Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
INHALT
1 Wer bin ich?
2 Incognito
3 Irgendwo in Afrika
4 Kuhfladen und Dattelbaum
5 Schwarzköpfe
6 Kurdische Hochzeit
7 Ich bin Maria
8 Unter den Jesiden
9 Die Mordnacht
10 Waisenkind
11 Mitternachtsgespenst
12 Ferhats langer Schatten
13 Deutschunterricht mit Anjela Merrrrkell
14 Dogan und Aida
15 Unter Brüdern
16 Wie ich eine andere wurde
17 Kein Zurück
18 Das erste Mal
19 Der Notruf
20 Persische Porzellanpuppe
21 Lerne, glücklich zu sein!
22 Meine Sonnenblumen
Dank
Kennen Sie das auch? Man wacht morgens auf, der neue Tag lockt, aber man ist noch in den Nachwehen eines nächtlichen Traums gefangen und kriegt die Augen einfach nicht auf. Man steckt fest zwischen Vergangenheit und Zukunft, kann nicht mehr zurück, kommt aber auch noch nicht wirklich vorwärts. Wie ein Transitpassagier, der darauf wartet, dass es endlich weitergeht.
So ging es mir, als ich an einem sonnigen Frühlingsmorgen im Zug saß und meinem neuen Leben entgegenfuhr. Einem Leben ohne Roza und Dogan, ohne Rezan und Diwan, meine Geschwister. Und ohne Anna. Sie hatte ich zurücklassen müssen. Es ging nicht anders, so schwer mir das auch fiel. Ich würde künftig auf mich allein gestellt sein, kein Jugendamt würde mehr über mich bestimmen können. Denn ich war volljährig, 18 Jahre alt, den Höllenjahren unter meinem Onkel entkommen und entschlossen, meine Zukunft ohne jede Bevormundung zu meistern.
Der Zug fuhr planmäßig los. Ich hatte extra den frühestmöglichen gewählt, weil ich hoffte, so auf wenige Mitreisende zu treffen. Ein Irrtum. Es war erst sieben Uhr morgens, dennoch war der Zug nach Berlin bereits ziemlich voll. Meine alte, abgewetzte Männersporttasche, ein Erbe meiner einstigen Fußballleidenschaft, fest im Griff, zwängte ich mich auf der Suche nach einem freien Platz durch die engen Gänge der Waggons - für eine Reservierung hatte das Geld nicht gereicht. Meine Augen flatterten dabei suchend durch die Sitzreihen, ich betete, niemanden zu sehen, der mich kannte, und konnte meine Ängste doch kaum unterdrücken - mein etwas verkrampftes Lächeln dürfte meine Unsicherheit kaum kaschiert haben. Vermeide jeden direkten Blickkontakt, mahnte ich mich stumm selbst, aber jeder Fahrgast, an dem ich mich vorbeidrückte, schien mich anzustarren - zumindest kam es mir so vor. Das ist Einbildung, Dilan, musste ich mir immer wieder selbst sagen. Ich wusste, wie unwahrscheinlich es war, auf dieser Fahrt in aller Frühe auf ein bekanntes Gesicht zu stoßen, aber ich wusste auch: Die Furcht, gesehen, entdeckt oder enttarnt zu werden, würde ich so schnell nicht los werden, womöglich würde sie mich Jahre, vielleicht sogar das ganze Leben lang begleiten.
Mit jedem Schritt spürte ich meinen Herzschlag, und nun fing ich auch noch an zu schwitzen. Verdammt, wann würde ich endlich einen freien Platz finden? Meine Tasche war schwer, nur mühsam gelang es mir, sie immer wieder über die im Gang stehenden Gepäckstücke der anderen Reisenden hinwegzuwuchten. Es kam mir vor, als hätte jemand, wie in dem Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf, das Susanne uns vor vielen Jahren im Kindergarten vorgelesen hatte, tausend Wackersteine hineingepackt. Dabei enthielt sie nur die wenigen traurigen Habseligkeiten meines bisherigen Lebens - einige Fotos meiner Geschwister und die wenigen Klamotten, die ich hatte. Das war alles, was ich auf die Reise in die neue Freiheit mitnehmen konnte.
Endlich! Zwei freie Plätze nebeneinander, ohne Reservierungsschild, nur für mich. Erleichtert setzte ich mich ans Fenster, parkte die hässliche Tasche auf dem Nebensitz und begann langsam zu realisieren, dass ich tatsächlich dabei war, den Ort zu verlassen, an dem ich Jahre verbracht hatte und der voller schrecklicher Erinnerungen war. Bilder tauchten beim Blick nach draußen vor meinem Auge auf und drängten sich immer wieder vor die gerade erst erwachende Frühlingslandschaft, durch die der Zug rollte. Bilder voller Verluste, blutige Bilder, die so gar nichts gemein hatten mit der lieblichen Hügellandschaft, ihren knospenden Bäumen und Büschen, die hinter dem Fenster an uns vorbeizog. Sie quälten mich, ich versuchte, sie abzuwehren, denn sonst würden sie mich nur in eine Vergangenheit zurückziehen, die ich hinter mir lassen wollte. Sie sollten nicht das letzte Wort haben.
Viel lieber wollte ich mich an die guten Tage und an die schönen Momente erinnern, die meine fünf Geschwister und ich mit Mama gehabt hatten. An die wunderbaren Jahre in einem kleinen brandenburgischen Dorf, wo ich den »Eismann« kennenlernte, der klingelnd die Straße auf und ab fuhr; an das unbeschreiblich stolze Gefühl, das ich hatte, als ich endlich Fahrrad fahren konnte; an meine Spaziergänge mit Mama, bei denen ich Himbeeren entdeckte und zum ersten Mal probierte - für mich die köstlichste Frucht, die es gibt; an Rezans, Annas und mein Lachen, wenn Mama uns beim Versteckspielen in der Abenddämmerung suchte und jeden, den sie fand, so fest in die Arme schloss, als würde sie ihn nie mehr loslassen wollen. Oder an unser turbulentes Zusammensein am Essenstisch, wenn es gefüllte Weinblätter gab, die Mama so köstlich wie niemand sonst zubereiten konnte.
Am Wochenende backte Mama immer Fladenbrot. Das musste samstags und sonntags auf dem Tisch stehen, denn für sie verband sich damit die Erinnerung an den Steinofen in Omas Garten, damals in unserem irakischen Dorf; unser elektrischer Backofen in Deutschland fand vor ihren Augen keine Gnade. »Das Brot schmeckt ganz anders!«, nörgelte sie manchmal. Uns Kindern war das egal. Schon der warme Duft, der uns morgens weckte, war unbeschreiblich heimelig. Wir Jüngsten waren ganz erpicht darauf, die dünnen Fladen mit etwas Butter zu bestreichen und mit Zucker zu bestreuen. Ach, Mama, du konntest so wunderbar kochen! Darin werde ich dir, trotz der Übung, die ich inzwischen habe, wohl nie das Wasser reichen können. Nur Spaghetti Bolognese kann ich mindestens so gut machen wie du.
Ich wünschte, du stündest jetzt vor mir, aber das einzige Bild, das mir von dir geblieben ist, steckt etwas zerknittert als zehn mal acht Zentimeter große Erinnerung in meinem Portemonnaie. Auf dem Foto hockst du mit einer deiner vielen Schwestern auf einem Felsen in den Bergen eures irakischen Heimatdorfes, vielleicht macht ihr gerade ein Picknick. Du trägst ein traditionell buntes kurdisches Kleid und siehst entspannt aus, fast glücklich und sehr jung. Da kannst du höchstens neunzehn gewesen sein. Dogan, dein Ältester, war bereits geboren, und vielleicht warst du schon mit Roza schwanger. Das Bild hat mich auf allen meinen Wegen begleitet, ich wollte dich immer ganz nah bei mir wissen, auch wenn ich es mir nur selten anschaue, denn es erinnert mich jedes Mal wieder an das, was ich verloren habe. Adieu, Mama, adieu, altes Leben! Oder vielleicht doch: Bis bald, bis wir uns wiedersehen? Wer weiß das schon?
Jetzt aber brauchte ich erst einmal viel Abstand, Hunderte von Kilometern wünschte ich mir zwischen Vergangenheit und Zukunft, einen Sicherheitspuffer, je größer, desto besser. Am liebsten hätte ich Deutschland ganz verlassen, wäre dorthin gegangen, wo mir alles fremd wäre - die Sprache, die Bräuche, die Landschaft, die Menschen. Aber ich konnte Anna doch nicht einfach zurücklassen.
Mit jedem Kilometer, den der Zug zurücklegte, ließ meine Anspannung ein wenig nach. Ich war noch nie so weit weg von meinem Wohnort gewesen, nach unseren mehrfachen Umzügen war ich nicht mehr über die jeweiligen Landesgrenzen hinausgekommen. Als wir in der vierten Klasse für fünf Tage auf Klassenfahrt nach Schwäbisch Hall fuhren und Mama mir erlaubte mitzufahren, war das ein Riesenereignis für mich. Ich war so aufgeregt damals, voller Erwartung auf das Neue, und gleichzeitig fürchtete ich mich vor dem Heimweh, das ich vielleicht nach meiner Ané haben könnte, die mir abends, wenn sie uns ins Bett brachte, mit ihren sanften Händen den Bauch streichelte, bis wir einschliefen. Aber solche Erlebnisse und Erfahrungen lagen inzwischen eine gefühlte Ewigkeit zurück. Noch vor der Mordnacht, in der alles zerbrach.
Dass mich an diesem Morgen im Zug wieder diese Mischung aus Erwartung und Ängstlichkeit ergriff, war nicht zufällig: Mich erwartete ein Leben, in dem ich meinen eigenen Weg finden und Entscheidungen treffen musste - ohne jemanden an meiner Seite. Das war ungewohnt. Und kam mir immer noch so vor, als träumte ich es nur. Aber es war kein Traum. Dilan, wach auf, die Nacht ist vorbei! Du kannst dein Leben jetzt selbst in die Hand nehmen - endlich! Das hast du doch gewollt, oder?
Es war kein Traum. Das Rattern des Zuges war lärmende Wirklichkeit. Und trotzdem nagten Zweifel an mir. Würde ich es schaffen? Würde mir all das gelingen, wovon ich träumte? Eine Ausbildung machen, einen Job finden, eine eigene Wohnung haben, vielleicht eines Tages sogar ein eigenes Auto? Würde ich mich verlieben können und geliebt werden? Würde ich wachsen, allen Widrigkeiten meines bisherigen Lebens trotzen? Die Gespenster der Vergangenheit eines Tages vielleicht sogar abschütteln können? Was würde auf mich warten, wenn ich aus dem Zug stiege und ein ganz neues Kapitel in meinem Buch des Lebens aufschlüge? Eine leere Seite, für deren Beschriftung ich, und nur ich, verantwortlich war? So...
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