Schweitzer Fachinformationen
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Agatha blickte die Tunnelröhre hinab. Obwohl der Eingang über ihnen längst im Nirgendwo verschwunden war, lag noch immer eine nicht enden wollende Zahl an Steinstufen vor ihnen. Selbst bis so tief in die U-Bahnstation hinein waren die Luftschutzsirenen zu hören. Wie Dämonengeschrei fegte ihr Geheule über London hinweg. Agatha wusste nur zu gut, was ihnen bevorstand. Jeden Moment würden die Deutschen die Stadt erreichen und in finsteren Schwärmen aus knatternden Propellermonstern alles in Schutt und Asche verwandeln.
»Wo bleibt Charles?«, stöhnte Mrs Granville mit gequälter Stimme. »Warum ist er noch nicht da?«
»Sie müssen sich beruhigen, Mrs Granville.« Agatha betete. »Ganz besonders in Ihrer Lage.« Für einen gesunden Menschen waren diese Stufen schon gefährlich genug, erst recht, wenn hunderte panische Londoner neben ihnen in die Schutz versprechenden Schächte hinabeilten. Aber für eine Hochschwangere?
Endlich erreichten sie das Ende der Treppe. Mrs Granville stoppte für eine kurze Pause und legte ihre Hände auf ihren dunkelbraunen Wollmantel, sodass ihr kugelrunder Bauch darunter deutlich wurde. Agatha zog ein Tuch aus ihrer Dienstmädchenuniform. Vorsichtig tupfte sie ihrer Dienstgeberin den Schweiß von der Stirn, wie es einst ihre Mutter bei Agatha selbst getan hatte. Vor dem Krieg. Zwölf war sie da gewesen. Und jetzt, knappe fünf Jahre später, fühlte sie sich manchmal schon wie eine gebrechliche alte Frau. »Ich bin mir sicher, es wird alles gutgehen, Mrs Granville.« Gott sei Dank war sie viel zu schwach, um die Unsicherheit in Agathas Stimme zu bemerken. Gutgehen, nichts fiel Agatha schwerer in diesen Tagen, als sich den Glauben an das Gute zu bewahren. Mrs Granville packte Agatha am Handgelenk und zog sie dicht an sich heran.
»Lassen Sie mich hier. Ich schaffe den restlichen Weg bis zum Bahnsteig allein. Eilen Sie zu meinem Mann. Helfen Sie ihm!«
»Keinesfalls. Ich bleibe bei Ihnen, Madam. Sie und Ihr Ungeborenes, Sie brauchen mich jetzt mehr als er.« Sie stützte ihre Dienstgeberin an der Schulter und ermutigte sie, weiterzugehen. Endlich erreichten sie den Bahnsteig. Gerade richtete ein Reporter seine Kamera auf die Unmenge von Menschen, die sich mit ihrem Hab und Gut dicht aneinander gereiht auf dem Gleisbett niedergelassen hatten. Das Blitzlicht zuckte in Richtung Tunnel und erhellte das Gesicht des Polizisten, der dort wie versprochen stand und wartete. Mr Granville hatte ihn hierher beordert, um die unzähligen Kunstschätze aus dem British Museum zu bewachen, die sich unmittelbar hinter ihm in dutzenden Holzkisten über- und nebeneinander bis weit in den U-Bahn-Tunnel hinein stapelten. Drei der Kisten hatte der nette Polizist zu einer kleinen Treppe aufgebaut, auf der Mrs Granville vorsichtig hinab ins Gleisbett steigen konnte. Agatha half ihr aus ihrem Wollmantel heraus, und hielt ihre Hand, damit Mrs Granville auf der bereitgelegten Matratze Platz nehmen konnte. »Warten Sie!«, flüsterte sie. Rasch schlug sie noch eine der bereitgelegten Decken um Mrs Granvilles Schultern. »Sonst wird Ihr wunderschönes lila Kleid mit den weißen Tupfen noch ganz schmutzig an den nackten Steinen.« Sie wickelte die Decke eng um ihre Dienstgeberin und half ihr, sich gegen die Tunnelwand zu lehnen. Mrs Granvilles Mund zog Speichelfäden, als sie ihn öffnete.
»Jetzt gehen Sie aber, Agatha. Bitte!«
»Keinesfalls.« Der Schweißfluss ihrer Dienstgeberin wurde zusehends stärker, der Atem nervöser.
»Sie müssen, Agatha! Wenn er noch nicht da ist, dann .«
». wird er sicher jeden Moment auftauchen«, erwiderte Agatha beharrlich. »Alle Kunstschätze sind längst in Sicherheit gebracht.« Sie deutete auf die zahlreichen Kisten. »Sehen Sie.«
Ihre Dienstgeberin schüttelte mit dem Kopf. »Aber nicht die Mumien!« Ihre Stimme klang, als wäre Mrs Granville selbst kurz davor, sich in eine zu verwandeln. »Die U-Bahn-Tunnel sind für die Mumien zu feucht. Das haben sie nicht bedacht. Mein Mann muss sie an einen anderen Ort bringen. Und uns läuft die Zeit davon.« Ein dumpfes Grollen hallte durch den Tunnel. Der Boden bebte. »Die Deutschen, sie dürfen sie keinesfalls finden.« Von einer unerwartet kräftigen Wehe gepackt schrie Mrs Granville auf. Agatha faltete eine weitere Decke zu einem Kissen und stopfte es zwischen Wand und Rücken, sodass ihre Dienstgeberin halbwegs aufrecht sitzen konnte. Das machte ihr das Atmen leichter. Wieder vibrierte der Boden. »Die Mumien sind mächtig!«
Schon hatten sich neue Schweißperlen auf der Stirn ihrer Dienstgeberin gebildet. Sorgsam strich Agatha sie ihr aus dem Gesicht. »Sorgen Sie sich nicht.« Was sollten ein paar in Leinen eingewickelte Leichen schon bewirken können, wenn nicht einmal der Herrgott selbst in der Lage war, das Deutsche Reich zu bremsen. Manchmal fragte Agatha sich, warum sie überhaupt noch betete. Warum sollte sie dann an die gespenstische Geschichte eines ägyptischen Professors glauben, der behauptete, dass sich in den alten Mumien ein Geheimnis verbarg, das verriet, wie man ein Serum brauen konnte, das unsterblich machte?
Mrs Granville versuchte, ihren Atem zu kontrollieren. Aber es gelang ihr immer weniger. »Alles hat eine gute und eine dunkle Seite, wissen Sie, Agatha?« Jedes Wort schien ein Kampf für sie. »Zerstören wir die Mumien, wird sich der Geist der Amun-Ra an uns rächen.«
Der Geist der Amun-Ra, wenn Agatha das schon hörte. Konnte ein Gespenst schlimmer sein als der Bombenhagel der Nazis? Kürzlich hatte sie beim Putzen im British Museum ein Gespräch zwischen zwei Professoren aus dem Museumsvorstand aufgeschnappt, die von Forschungen an einer Bombe erzählten, die angeblich eine ganze Stadt auf einen Schlag vernichten konnte. Mrs Granville rüttelte an Agathas Hand, um sicherzugehen, dass sie weiterhin zuhörte.
»Zerstören wir die Mumien nicht, und der Führer bekommt sie in die Hände und lüftet ihr Geheimn.« Eine Wehe verformte Mrs Granvilles letztes Wort in einen gequälten Schrei. Zeitgleich jagte ein weiteres Grollen durch die Tunnel. Alles um sie herum erzitterte. Das Licht flackerte, beruhigte sich aber wieder. Wie während des großen Blitzes, dem ersten Luftangriff der Deutschen vor vier Jahren. Damals hatte Agatha als Einzige ihrer Familie nicht auf den fatalen Rat der Stadt gehört, keinesfalls Schutz in den U-Bahntunneln zu suchen. Nur wegen ihrer besten Freundin war sie damals ebenfalls hierher geflüchtet. Und hatte dadurch überlebt. Dass die Granvilles sie nach dem Tod ihrer gesamten Familie so großherzig aufgenommen hatten, war nur ihrem haushälterischen Geschick sowie ihrem außergewöhnlichen Talent in der Küche zu verdanken. Und dem Fakt, dass sich die vorherige Haushälterin der Granvilles als eine Spionin des russischen Geheimdienstes entpuppt hatte. Eines hatte Agatha schnell gelernt: So glamourös das Leben der legendären Granville-Familie schien, so gefährlich war es auch. Erst recht, seit das Familienoberhaupt Charles sich der Jagd nach dem Geheimnis der Pharaonen verschrieben hatte.
Mrs Granville krümmte sich vor Schmerzen und schrie auf. Agatha glaubte zu sehen, wie sich der Bauch ihrer Dienstgeberin unter dem Kleid für einen kurzen Moment nach außen wölbte. Umgehend legte Mrs Granville ihre Hand auf die entsprechende Stelle. »Ganz ruhig, mein Kleiner. Es ist alles gut.«
Überhaupt nichts war gut. Mrs Granville gehörte in ein Bett, neben einen warmen Ofen. Sie sollte eine Schüssel mit heißem Wasser bei sich haben. Und eine Hebamme, oder wenigstens eine Frau, die mehr Erfahrungen in solchen Dingen hatte als Agatha. Schritte näherten sich. Der Polizist trat zur Seite und ließ Charles Granville hinab zu ihnen ins Gleisbett. Endlich.
»Charles!«, hauchte Mrs Granville, während ihr Mann mit rußverschmiertem Gesicht seine Finger auf ihre Lippen legte.
»Sorge dich nicht. Die Mumien sind in Sicherheit.«
Mrs Granville versuchte zu antworten. Sofort meldete sich das Kind in ihrem Leib zurück. Sie stöhnte und presste ein kurzes »Wo?« hervor.
Der Blick ihres Mannes wechselte auffallend zwischen ihr und dem Polizisten auf dem Bahnsteig hin und her. »Jetzt nicht«, antwortete er. »Nicht hier.« Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Agatha konnte genau sehen, wie er dabei ein wunderschönes Medaillon in die Hand seiner Frau gleiten ließ. »Ich liebe dich, mein .« Sein Satz stockte. Sein Kopf schnellte so auffällig schnell in Richtung des Bahnsteigs, dass auch Agatha den spähenden Blick des fremden Mannes mit einer russischen Pelzmütze auf dem Kopf bemerkte, der neugierig zu ihnen herübersah. Kaum dass seine Augen sich mit denen von Mr...
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