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Als die Erzieherin ihr diesmal ankündigte, der Vater sei gekommen, rannte ihm Unnotschka Owto, anders als sonst, nicht durch den langen Internatskorridor mit den riesigen, bis zum Boden reichenden Fenstern freudig entgegen, sondern suchte eine Weile unterm Bett ihre Fellpantoffeln, ging dann langsam über die knarrenden Dielenbretter und spürte, wie in ihrem kleinen Herzen unbewusst Zorn, Verdruss und Scham anschwollen.
Ja, Owto, der älteste Hirt einer Nomadensiedlung gleichen Namens, war wie gewöhnlich, wenn er in die Große Siedlung kam, stark angetrunken, und in seinen spärlichen Schnurrbarthaaren glänzten widerwärtig Perlen von Schweiß oder gar durchsichtigem Rotz. Seine roten Augen aber schienen leicht überzuquellen. Als er die ihm entgegenkommende Tochter erblickte, stellte er eine große Papiertüte auf den Boden und begann laut zu singen:
Mainy - ten - memlyetschgyt
Ynky nutek any kole!
Mynylpyn ynken korgaw -
Torwagyrgyn ynky warkyn!
Er versuchte sogar ein paar Tanzschritte - nicht nur, um seiner großen Freude über das Wiedersehen mit seiner einzigen Tochter Ausdruck zu verleihen, sondern auch, um zu zeigen, dass er ein geselliger, moderner Mann sei, der sich so zu benehmen wisse, wie es sich gehört, wenn man tüchtig getrunken hat.
Doch das missmutige und unzufriedene Gesicht der Tochter ließ ihn innehalten, und besorgt erkundigte er sich auf tschuktschisch: »Fehlt dir auch nichts?«
»Ich verstehe nicht!« antwortete Unnotschka streng auf Russisch, denn sie hatte bemerkt, dass die Erzieherin und die Internatskinder interessiert beobachteten, was da vor sich ging. Das verstärkte ihre bittere Scham, weniger über die Verfassung und das Benehmen des Vaters als über sein verlottertes und erbärmliches Aussehen.
»Gesunt nich?« erkundigte sich der Vater teilnahmsvoll und wischte sich, um ein anständiges Aussehen bemüht, die Tropfen aus dem Schnurrbart. Er versuchte, die russischen Wörter richtig auszusprechen, aber das gelang ihm schlecht, selbst die einfachsten russischen Ausdrücke wurden in seinem Mund unverständlich.
»Ich bin nicht krank, ich bin gesund«, antwortete Unna auf Russisch, griff nach der Papiertüte und stieß streng hervor: »Du aber geh! Und komm nicht wieder betrunken hierher!«
»Nich betrunken!« entgegnete Owto empört. Und fuhr auf tschuktschisch fort: »Wir hatten doch gerade erst angefangen. Haben je eine Flasche Wermut geleert. Ach, Töchterchen, du hast noch nie einen richtig betrunkenen Mann gesehen!«
Er besann sich, verstummte, suchte mit großer Willensanstrengung seinen kargen russischen Wortschatz zusammen und sagte: »Da ist Geschenk . Für dich - Geschenk. Mama, Papa, Geschenk .«
»Nimm die Geschenke, Unnotschka«, erlaubte ihr die Erzieherin und sagte: »Sie aber, Genosse Owto, sprechen noch immer schlecht Russisch. Sie müssen lernen! Und noch etwas - ins Internat muss man nüchtern kommen.«
»Gutt, gutt«, murmelte Owto hastig, bückte sich schnell, für alle überraschend, und sog geräuschvoll das ganze Bouquetvöllig unbegreiflicher Gerüche eines für den Tundrabewohner fremden Lebens ein, in dem Unnotschka, sein einziges, langersehntes Kind, nun schon vier Jahre weilte. Er hoffte, mit dem altentschuktschischen Kuss, dem Ukwen, wenigstens einen schwachen Hauch zarten kindlichen Dufts zu erhaschen.
Unnotschka wich erschrocken zurück, sah den Vater zornig an und trippelte schnell den langen, von der tief stehenden Wintersonne hell erleuchteten Internatsflur entlang.
Doch aus irgendeinem Grund ging ihr das alte Lied nicht aus dem Sinn, das sie vor langer Zeit, als Tundrakind, in der Jaranga gehört hatte:
Ynky nutek any kole .
Sie kannte die Worte, verstand aber deren Bedeutung schon nicht mehr, obwohl sie sich erinnerte, dass der Vater das Lied nach einer Reise verfasst hatte, die ihn anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Revolution zu einer Versammlung der Rentierzüchter in die große Stadt Magadan führte; das war vor jenem Jahr, in dem Unnotschka Owto endlich in die Schule geschickt wurde.
In der Klasse war sie viel älter als ihre Mitschüler, denn die Eltern hatten ihre Existenz lange verheimlicht, damit das Mädchen nicht in den Kindergarten musste.
Doch das war noch nicht das größte Übel. Viel schlimmer war, dass das Mädchen damals überhaupt nicht Russisch sprach.
Sogar der Direktor des Schulinternats, Iwan Iwanowitsch Mitrochin, kam eigens herbei, um sein Phänomen in Augenschein zu nehmen. Er sah sich das verschreckte kleine Mädchen an und sagte entrüstet: »Abscheulich! Einem Kind so das Leben zu verpatzen!«
Noch im ersten Jahr ihres Internatslebens versuchte Unnotschka Owto, in die heimatliche Siedlung zu flüchten. Sie lief frühmorgens weg, und erwischt wurde sie erst gegen Mittag.
Nach diesem Vorfall wurde Unnotschka Owto zu allen Ferien in die Tundra gebracht.
Meistens nahm sie der Vorsitzende des Exekutivkomitees, Alexander Wenediktowitsch Komarowski, mit.
Er unterschied sich merklich von den anderen Russen, die Unnotschka Owto kannte. Vor allem sprach er ausgezeichnet Tschuktschisch.
Vor etwa zehn Jahren war in der Nomadensiedlung Owto ein rotblondes, verschrecktes Bürschchen in einem kurzen Übergangsmantel und mit Zottelmütze aufgetaucht. An den Füßen hatte er Segeltuchschuhe, die ganz und gar nicht für ein Leben in der Siedlung unter den Bedingungen des nahenden Winters taugten. Sascha Komarowski aber war in die Tundra gekommen, um lange hier zu leben, und er besaß nicht nur ein Diplom des Kostromaer Veterinärtechnikums, sondern war auch noch offiziell in die Tundra, in die Siedlung delegiert worden. Die Kreisbehörde hatte allerdings nicht einmal daran gedacht, den jungen Mann, der ein Rentier bisher nur von Bildern oder aus dem Kino kannte, entsprechend einzukleiden.
Doch der junge Zootechniker wurde in der Tundra freundlich empfangen, man nähte ihm wunderschöne Winterkleider und brachte ihm allmählich das Handwerk eines Rentierzüchters bei. Nach drei Jahren zog Sascha Komarowski in die Große Siedlung, wo man in dem erwachsen gewordenen, sommersprossigen jungen Mann das scheue Bürschchen aus Kostroma gar nicht wieder erkannte. Dann aber begriffen sie, dass er genau der Mann war, der in der Kreisstadt gebraucht würde, und boten ihm verschiedene wichtige Posten an, die er zunächst ablehnte.
Komarowski führte regelmäßige Untersuchungen und Behandlungen erkrankter Rentiere ein, brachte Medikamente in die Tundra, stark riechende Flüssigkeiten, mit denen die Tiere besprüht wurden, um Bremsen abzuwehren, die ja auch das Fell beschädigen. Die Rentiere in der Siedlung Owto gewannen den Ruf, stets gut genährt und gesund zu sein. Das wiederum brachte spürbar höheren Verdienst.
Komarowski führte auch neue Bräuche ein: Samstags brannten in den Jarangas heiße Feuer, die Leute wuschen sich den Tundraschweiß der Woche ab und erlebten, wie leicht man sich nach solchem Waschen fühlt. Sascha selbst aber stürzte sich, wenn er seinen Körper in heißem Dampf erhitzt hatte, in eine Schneewehe und schrie: »Banja! Banja! Uch! Ach!«
In Owtos Jaranga badete man im ersten Wasser das Mädchen, und Unna prägte sich fürs ganze Leben ein, welche unerklärliche Leichtigkeit sie nach dem Bad in dem verzinkten Trog, im warmen Dampf des heiß brennenden Feuers überkam. Nach der Banja, dem Schwitzbad, tranken sie Wodka und Tee. Die Leute lärmten und baten Sascha Komarowski, ihnen seinen erstaunlich weißen, mit braunen Pünktchen von Sommersprossen übersäten Körper zu zeigen.
»Wie von Bremsen zerstochen, die Haut!« riefen die Tschuktschen verwundert. »Macht dir das keine Sorgen?«
»Nein, keine Sorgen«, antwortete Komarowski fröhlich und erstaunte alle durch seine gute Aussprache, sein Verständnis für das fremde Leben und seine Herzensgüte.
»Das ist ein echter Russe«, sagte der alte Ponto, der, wie behauptet wurde, sich noch an die Zarenzeit erinnerte und sogar von einem russischen Popen getauft worden war.
Von allen Russen bewies allein Komarowski Mitgefühl mit Owto, und er tat alles, um ihm zu helfen, dass dieser sein Kind nicht in eine staatliche Einrichtung geben musste.
Das Hauptargument der Funktionäre war die mangelnde Hygiene in der Tundra-Jaranga, die angeblich auch das Leben des Mädchens gefährde.
»Man könnte ja meinen, sie machen selber nichts anderes, als sich immerfort zu waschen!« murrte die Mutter, als sie wieder einmal die zarte Haut des Mädchens nach dem Baden trockenrieb. »Haben sie etwa keine Insekten in ihren Wohnungen?«
Owto, der immerhin ab und zu in der Kreisstadt zu tun hatte, erzählte: »Als ich in diesem Frühjahr da war, stank es überall fürchterlich. Sie machen alles in den eigenen Wohnungen, wenn es aber warm wird, taut, was sich den Winter über angesammelt hat, und beginnt zu stinken.«
»Können sie denn von ihren Wohnungen nicht etwas weiter weg gehen?« wunderte sich seine Frau.
»Wohin denn?« erklärte Owto mit...
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