« Diese ruhelosen Wellen, die durch ihren Schlaf rollen. Wie die Kinder der Meerjungfrau, neckte ich sie, die nachts im Traum vom Rauschen der Wellen verfolgt werden. Meinst du, es könnte daran liegen? Irgendeine atavistische Erbkrankheit, mein kleines Halbblut? »Könnte sein, Professor. Könnte an meiner Abstammung liegen. Man weiß ja nie«, antwortete sie, und ich schämte mich für meine Taktlosigkeit.
Sie sei, erzählt sie, beim Umzug zu jung gewesen, um sich zu erinnern. Sie hat nicht den Hauch eines Akzents, obwohl sie behauptet, die ersten Worte von ihrem Vater gelernt, seine gerundeten Vokale imitiert zu haben, seine Konsonanten, das gerollte R, das sich ergießt wie eine Welle auf den Strand. Ich frage mich, wo er ist. Ich bringe es nicht über mich, sie zu fragen: Wann und warum und wie hat er dich verlassen? Er ging fort, als sie noch ganz klein war; mehr will sie nicht erzählen.
Sicher hatte er geplant, sagte ich heute Morgen vorsichtig, eines Tages zurückzukommen. In der Vergangenheit war sie nicht sehr mitteilsam, was dieses Thema anbelangt.
»Ja, kann sein«, sagte sie, »aber nicht mit uns.«
Sie starrte in ihren Becher, rührte in den Teeblättern, die sich am Boden abgesetzt hatten, und sah nichts, was der Rede wert war.
»Nein«, sagte sie schließlich zu sich selbst, immer noch rührend und starrend; und dann hob sie plötzlich den Kopf und lächelte mich fremd und wenig überzeugend an: »Nein, wo immer er auch ist, er ist schon lange fort.« Dann machte sie sich daran, das Geschirr zu spülen, was sie, soweit ich es nach den wenigen Wochen der Nähe beurteilen kann, nur äußerst ungern tut. »Vielleicht gehe ich ein bisschen nach draußen«, sagte sie, als sie fertig war, trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und warf es auf die Arbeitsplatte, »um frische Luft zu schnappen. Das macht dir doch nichts aus?« Nein, sagte ich, natürlich nicht. Ganz offensichtlich war ich nicht eingeladen.
»Dann lasse ich dich jetzt arbeiten - die Dichter warten schon«, sagte sie, küsste mich und ging hinaus.
Also habe ich wieder meine Warte bezogen, und sie sitzt an ihrem Platz und schaut aufs Meer hinaus. Während ich arbeite, wandert mein Blick zwischen Fenster und Buchseite hin und her. Ihre Aussicht ist in der meinen enthalten; ich sehe nicht nur das Meer, sondern das von ihr gesehene Meer. Endlich ist der leere Platz im Zentrum meiner Perspektive besetzt. Hatte ich mich früher recht glücklich in mein Arbeitszimmer - tief im Innern in der Englischen Fakultät, mit Ausblick auf die Ziegelwand des Lichtschachts - eingeschlossen, zufrieden damit, in staubigen Winkeln zu wühlen, eröffnet sich mir nun dieser Panoramablick, dieser sich weitende Raum, und jeder Atemzug verspricht Tiefe und Frische; nur sie und der Horizont. Sie hat mir die See und den Himmel geschenkt, um sie herum drapiert.
Die kleine Bucht haben wir für uns allein. Das Haus gehört zu einer ehemaligen Farm und steht auf einer flachen, kargen Ebene, die in einer sanften Böschung endet; von dort ist es nur mehr ein kurzer Sprung auf die schwarzen Felsen, die den Übergang zum tiefer liegenden hellen Sandstrand bilden; der ist übersät von matschigen, polypigen Algen, von Kieseln, Muschelschalen und Meeresabfällen - ein Fetzen Fischernetz, ein Gummistiefel. Im Nordosten steigen die Klippen steil an und bilden eine Reihe von Buchten verschiedenster Größe, in denen Hunderte Meeresvögel nisten und die von Höhlen durchsetzt sind, als gäbe es hier mehr als einen Eingang in die Unterwelt. Haarrisse, die sich urplötzlich vergrößern könnten, um sie zu verschlingen.
Es gibt einen Leuchtturm, aber die Klippen blockieren uns die Sicht; des Nachts sehen wir seinen Lichtstrahl über das Meer wandern. Im Westen bilden die schwarzen Felsen ein trügerisches Kap; das Wasser spritzt in alle Felsspalten und wirft sich wie eine Opfergabe auf den Altar der glatten, eckigen Steinplatten, um dann in Hunderten von weißen Rinnsalen wieder abzufließen. In derselben Richtung erhebt sich in der Ferne jene andere, unbewohnte Insel, die in der diesigen Luft solch klammer, heller Tage wie heute nur schwer zu erkennen ist. Nirgendwo Bäume. Die Inseln gleichen einer Herde felsiger Tiere, deren schorfige Buckel knapp aus dem Wasser ragen, während Glieder, Bäuche und primitiv winzige Köpfe weit, weit unten bleiben; unbekümmert verdösen sie die Jahrhunderte, liegen in uraltem, ungestörtem Schlaf, während Schafe und Rinder das zähe, kurze Gras abrupfen, das auf ihren Rücken wächst wie Moos.
Unsere Hütte ist klein und gemütlich, erbaut im niedrigen, schmucklosen Stil der Region und länglich ausgerichtet, so dass Schlafzimmer, Küche und Wohnzimmer große Fenster zum Meer haben. Läufer mit Paisleymuster in Grün, Creme und Rot schützen unsere Füße vor der Kälte des rostroten Steinfußbodens. In den Regalen hat sich Plunder angesammelt, an den weißen, grob verputzten Wänden hängen Stickereien und Leuchtturm-Aquarelle. Einheimische Seevögel sind auf Teller...
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