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Der 24. Juni 1922 war ein regenverhangener Sonnabend. Berlin litt unter den Folgen eines ausgedehnten Tiefdrucksystems, das das Wetter seit Tagen beherrschte und auch an diesem Johannistag noch keinen Gedanken an den nahenden Sommer aufkommen lassen mochte. Um halb elf Uhr morgens kam von Halensee her ein dunkelgraues, viersitziges Kabriolett der Marke NAG die regennasse Koenigsallee heruntergefahren, nur mit einem Chauffeur besetzt und ungeachtet der ungünstigen Witterung ohne Verdeck. Der Wagen hielt vor dem letzten bebauten Grundstück der Villenkolonie Grunewald, dort, wo die Straße schon zur eiszeitlichen Senke des Grunewaldsees und der Krummen Lanke hin abfällt und in dunkle Kieferwälder übergeht. Hier, in der Koenigsallee 65, wohnte seit über zehn Jahren der Industrielle, Schriftsteller und Politiker Walther Rathenau in einem von ihm selbst erbauten Haus, das zu betrachten Josef Prozeller, Berufskraftfahrer in Diensten der AEG und Rathenaus langjähriger Chauffeur, genügend Muße hatte, bevor der Minister zu ihm in den Wagen steigen würde.
Rathenaus von der Straße etwas zurückgesetzte Villa war - obwohl erst wenige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg erbaut - frei von jeder Anleihe an den Zeitgeschmack und ganz in der Formensprache des preußischen Frühklassizismus gehalten. So dokumentierte sie gleichsam einen steinernen Protest gegen die hohle Pathetik der wilhelminischen Stilepoche und drückte wie auch in ihrer Lage am Rande der exklusiven Villenkolonie zugleich die Zugehörigkeit und die Distanz seines Erbauers zur Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs aus. Das Anwesen gehörte einem Mann, der als homo publicus zu den bekanntesten und einflussreichsten Deutschen seiner Zeit zählte und der doch hinter der auffallend schmalen Eingangstür seines Hauses in privater Einsamkeit lebte.
In Rathenaus Wesen verbarg sich ein ungewöhnlicher Reichtum ganz unterschiedlicher Begabungen, in deren Zusammentreffen sich gleichsam Deutschlands besonderer Weg in die Moderne spiegelte. Der 1867 in Berlin geborene Rathenau stammte aus einer verarmten jüdischen Bankiers- und Industriellenfamilie, die mütterlicherseits in Frankfurt am Main und Mainz beheimatet und väterlicherseits schon seit dem 18. Jahrhundert in Berlin ansässig war. Sein Vater Emil Rathenau war Ingenieur und hatte sich mit einer für 75 000 Taler erworbenen Eisengießerei im Norden Berlins selbstständig gemacht. Rathenaus Kindheit wurde von dem Lärm der Gießerei begleitet, bis der Vater das mäßig einträgliche Geschäft wieder veräußerte und als Rentier mit seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen lebte. Im Jahr 1881 jedoch erwarb Emil Rathenau die Edison-Patente und gründete die Deutsche-Edison-Gesellschaft, die zwei Jahre später den Namen erhielt, unter dem sie kurze Zeit später weltbekannt sein sollte: Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, kurz AEG. Mit ihr begann auch der wirtschaftliche und soziale Aufstieg der Rathenaus. Walther zog mit seinen Eltern vom Berliner Wedding in das noble Tiergartenviertel und besuchte das »Königliche Wilhelms-Gymnasium«, das seinen Ruf vor allem der großteils adeligen und großbürgerlichen Schülerschaft verdankte.
Der Sohn des AEG-Gründers durchlief eine Ausbildung, die ihn auf eine führende Stellung im Unternehmen seines Vaters vorbereitete. Nach dem Abitur absolvierte Rathenau ein ausgedehntes naturwissenschaftliches Studium in Straßburg, das er mit der Promotion zum Dokter der Philosophie abschloss. Bevor er dann seine fachlichen Kenntnisse an der Technischen Hochschule München mit einem zweijährigen Zusatzstudium in Chemie und Maschinenbau vertiefte, leistete Rathenau seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger bei den Berliner Gardekürassieren ab. Eine Fotografie aus jener Zeit zeigt ihn im silbernen Kürass seines Regiments, die Haltung gestrafft, den Kopf herrisch zur Seite gewendet und voller Stolz auf seine Zugehörigkeit zu der Kriegerkaste, die in der gesellschaftlichen Wertehierarchie des deutschen Kaiserreichs einen so herausragenden Platz einnahm. Doch der Eindruck trog. Anders als Rathenau es sich erhofft hatte, blieb ihm die Beförderung zum Reserveoffizier verwehrt - weil er Jude war. »In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden«, schrieb Rathenau rückblickend, »gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: wenn ihm zum ersten Male voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.«[1] Die traumatisch erlebte Kluft zwischen wirtschaftlicher Elitenzugehörigkeit und sozialer Diskriminierung als Jude begleitete Rathenaus weiteres Leben; das Streben nach ihrer Überwindung prägte sein Handeln und Denken als Unternehmer, als Politiker, als Philosoph, als Kunstfreund. Wenn er den Übertritt zum Christentum auch lediglich ablehnte, weil er »sich als einen Menschen zu empfinden [weigerte], der von der Ablehnung seines Väterglaubens geschäftlich oder sozial profitiert«, so teilte er doch die optimistische Auffassung seiner Zeitgenossen, dass ein Jude in Deutschland durch das Bekenntnis zum Christentum »seine Abstammung zu verdunkeln, seinen Makel zu tilgen, seine bürgerlichen Nachteile zu beseitigen« vermöge.[2] Anders als etwa sein Vetter Max Liebermann, der sich kurz vor seinem Tod 1934 von seinem Glauben an Deutschland lossagte, hat Rathenau nicht einsehen müssen, was dann sein Tod bezeugte: dass diese Hoffnung auf Täuschung beruhte. Seine Lebensspanne umschloss ebenjene Jahrzehnte, in denen die Emanzipation und Integration der jüdisch-deutschen Minderheit so rasant voranschritt, dass ihre völlige Verschmelzung mit der christlich-deutschen Bevölkerungsmehrheit absehbar schien, und gleichzeitig eine erneuerte Judenfeindschaft an Boden gewann, die die fast vollendete Assimilation radikal rückgängig zu machen forderte. Die Gleichzeitigkeit beider Strömungen untergrub die Identität aller Deutschen jüdischer Herkunft, die einerseits die Früchte ihrer erfolgreichen Akkulturation zu ernten begannen und andererseits erfahren mussten, wie wenig die mentale Angleichung und Traditionsaufgabe vor der Blutideologie eines rassistischen Antisemitismus schützte. Die hieraus resultierende Koppelung von Erfolg und Verfolgung, von Anerkennung und Abwertung, von Macht und Ohnmacht erlebte Rathenau stärker und unmittelbarer als andere Juden seiner Generation. Dies war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass er sich anders als sein Vater nicht mit der Rolle des Unternehmers begnügen sollte, sondern sich bald weit darüber hinaus in Politik und Kultur engagierte.
Vorerst deutete freilich noch wenig auf Rathenaus spätere Karriere hin. Der promovierte Ingenieur spezialisierte sich auf die Elektrochemie und damit auf den, wie er selbst sagte, einzigen Zweig der Elektrizitätsanwendung, »auf den die Unternehmungen meines Vaters noch nicht die Hand gelegt hatten«.[3] Nach einer Lehrzeit als technischer Beamter in einem Unternehmen der Aluminium-Industrie konnte er seine Erfahrungen mit sechsundzwanzig Jahren als Leiter der Elektrochemischen Werke Bitterfeld umsetzen. Dieser Versuch Rathenaus, aus dem Schatten seines Vaters zu treten, endete allerdings mit einem Fehlschlag. Nachdem sich das von ihm favorisierte Verfahren der elektrolytischen Chlor- und Alkaligewinnung als unprofitabel erwiesen hatte, mussten die Bitterfelder Werke 1898 an die Konkurrenz verpachtet werden, um einen Konkurs zu vermeiden.
Sein unternehmerisches Scheitern ließ in Rathenau einen zweiten Zwiespalt zum Vorschein treten, der gleichfalls für sein Leben bestimmend werden sollte: den Gegensatz zwischen homo faber und Ästhet, zwischen Brotberuf und künstlerischer Berufung oder - in seinen Worten - zwischen Zweck- und Mutmensch. Schon als Abiturient habe er hinsichtlich seiner Berufswahl zwischen Naturwissenschaft und Malerei oder Literatur geschwankt, behauptete Rathenau später und beschloss wieder nach seinem Scheitern in Bitterfeld, sich von der Industrie zurückzuziehen, um literarisch zu arbeiten. In diesen Ambitionen steckte mehr als die eskapistische Laune eines beruflich Enttäuschten. Zwei Jahre zuvor hatte er bereits anonym in der regimekritischen Wochenzeitschrift Die Zukunft mit einem Aufsatz »Höre, Israel!« debütiert, dessen aggressiv vorgetragenes Plädoyer für eine vorbehaltlose »Anartung« der deutschen Juden an die »Stammeseigenschaften des Gastlandes«[4] nicht nur wegen seiner fast antisemitisch wirkenden Färbung erhebliches Aufsehen erregt hatte. Mit dem Herausgeber der Zukunft, Maximilian Harden, jedoch war er seither in enger Freundschaft verbunden und wusste sich von ihm als interessanter Autor und anregender Gesprächspartner anerkannt. In der Zukunft erschienen von nun an häufig feuilletonistische Betrachtungen zu den verschiedensten Gegenständen aus Rathenaus Feder, die ihr Verfasser 1902 unter dem Titel »Impressionen« geschlossen nochmals herausgab.
In der Zwischenzeit hatte Rathenau aber auch in seinem »Brotberuf« erste Erfolge verzeichnet: 1899 war er in das Direktorium der AEG berufen worden und dort als Anwalt einer energischen Fusions- und Kartellpolitik hervorgetreten, bevor er 1902 in den Vorstand der Berliner Handels-Gesellschaft, der Hausbank der AEG, wechselte. Dort setzte er seine wirtschaftlichen Konzentrationsbemühungen zugunsten der AEG fort und arbeitete auf eine Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital hin, die ganz im Zeichen eines organisierten Kapitalismus stand. Besonders nachdem sein jüngerer Bruder Erich - in dem der Vater seinen...
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