Schweitzer Fachinformationen
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Die schwere Wohnungstür fiel nahezu lautlos ins Schloss. Sofort verstummte das Klackern der Stöckelschuhe, in denen die Nachbarin aus dem dritten Stock durch das geflieste Treppenhaus nach unten trippelte. Johanna Böhm hatte ihr nur ein müdes »Morgen« zugeraunt, als sie mit gesenktem Kopf die Stufen zu ihrer Bude in der zweiten Etage emporgestiegen war.
Mehr als die schwarzen Stilettos, zwei seidenbestrumpfte Beine und den beigefarbenen Rockansatz eines Businesslooks hatte sie aus dem Augenwinkel nicht wahrgenommen. Doch Johanna wusste, dass Nachbarin Nadja häufig auch sonntags ins Büro musste. Das war offenbar das Los, wenn man irgendwas Junior-Consultant-Mäßiges in Unternehmensberatungen machte und sich erst mühsam hocharbeiten musste, ehe man die Wochenenden freibekam.
Was für eine Welt!
Johanna hockte auf dem Boden ihrer Diele, die gerade groß genug war, um sich um die eigene Achse zu drehen. Mit kalten Fingern schnürte sie unbeholfen ihre schweren Polizeiboots auf.
Da holten sich erfahrene Firmenbosse irgendwelche geschniegelten Vorstadt-Hipster in den Mittzwanzigern als Berater ins Haus, um sich erklären zu lassen, wie sie ihren Laden zu führen hatten. Wie groß musste das Ego dieser jungen Leute sein, wenn sie glaubten, frisch von der Uni kommend anderen Menschen die Welt erklären zu können. Okay, wenn Johanna ehrlich war, war auch sie mit ihren dreißig Jahren nicht gerade die Inkarnation an Autorität und Weisheit, und trotzdem würde man sie in etwas mehr als einem Jahr als fertig ausgebildete Polizistin auf die Gesellschaft loslassen.
Natürlich nur für den Fall, dass sie jemals wieder von dem Bett aufstehen würde, auf das sie sich in diesem Moment erschöpft fallen ließ.
Wie gesagt: Was für eine Welt!
Johanna wälzte sich stöhnend auf den Rücken. Ihr Blick ging starr zur Decke und verfing sich an der Beleuchtung Marke Osram Eigenbau. Das weißgelbe Licht der nackten Glühbirne schmerzte in ihren müden Augen. Schnell kniff Johanna die Lieder zusammen. Irgendwann würde sie einen Lampenschirm kaufen. Vielleicht. Aber hey, sie war erst vor anderthalb Jahren hier eingezogen. Alles brauchte seine Zeit. Ihre vierunddreißig Quadratmeter wollten mit Bedacht eingerichtet werden.
Boris lachte sie zwar jedes Mal aus, wenn er sie besuchte. Einerseits, weil er Oberschöneweide nicht gerade als den Stadtteil Berlins empfand, in dem seine beste Freundin wohnen sollte. Andererseits bekam er immer häufiger Schraubenzieher oder Hammer in die Hand gedrückt, um die sperrmüllreifen Möbel in Johannas Ein-Zimmer-Küche-Diele-Bad-Balkon-Wohnung für ein paar weitere Monate Lebensdauer zusammenzuflicken.
Wofür hatte man schließlich Freunde?
Und vor allem: Abgesehen von der Kohle, die Johanna nicht hatte - wo sollte sie die Zeit hernehmen, um ihrer Wohnung die nötige Aufmerksamkeit zu schenken? In den letzten Wochen hatte sie ihr Apartment praktisch nur gesehen, um zu schlafen.
Mach ein Praktikum bei der Einsatzhundertschaft!, hatten sie gesagt.
Das wird 'ne geile Erfahrung!, hatten sie gesagt.
Die Nachtschichten sind das Salz in der Suppe!, hatten sie gesagt.
Nur dass Johanna danach auf allen vieren nach Hause kriechen würde, hatten sie ihr nicht gesagt.
Sie jammerte nicht. Zumindest nicht, wenn jemand dabei war. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt als zu wenig Schlaf, zu viel Kaffee und zu schlechten Kaffee. Vor allem aber hatte sie es sich selbst ausgesucht. Nicht nur das Praktikum bei der Hundertschaft, sondern ihr Leben in Berlin. Mit Ende zwanzig hatte sie alle Zelte abgebrochen, ihrem ersten Beruf den Rücken gekehrt, um an der Polizeiakademie in Ruhleben als Auszubildende anzufangen. Zweiter Bildungsweg und so - mit allem, was dazugehörte. Also durfte sie sich nicht beklagen.
Ihr Saxofon hatte sie schon länger nicht mehr unter dem Bett hervorgeholt. Die Tasten eines Klaviers waren ihr mittlerweile fremder als der Abzug ihrer Dienstwaffe. Zur professionellen Musikerin hatte sie es trotz des Studiums in Köln nicht geschafft. Zur Polizistin hingegen schien sie geboren. Musik war ihr Hobby gewesen, ihr Zufluchtsort. Doch hier in Berlin musste sie vor nichts mehr flüchten. Hier gehörte sie hin. Die Hundertschaft hatte ihr ein Gefühl der Zugehörigkeit gegeben, das sie früher nur im Orchester verspürt hatte. Doch für eine Zukunft in einem Ensemble war sie nicht gut genug gewesen. In Berlin war das anders. Hier hatte sie eine Zukunft, und für diese war sie, glaubte sie den Worten ihres Ausbildungsleiters Erhard Spahn, wie geschaffen.
An der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Friedrichsfelde, wo der theoretische Teil ihrer Ausbildung stattfand, schrieb sie anständige Noten. In der Praxis, die in der Akademie in Ruhleben gelehrt wurde, gehörte sie zu den Klassenbesten.
Streberin Böhm!
Dabei fiel es ihr einfach nur leicht. Ähnlich wie ihrer Konkurrentin Teresa Osterkamp, einer Klassenkameradin mit zu vielen Piercings und, für Johannas Geschmack, zu wenig Makeln. In ihrer Gruppe lieferten sie sich erbitterte Kämpfe. Johanna war die bessere Schützin, die Osterkamp die bessere Autofahrerin. Johanna hatte nie ein eigenes Auto besessen, die fehlende Erfahrung hinterm Steuer rächte sich im Fahrsicherheitstraining. Im Sport lieferten sie sich heiße Duelle, Johanna als bessere Läuferin, Teresa als bessere Schwimmerin. Im Nahkampf war es ein Kopf-an-Kopf-Rennen, genauso im taktischen Verhalten bei Hausdurchsuchungen, Razzien und Festnahmen. Und wenn es darum ging, Befragungen oder Einsätze wie bei Ruhestörungen zu simulieren, wurde eines immer wieder offensichtlich: Johanna und Teresa waren sich ähnlicher, als ihnen lieb war. Das machte ihre Rivalität nur noch schlimmer.
Boris fand es amüsant. Er war Teresa schon mehrfach begegnet, weil Johanna ihn regelmäßig als Begleitung zu Einladungen auf dem Campus oder in die Akademie mitschleppte. Mit ihm an ihrer Seite wurde sie seltener von irgendwelchen Typen angequatscht. Vor allem aber wurde jede Polizeiparty zum Hit, wenn der überzeugte Kommunist Boris in Anwesenheit anderer Auszubildender subtile Verwünschungen über die Polizei als Erfüllungsgehilfin des Kapitalismus vor sich hin murmelte. Er wusste, dass Johanna es ihm nicht übel nahm. Im Gegenteil. Sie liebte ihn dafür. Intellektuell steckte er sie alle in die Tasche. Und insgeheim war er stolz wie Bolle, mit einer echten Polizeianwärterin befreundet zu sein.
Wenn sie Uniform trug, fand er sie sogar irgendwie sexy, obwohl Frauen eigentlich nicht sein Typ waren. Auch Johanna mochte sich in ihrer blauen Standarduniform. Nicht dass sie ihr Macht verlieh. Johanna hatte in ihrer Vergangenheit so viel Macht aushalten müssen, dass sie genug davon hatte für zwei Leben. Vielmehr fühlte es sich gut an, nicht ständig die Einzelgängerin zu sein, die sie eigentlich war und laut Boris insgeheim immer bleiben würde. Im Dienst, auf Schicht, war sie die Polizeikommissaranwärterin Johanna Böhm.
So wie in den vergangenen fünf Wochen. Zug zwei, Gruppe vier, Trupp eins - da hatte sie hingehört, in die Bereitschaftspolizeiabteilung 1 in Berlin-Mitte. Johanna war bei Demonstrationen im Einsatz gewesen, hatte bei Konvois für Staatsgäste die Verkehrsumleitungen unterstützt, einen zweitägigen Besuch des US-Präsidenten miterlebt, in Schulen und Kindergärten als Vorzeige-Azubi Werbung für die Polizei gemacht. Nur Razzien hatte sie nicht miterlebt. Nicht dass es keine gegeben hätte. Immerhin war das hier Berlin. Aber Johanna war anderweitig eingesetzt worden.
Am meisten bei Fußballspielen. In ihrem ersten Jahr hatte sie noch als Kellnerin im Stadion an der Alten Försterei gearbeitet. Nun war sie erstmals vor und nach Spielen bei der Hundertschaft mitgelaufen. Vor allem mit den Drohnenführern, die die Fanmärsche mit ihren hochauflösenden Kameras aus der Luft ferngesteuert überwachten. So auch letzte Nacht. Samstagabend, Derbyzeit in Berlin, Hertha gegen Union im Olympiastadion. Einen Steinwurf von Ruhleben entfernt. Und Steine flogen tatsächlich. Erst ein Spiel ohne Tore. Dann ein Nachspiel mit dritter Halbzeit und Ausschreitungen zwischen Blau und Rot. Eine Nacht ohne Schlaf.
Das Praktikum in ihrem ersten Ausbildungsjahr hatte Johanna im Abschnitt 53 auf Streife verbracht. Kottbusser Tor, Görlitzer Park, Wrangelkiez. Als bürgernahes Arbeiten hatte man es ihr beschrieben. Nicht so dieses Mal. In der EHu war sie in einer geschlossenen Einheit unterwegs gewesen. Immer mit mehr als nur ein oder zwei Kollegen, mit einer jungen Truppe, in der ein lockerer Umgang herrschte und ein noch derberer Humor als auf Streife. Wo aber auch niemand ein Problem damit hatte, spontan zum Einsatz gerufen zu werden.
Die Welt der EHu hatte Johanna Spaß gemacht. Wenn sie davon absah, dass sie bei den Einsätzen fast zwanzig Kilo mit sich herumgeschleppt hatte. Als sie das erste Mal einen Blick auf die Ausrüstung geworfen hatte, hatte sie sich wegen des Gewichts noch keine Sorgen gemacht. Die ersten sechzehn Stunden im Einsatz hatten sie eines Besseren belehrt. Allein der ballistische Helm aus einer Titanlegierung und mit Splitterschutzvisier wog zweieinhalb Kilo. Dazu der Körperschutz aus Weste, Protektoren an Armen und Beinen, Handschuhe, Tonfa, Pfefferspray, Handfesseln, Taschenlampe und Funkgerät. Nur eine Pistole hatte sie nicht tragen dürfen. Wäre sie in eine Gefahrensituation geraten, hätte sie sich lediglich mit Schlagstock und zu Reizgas verarbeiteten Chili-Schoten verteidigen können.
Wenn sie ehrlich war, hatte sie die...
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