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Nora
Nora Walden ließ den Blick von der Tabelle in ihren Händen zu den Geschenkartikeln für die Weihnachtsstrümpfe wandern, die auf dem Tresen aufgestapelt waren: Mini-Bildbände über die Vogelarten der Region, kleine Scherzbücher über die hässlichsten Weihnachtspullis der Welt und Pappbücher in Form eines Rentiers mit einer roten Nase aus Plüsch auf dem Cover. Jedes dieser Präsente war um einiges interessanter als Noras derzeitige Lektüre. Trotz ihrer trügerischen weihnachtlichen Farbe löste der Anblick der Spalten und Reihen voller roter Zahlen alles andere als eine festliche Stimmung in ihr aus.
Frustriert versetzte Nora der Rentiernase einen Schlag, woraufhin ein lautes Quieken ertönte. Der bärtige Mann mit der Beanie auf dem Kopf, der gerade einen Reiseführer durchblätterte, ließ beinahe das Buch fallen.
»Tut mir leid.« Entschuldigend hob Nora die Hand. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.« Sie neigte den Kopf zur Seite, um den Titel des Reiseführers zu lesen. »Ah, Sri Lanka. Dort soll es ja wunderschöne Strände geben.«
Sri Lanka stand auf Charlottes Liste der Länder, die sie während ihrer einjährigen Weltreise erkunden wollte. Die Reiseabteilung der Buchhandlung war immer der Lieblingsbereich ihrer Tochter gewesen. Abgesehen von einigen Aufenthalten in Frankreich - im Ferienhaus von Simons Eltern - hatten sich die Urlaube der Familie Walden meistens auf das Vereinigte Königreich beschränkt, irgendwo auf dem Fluss in einem Hausboot oder in einem kleinen Cottage am Strand. Buchhändler verdienten nicht so viel, dass sie sich Luxusreisen ins Ausland leisten konnten, wobei diese Tatsache Nora noch nie etwas ausgemacht hatte. Sie hatte das Glück gehabt, die Welt durch Geschichten kennenzulernen, war mit Gabriel García Márquez und Isabel Allende durch Südamerika gereist und hatte mit Salman Rushdie und Vikram Seth Indien besucht. Tatsächlich war Nora noch nie in den USA gewesen, doch dank der Kurzgeschichten von Annie Proulx hatte sie in der rauen Prärie von Wyoming gezeltet. Mit den Vampiren von Anne Rice hatte sie die Düfte und Geräusche der düsteren Welt von New Orleans aufgesogen, und mit den Charakteren aus Armistead Maupins Stadtgeschichten war sie die Hügel von San Francisco hinaufgestiegen. Sie hatte das Gefühl, all diese Orte wie eine Einheimische zu kennen, weil sie in den Büchern dort gewesen war.
Charlotte dagegen hatte immer die reale Welt sehen wollen. Sie hatte stundenlang mit überkreuzten Beinen auf dem Boden der Reiseabteilung gesessen und wie ein kleiner Phileas Fogg die Routen für ihre zukünftigen Touren aufgezeichnet. Gedankenverloren fragte sich Nora, ob Charlotte wohl gerade in Sri Lanka war und sich an irgendeinem Strand sonnte. Vielleicht war sie aber auch in Mumbai. Wenn sie sich doch nur endlich melden würde . Normalerweise rief sie jeden Samstagnachmittag an oder versuchte es über Videochat, doch heute hatten sie noch nichts von ihr gehört - und in der vergangenen Woche auch nicht.
Der Mann mit der Beanie stellte das Buch ins Regal zurück.
»Soll ich Ihnen vielleicht einen anderen Reiseführer heraussuchen?«, bot Nora an. »Ich könnte Ihnen auch ein paar Romane empfehlen, die in Sri Lanka spielen. Anils Geist von Michael Ondaatje zum Beispiel ist .«
»Nein, danke«, unterbrach er sie, »ich sehe einfach mal im Internet nach.«
Nora stieß einen Seufzer aus und widmete sich wieder ihrer Buchhaltung des Grauens. Kein Wunder, dass die Zahlen so mies aussahen.
In diesem Moment ertönte ein fröhliches Glöckchengeläut, während die Tür des Buchladens geöffnet wurde. Ein kalter Windzug trug die Musik des Weihnachtsmarkts herein, der draußen auf dem Platz stattfand. Nora lächelte der Frau mit dem dunklen Locken-Bob entgegen, die gerade eingetreten war. Wie bei den meisten ihrer Stammkunden und -kundinnen kannte Nora auch ihren Namen. »Hi, Kath.«
»Da draußen kommt man sich vor wie am Nordpol.« Zitternd rieb Kath die Hände aneinander. »Ich glaube, ich habe gar kein Gefühl mehr in den Fingern.«
»Wenigstens regnet es noch nicht«, sagte Nora mit einem Blick aus dem Fenster hinter sich. Der Stowford Bookshop war berühmt für seine Schaufensterdekorationen, und wie Nora fand, hatten sie sich in diesem Jahr selbst übertroffen. Sie hatten Bestseller, Kochbücher und regionale Lektüre in Form eines Weihnachtsbaums arrangiert und darunter Geschenke gelegt, die sie in glänzendes Papier verpackt hatten. Jenseits des Fensters, oberhalb des gut besuchten Marktes, hingen jedoch unheilvolle graue Wolken am Himmel.
Nora hatte ihr ganzes Leben in Stowford verbracht - abgesehen von den zwei Jahren, in denen sie studiert hatte - und somit mehr als genügend nasse Winter im Südwesten Englands erlebt. An einen so verregneten Dezember wie diesen konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Der River Coln, der sich träge durch die Stadtmitte schlängelte, war so hoch angestiegen, dass das Wasser schon fast über die Ufer schwappte.
»Ich bin dieses Wetter so leid.« Frustriert fuhr sich Kath mit einer Hand durch ihren Bob. »Sobald ich einen Fuß vor die Tür setze, spielen meine Haare verrückt.«
Nora nickte mitfühlend. »Oh ja, das kenne ich.« Simon sagte immer, dass sie mit ihrem welligen rotbraunen Haar aussehe, als sei sie einem Porträt von Rossetti entstiegen. Bei diesem Wetter verwandelte es sich jedoch eher in eine wirre Krause - auf dem Kopf einer Frau mittleren Alters - und hatte wenig Ähnlichkeit mit den sanften Wellen der jungen Damen, die die präraffaelitischen Maler abgebildet hatten. Aber obwohl ihre kupferfarbenen Locken inzwischen von silbernen Fäden durchzogen wurden, konnte Nora sich nicht dazu überwinden, sich das Haar zu einem zweckmäßigen Bob schneiden zu lassen. Stattdessen hatte sie beschlossen, ihre Rauschgoldengelfrisur in Würde anzunehmen - was auch kostengünstiger war.
Allerdings war der Regen nicht nur für Noras dauerhaften Bad Hair Day verantwortlich - er hielt darüber hinaus die Kunden vom Laden fern, und das in einer Zeit, die eigentlich zu den umsatzstärksten Wochen des Jahres gehörte. Außerdem machte er es ihnen immer schwerer, die Löcher im Dach zu ignorieren. Wenn das Wetter nicht bald besser wurde, würde die Buchhandlung das Jahr mit roten Zahlen abschließen.
Mal wieder.
»Oh, ist das angenehm«, sagte Kath seufzend, während sie sich die Hände am Kamin im hinteren Bereich des Ladens wärmte, wo die Flammen hinter einem schmiedeeisernen Feuerschutz hin und her tanzten wie ein Ballettensemble. Ein weiches Sofa aus rotem Samt und zwei alte Ledersessel waren im Halbkreis um einen Wohnzimmertisch angeordnet, auf dem ein Teller mit selbst gebackenen Ingwerkeksen stand - nach einem Rezept, das Nora von ihrer Mum Penelope übernommen hatte. In einem Korb vor dem Feuer lag eine Westie-Dame und döste.
Ein kleiner Junge, dessen Eltern gerade die Kinderbuchabteilung durchstöberten, lief auf tapsigen Beinen zu dem weißen Hund hinüber. »Wauwau!«, rief er und kniete sich neben den Korb.
»Aufpassen, Joshie!«, warnte ihn seine Mutter.
»Das ist Merry«, erklärte Nora und ging zu dem kleinen Jungen hinüber. »Keine Angst - sie liebt Streicheleinheiten.«
Merry schlug mit dem Schwanz auf den Boden und leckte dem Jungen übers Gesicht. Eigentlich hatten sie die Hündin Merida getauft - benannt nach der schottischen Disneyprinzessin -, als sie sie vor zehn Jahren als Welpe adoptiert hatten. Schon bald hatte sie jedoch den Kosenamen Merry bekommen, weil er so gut zu ihrem fröhlichen Charakter passte. Abgesehen davon, dass sie überall ihre schneeweißen Haare hinterließ und nie lange sauber blieb, war Merry die ideale Familienhündin und das inoffizielle Maskottchen der Buchhandlung.
»Du magst offensichtlich Dinosaurier«, sagte Nora und deutete auf den T-Rex, der auf dem T-Shirt des Jungen zu sehen war.
Er nickte, während er Merry im Arm hielt.
»Wenn das so ist, habe ich das perfekte Buch für dich«, fügte Nora hinzu und ging zu den Regalen hinüber, wo sie ein Dinosaurier-Wimmelbuch heraussuchte und es dem Jungen gab.
Nachdem er sich aus der Keksschale bedient hatte, kletterte Joshie mit der Entschlossenheit eines Bergsteigers, der den Mount Everest bezwang, auf einen der rutschigen Ledersessel. Als Nora hinter ihrem Tresen angekommen war, hatte er es sich auf dem Sessel gemütlich gemacht und war so in das Bilderbuch vertieft, dass der Keks in seinem kleinen Patschehändchen ganz weich geworden war.
Nora hatte selbst unzählige Stunden in diesem Sessel verbracht, zusammen mit ihren besten Freundinnen: Anne auf Green Gables, Pippi Langstrumpf und Mary Lennox - den Heldinnen ihrer liebsten Kinderbücher. Als einziges und noch dazu schüchternes Kind einer alleinerziehenden Mutter hatte Nora bereits früh gelernt, dass man nie einsam war, solange man ein gutes Buch als Gesellschaft hatte. Eine Erkenntnis, über die sie sehr froh war - schließlich hatte sie sich oft selbst beschäftigen müssen, während ihre Mutter im Laden arbeitete.
Penelope war 1970 wegen des allerersten Glastonbury-Festivals nach Somerset gekommen und hatte ein Techtelmechtel mit einem Drummer namens Neil angefangen. Die kurze Affäre endete, noch bevor der Hauptact es auf die Bühne geschafft hatte, doch Penelope hatte sich in die Gegend verliebt und war hiergeblieben, um ihre Tochter aufzuziehen, die sie neun Monate später zur Welt brachte. Und obwohl Penelope mit ihrer unkonventionellen Hippie-Lebensart das eine oder andere Kopfschütteln der...
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