Schweitzer Fachinformationen
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Am 21. Juni 1947 hatte das winterliche Küsteneis die steinige Landzunge von Uëlen noch fest im Griff. Doch es war von unzähligen Tauwasserpfützen übersprenkelt, deren Trichter hier und da bis zum Meerwasser hinunterreichten. Sogar erfahrene Jäger wagten ohne Schneetreter nicht, ihren Fuß darauf zu setzen.
Freigebig, ohne jemals unterzugehen, beschien die Sonne die über die Landzunge verstreuten Jarangas, die wenigen hölzernen Bauten der meteorologischen Station und den von keinem Lufthauch bewegten Windmotor.
Während Tanat das Ufer entlangschlenderte, blickte er aufmerksam in die Ferne, wo sich hinter dem blauen Streifen offenen Wassers das Nördliche Eismeer erstreckte. Ihn beunruhigte eine unbekannte Zukunft. Der erste Südwind wird das Küsteneis vom Ufer losreißen, wird es in Stücke brechen. Dann wird ein großes Schiff kommen, und auf ihm wird Tanat in den fernen Süden reisen, nach Anadyr, in die Hauptstadt des Tschuktschischen Nationalen Bezirks.
Zusammen mit zwei seiner Freunde - Enmynkau aus Janranai und dem aus Uëlen stammenden Tenmaw - war er von einer Kommission der Kreisverwaltung für Volksbildung auserwählt worden, am Institut für Lehrerbildung zu studieren. »Ihr habt die historische Mission, Kern der neuen, sowjetisch-tschuktschischen Intelligenz zu werden«, hatte Lew Wassiljewitsch Belikow, ihr Schuldirektor, seinen Zöglingen mit auf den Weg gegeben.
Tanat war in der Tundra geboren und aufgewachsen, hatte die ersten vier Jahre eine Nomadenschule besucht. Belikow, sein Lehrer, hatte die Begabung des Jungen erkannt und dessen Vater Rinto, den Besitzer einer Herde, überredet, den Sohn nach Uëlen ins Internat gehen zu lassen. Dort hatte Tanat zusätzlich zu seinem tschuktschischen Namen einen russischen erhalten: Roman.
Drei Jahre hatte Tanat in dem langen flachen Gebäude verbracht, das quer zur steinigen Landzunge stand.
Jeden Sommer, Ende Mai, wenn Vogelschwärme zu Tausenden den Himmel bevölkerten, fuhr der Junge zu den Eltern in die Tundra und blieb dort bis in den Herbst, bis zum Beginn des neuen Schuljahrs. Diese beiden Zeitpunkte fielen mit traditionellen Feiertagen zusammen - dem Fest des Ersten Kalbs und der Herbstschlachtung Junger Rentiere.
Im Nebel der Zukunft zeichnete sich vage ein anderes Leben ab, das er nur aus Büchern und einigen wenigen Stummfilmen kannte.
Das Land der Tangitan, der Europäer, lockte mit seiner rätselhaften, Schwindel erregenden Ferne. Die Gedanken schweiften nicht nur nach Anadyr, sondern flogen weiter, über grüne Felder und dichte Wälder, in große Städte mit vielstöckigen, felsengleichen Hochhäusern, vielfenstrigen Palästen, in denen vor der Revolution die Zaren, Aristokraten und ihre Leute gewohnt hatten. Und noch etwas bewegte Tanats junges Herz - dass, wie die Bolschewiki lehrten, all dies jetzt genauso wie Enmynkau und Tenmaw auch ihm gehörte, dem Sohn eines Rentierzüchters aus der Tundra.
Den blau schimmernden Rand des Küsteneisgürtels vor Augen, stellte sich Tanat vor, wie am Horizont ein großes, eisernes Schiff mit rauchendem Schornstein auftauchen würde.
Doch stattdessen erschien dort, wo sich Wasser und Himmel berührten, inmitten der Eisfelder kaum wahrnehmbar, ein weißer Schoner. Tanat erkannte ihn sofort. Immer kam als erste die »Wega« nach Uëlen, um entlang der Küste die von der Prowidenija-Bucht bis zum Kap Ryrkaipi aufgestellten Navigationszeichen zu überprüfen.
Während Tanat die sich ausbreitenden Tauwasserpfützen, die von den Sonnenstrahlen abgeleckten Eisblöcke und Schollen umging, setzte das Schiff einen einzigen Passagier auf dem Eis ab und nahm erneut Kurs aufs offene Meer.
Auf dem Eis standen ein recht ramponierter Sperrholzkoffer und eine Segeltuchtasche. Der Ankömmling war sonderbar gekleidet - trug Wattehosen, eine Steppjacke, hohe Gummischuhe und eine spaßige gestrickte Ohrenklappenmütze. Auf den ersten Blick aber war zu erkennen, dass es ein Mädchen war - mit sonnengebräuntem Gesicht und einem Ausdruck, der sofort fesselte, und das lag an ihren Augen: Sie waren von einem Blau, wie man es nur bei rassigen Polarhunden findet.
»Guten Tag!«, grüßte Tanat.
Das Mädchen blitzte ihn aus ihren unerträglich blauen Augen an und antwortete lächelnd: »Ii, tyetyk. Bist du ein Luorawetlan?«
Tanat war überrascht, dass sie ihn in seiner Muttersprache ansprach. »Und du, bist du eine Russin?«
»Ii - ja.«
»Woher kennst du unsere Sprache?«
»Die habe ich an der Leningrader Universität erlernt, außerdem bei euren Landsleuten, die am Institut der Nordvölker studieren.« Das Mädchen sagte, sie heiße Anna Odinzowa und nach Uëlen sei sie mit einem Forschungsauftrag des Ethnografischen Instituts der Akademie der Wissenschaft gekommen, wo sie sich auf die Verteidigung ihrer Dissertation vorbereite. Sie wolle die alten Bräuche der Rentierzüchter studieren, ihre Sprache und die Folklore.
Dieser erste Uëlener Einwohner, den Anna Odinzowa auf dem Küsteneisgürtel getroffen hatte, gefiel ihr sofort. Auf sonderbare Weise vereinte der Bursche in sich jungenhaften Übermut, Männlichkeit und verborgene Zartheit. Freude stieg in ihr auf, sie war nicht nur am Ziel ihrer Forschungsarbeit angelangt, sondern hatte gleich zu Beginn einen so sympathischen Burschen getroffen. Das war ein gutes Vorzeichen!
»Gibt es in Uëlen ein Hotel?«
»Ein Hotel nicht«, entgegnete Tanat, »aber im Internat ist ein Zimmer frei. Wir müssen nur unseren Direktor, Lew Wassiljewitsch, um Erlaubnis bitten.«
Koffer und Tasche erwiesen sich als ungewöhnlich schwer. Tanat trug sie bis zur Schule. Ehe das Mädchen dort eintrat, nahm sie die lustige gestrickte Ohrenklappenmütze ab, und golden fielen ihr dichte, glänzende schöne Haare auf die Schultern. »Welynkykun - danke.«
Tanats Internatsnachbar Enmynkau beobachtete verwundert, wie Tanat der Unbekannten half, ihre Sachen hereinzutragen. »Wer ist sie?«, fragte er in einem geeigneten Augenblick.
»Eine Wissenschaftlerin aus Leningrad.«
»Ziemlich jung«, meinte Enmynkau skeptisch.
Tanat fühlte, wie ein noch nie erfahrenes Gefühl sein Herz erfüllte, ihm fast den Atem nahm.
Langsam schlenderte er allein am Meer entlang, um seiner Erregung Herr zu werden. Ein solches Mädchen war ihm noch nie begegnet. Ihm war, als entstammte sie seinen Träumen, unklaren Vorahnungen. Ihr Bild begleitete ihn, verströmte Wärme, geheimnisvolles Licht. Auch in Uëlen lebten Tangitan-Mädchen, aber die waren ganz anders! Zudem kam sie aus jenem märchenhaften Leningrad, der Stadt der Zarenpaläste, der funkelnden Springbrunnen, wo die Revolution stattgefunden hatte. Welch weiten Weg hatte sie zurückgelegt, um nach Uëlen zu gelangen! Wozu sollte es gut sein, Tschuktschisch zu lernen, alte Bräuche zu erforschen, die von den Bolschewiki als Relikte der Vergangenheit bezeichnet wurden, als Hindernis für die Entwicklung des Neuen? Die Tschuktschen und ihre nächsten Nachbarn, die Eskimos, die Korjaken und Lamuten, waren doch keine alten Griechen und Römer, keine Ägypter, die bedeutende Zivilisationen geschaffen hatten. Weder hatten sie große, befestigte Städte gebaut noch Pyramiden errichtet oder Reiche erobert. Sogar von ihren in der offenen Tundra beigesetzten Toten war nach einigen Jahren außer einer Hand voll weißer Knochen nichts mehr zu finden. Wen konnte schon das von einer Ölfunzel kaum erleuchtete Leben in einer Jaranga interessieren, die Bauweise eines Polarschlittens und das Zuggeschirr für die Rentiere? Oder die Methode, ein erlegtes Walross auszuweiden? Oder Rintos Lieder? Sie rühren zwar an die Herzen von Tanat und seinen Landsleuten, doch welchen Widerhall können sie bei einem Menschen finden, der unter völlig anderen Umständen aufgewachsen ist und eine andere Sprache spricht? Jene fernen, warmen Länder, wie Tanat sie sich auf Grund von Büchern, Bildern und einigen Filmen vorstellte, unterschieden sich so sehr von der öden Tundra und der eisbedeckten Küste!
Wie schön klang doch ihr Name - Anna! Als enthielte er eine zarte, geheimnisvolle Verlockung. Und ihr Familienname erinnerte an einen Roman Turgenjews.
Beim Abendbrot, im Beisein des Schuldirektors, berichtete Anna Odinzowa von ihren Plänen. Tanat saß ihr gegenüber, und jeder Blick, jedes Lächeln, jedes Wort drang tief in sein Herz.
Lew Wassiljewitsch Belikow wiegte den Kopf und wiederholte einige Male, sie würde es schwer haben, sehr schwer.
Als Anna Odinzowa am nächsten Morgen mit gelösten goldenen Haaren, ohne die drollige gestrickte Ohrenklappenmütze den Waschraum betrat, konnte Tanat nur mühsam den Blick von ihrem gebräunten Gesicht wenden, aus dem die blauen Augen so blitzten, dass man meinen konnte, sie spiegelten den klaren sommerlichen Polarhimmel, an dem die Sonne nie unterging. Noch stärker verwirrt als bei der ersten Begegnung, hatte der Junge ein Gefühl, als stocke ihm der Atem. Eine Hündin, dachte er, eine rassige Hündin - für den Tschuktschen ist dies ein Kosewort wie für den Russen »Schwälbchen«, »Täubchen« oder »Zicklein«.
»Könntest du mich nicht durch Uëlen begleiten?«
»Ich bin in Uëlen aber nicht richtig zu Hause«, wehrte Tanat schwach ab.
»Ich weiß«, sagte Anna lächelnd, »du bist ein...
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