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»Ich wollte mein Leben lang Geschichten sammeln. Schöne Geschichten. Die gesammelten Geschichten wollte ich in einer Tasche mit mir herumtragen, um sie im richtigen Augenblick an Ohren zu verschenken, die es verstehen, aufmerksam zuzuhören. Und ich wollte Augen sehen, die von diesen Geschichten verzaubert sind. Allen Menschen wollte ich den Samen meiner Geschichten ins Ohr streuen.«
MARYAM MADJIDI
französische Schriftstellerin iranischer Herkunft
Es gibt eine Geschichte, die mir ein indischer Meister erzählt hat, vor langer Zeit, als ich darüber nachdachte, wie ich meine Geschichten schreiben solle.
In einem Dorf lebten einmal zwei Frauen. Die eine war wunderschön und trug prächtige Kleider, sodass ihr überall viel Aufmerksamkeit zuteilwurde. Jeder wollte sich mit ihr unterhalten, stellte ihr Fragen und hörte zu, wenn sie etwas sagte. Die andere Frau war auch nicht ohne Reiz, aber die Leute nahmen sie überhaupt nicht wahr. Niemand interessierte sich für sie, denn sie war arm. Da stand sie in ihren schäbigen Kleidern und sah einsam und traurig mit an, wie die andere Frau in ihrem schönen Gewand von allen umworben wurde. Dabei gab es doch so vieles, was die arme Frau gerne mit den anderen Leuten geteilt hätte.
Eines Tages nahm sie ihren Mut zusammen, ging zu der schönen Frau und fragte:
»Sag, darf ich dich wohl um einen Gefallen bitten?«
»Gewiss doch. Wie kann ich dir helfen?«, erwiderte die schöne Frau freundlich.
Die arme Frau zögerte und meinte dann:
»Alle Leute schenken dir ihre Gunst, nicht nur, weil du wunderschön bist, sondern auch, weil du so prächtige Kleider trägst. Ich aber bin schäbig angezogen, und so interessiert sich niemand für mich. Ob du mir wohl nur einen Tag lang einmal deine Kleider leihen und mit mir zusammen durch die Straßen gehen könntest? Dann würden all die Leute, die herbeikommen, um dich zu sehen, sich vielleicht auch ein wenig für mich interessieren, und auch ich könnte mit ihnen teilen, was ich habe.«
Die schöne Frau kam der Bitte der armen Frau mit Freude nach, und so liefen sie am nächsten Tag, beide in edle Gewänder gehüllt, gemeinsam durch die Straßen. Wie sonst auch blieben die Leute stehen, um der schönen Frau Komplimente zu machen, doch dieses Mal interessierten sie sich auch für die arme Frau, die in ihrem hübschen Kleid an der Seite der reichen Frau ging.
Und wie sie so gemeinsam umherliefen, unterhielt sich die schöne Frau mit der armen Frau, stellte ihr viele Fragen und nahm tiefen Anteil an all den Dingen, die die arme Frau der Welt gerne mitteilen wollte. Und sie stellte fest, wie weise die arme Frau tatsächlich war. Seit diesem Tag waren sie Freundinnen und von nun an immer zusammen. Und so laufen sie bis zum heutigen Tag stets gemeinsam durch die Welt.
Der Name der schäbig gekleideten Frau lautet »Wahrheit«. Und die Frau in den prächtigen Gewändern, die bei allen so beliebt war, heißt »Geschichte«. Eine Geschichte ist der Atem, welcher der Wahrheit Leben einhaucht. Und umgekehrt erfüllt auch die Wahrheit die Geschichte mit Leben. Das ist es, was wir eine »wahre Geschichte« nennen.
Nachdem mir der Meister diese Geschichte erzählt hatte, meinte er:
»Du bist deine Geschichte. Die Wahrheit, die du der Welt erzählen willst, musst du in deine Geschichte hineintun. Wenn du deine Wahrheit geradewegs als Behauptung hinstellst, wird sie niemanden interessieren. Man wird dich für einen egozentrischen Sturkopf halten. Kleide deine Wahrheit in deine ganz eigene Geschichte. Dann gewinnt sie an Überzeugungskraft, und die Menschen werden dir gerne zuhören. Doch dafür musst du zuerst das Leben erfahren. Denn die Geschichten kommen aus der Erfahrung des Lebens.«
Ich wollte kein Schriftsteller werden, der sich Geschichten ausdenkt, sondern einer, der Geschichten sammelt. Geschichten, die in einfacher Sprache Einsicht in das Wesen des Menschen und in das Leben vermitteln. Es war für mich ein großes Glück, dass der spirituelle Meister, dem ich bei meinem ersten Indienaufenthalt begegnet bin, es so vortrefflich verstand, seine Lehre von der Wahrheit in Form vielfältiger Geschichten zu vermitteln. Suchende aus der ganzen Welt kamen herbei, um seine Geschichten zu hören. Er entwirrte das Knäuel der unzähligen Lebensfragen zu einem einzigen Erzählstrang und spann daraus Fäden zu neuen Geschichten.
Der Untertitel dieses Buches lautet »Indische Fabeln«, aber wollte man genau sein, hätte es heißen müssen: »Fabeln, die aus Indien überliefert sind«. Und in den bibliografischen Informationen werde zwar ich als Autor dieses Buches genannt, eigentlich aber bin nicht ich der Urheber all dieser Fabeln und Geschichten. Sondern es sind die Menschen in Indien, die die einzelnen Geschichten zunächst mündlich überliefert und dann schriftlich auf Papier festgehalten oder neu aufgeschrieben haben. Ich bin ein Herausgeber oder, anders gesagt, ein Geschichtensammler. So, wie ich es immer habe sein wollen.
Der Ursprung der Fabel reicht zurück ins alte Indien, und so kann man Indien mit Recht als Land der Fabeln und Geschichten bezeichnen. Das Mahabharata und das Ramayana, die beiden umfangreichsten indischen Epen, sind Sammlungen von Geschichten. Ungefähr im 5. vorchristlichen Jahrhundert bat der König, frustriert über die »Nutzlosigkeit« seiner Söhne, einen hochgelehrten Brahmanen, ihnen etwas beizubringen. Um den Prinzen die Prinzipien einer weisen Lebensführung zu vermitteln, griff der Brahmane auf alte Fabeln zurück, die seit etwa 1500 v. Chr. überliefert worden waren, und sammelte sie im Panchatantra, einer Dichtung in fünf Büchern. Diese uralte Fabelsammlung enthält Geschichten darüber, wie sich das menschliche Wesen verstehen lässt, wie man glaubwürdige und zuverlässige Freunde findet, wie man Schwierigkeiten mit Humor und Weisheit überwindet, wie man Falschheit und Tücke begegnen sollte und wie man ein friedvolles und harmonisches Leben führt.
Eine Geschichte aus dem Panchatantra geht so: Ein Mann hatte auf dem Markt ein Zicklein gekauft und trug es nun über der Schulter nach Hause. Als er durch einen Wald kam, lauerten ihm schon drei Schurken aus dem nahe gelegenen Dorf auf, um ihm das Zicklein zu stehlen.
Einer der Kerle, der sich hinter einem Baum versteckt hatte, kam nun hervor, trat auf ihn zu und sagte:
»Sei gegrüßt. Weshalb trägst du denn da einen Hund auf deiner Schulter?«
Da sagte der Mann: »Dies ist doch kein Hund, dies ist eine Ziege, siehst du das denn nicht?«
Da sagte der Gauner wie beiläufig:
»Na, so was, da hat er sich doch auf dem Markt tatsächlich einen Hund anstelle einer Ziege aufschwatzen lassen.«
Nun kam ein zweiter Gauner hinter einem Baum hervor und sagte:
»Guten Tag! Oh, da hast du aber ein hübsches Hündchen, das da auf deiner Schulter sitzt.«
Da sagte der Mann wieder: »Aber dies ist doch kein Hund! Dies ist eine Ziege!«
Da sagte der zweite Gauner wie beiläufig: »Der Dummkopf muss wirklich gedacht haben, es sei eine Ziege, als er sich diesen Hund gekauft hat .«
Am Waldausgang wartete schon der dritte Gauner und sagte: »Wo hast du denn das Hündchen aufgetrieben, das du da mit dir herumträgst?«
Wie er nun immer wieder dasselbe gehört hatte, befielen den Mann doch große Zweifel. Und schließlich hielt er die Ziege auf seiner Schulter tatsächlich für einen Hund, warf sie auf der Straße von sich und lief davon. So fiel das Zicklein schließlich den Gaunern in die Hände.
Die Fabel zeigt, wie jemand verliert, was er hat, weil er nur auf die Worte anderer hört, anstatt sich auf seine eigene Urteilskraft zu verlassen.
Nicht nur das Panchatantra, auch viele andere Fabeln aus Indien sind durch griechische Übersetzer und durch Wandervölker wie die Roma in den Westen gelangt, und man geht davon aus, dass sie die Grundlage für Äsops Fabeln bildeten. Jean de La Fontaine, der für seine Fabeln bekannte französische Dichter des 17. Jahrhunderts, wies selbst darauf hin, wie viel er dem indischen Fabeldichter »Pilpay« (eine fehlerhafte Umschrift von Bidpai) verdanke. So kam auch die Ansicht auf, dass letztlich alle Geschichten der Welt ihren Ursprung in Indien hätten.
Es gibt Dinge, die den Wandel der Zeiten überdauern. Fabeln erhellen, was im Leben wichtig und wertvoll ist, und lassen uns das Wesen des Menschen verstehen. Sie bringen uns dazu, das Wundersame unserer Welt zu erkennen.
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