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Als er um die Ecke der Buchhandlung bog, hatte Gabriel wieder das Gefühl, dass ihm jemand folgte. Er blieb vor dem Schaufenster stehen, umklammerte die Henkel der schweren Tasche fester und betrachtete das Spiegelbild der Einkaufsstraße hinter seinem Rücken.
Die Sonne schien, der Schnee war bis auf die grauen Reste am Fahrbahnrand verschwunden und die meisten Passanten hatten ihre Mäntel aufgeknöpft. Niemand verlangsamte seine Schritte, niemand beachtete ihn oder drehte sich gar nach ihm um. Langsam zählte er bis zwanzig, ohne die Lippen zu bewegen.
Ein junges Paar mit einem Kinderwagen eilte vorbei, gefolgt von einem sehr alt wirkenden Mann mit Hut, der sich auf einen Stock stützte, und zwei Studenten mit schulterlangen Haaren, wie die Hippies, die er im Westen gesehen hatte.
Gabriel sah ihnen lange nach und merkte, dass er lächelte. Er atmete auf, ließ den Blick über die Bücher schweifen und stellte erfreut fest, dass sein Lieblingsdichter, ein früh an Tuberkulose verstorbener Arzt, neu aufgelegt worden war.
Er nahm die Tasche in die andere Hand, ließ den schlammbespritzten Trolleybus vorbeifahren und überquerte vorsichtig die Straße mit dem unebenen Kopfsteinpflaster. Als seine Frau drei Tage zuvor aus Ostberlin zurückgekommen war, hatte sie müde gescherzt, dass sie sich wie die Heldin eines Spionagefilms gefühlt habe.
»Bald ist alles vorbei, Angelika, nur noch sieben Tage.«
»Das wird die längste Woche unseres Lebens werden.«
Seit Monaten verfolgte sie beide die Angst wie ein aufdringlicher, unsympathischer Bekannter, ließ ihnen keinen Frieden, tauchte unerwartet in den alltäglichsten Situationen auf und überraschte Gabriel sogar im Schlaf.
Regelmäßig fuhr er gegen vier Uhr nachts hoch, mit klopfendem Herzen, und konnte sich nicht erinnern, was er geträumt und was ihn so erschreckt hatte. Hin und wieder griff er zu einem Schlafmittel, trotz Angelikas Missbilligung, aber es half nicht wirklich; die kleine, diskrete Tablette betäubte ihn nur, während die Angst ihn fest im Griff hielt und er sich noch ohnmächtiger und ausgelieferter fühlte.
Auf dem Hauptplatz spiegelte sich die Sonne in den Fenstern der alten Patrizierhäuser und blendete Gabriel, als er den Kopf hob, um Abschied zu nehmen. In den letzten Tagen hatte er stumm bereits vielen Straßen, Gebäuden und sogar einigen alten Bäumen Lebewohl gesagt.
Er war in dieser Stadt geboren und hatte gedacht, hier eines Tages zu sterben. Die Frau seines Lebens hatte Ostberlin verlassen, um nach Bratislava zu ziehen und eine schwere, ihr völlig unbekannte Sprache zu lernen, seine drei Kinder waren hier zur Welt gekommen und er liebte seine Arbeit am Institut.
»Sei nicht wie der Wurm, der sich in einen Apfel verbeißt und denkt, es gebe keinen besseren«, hatte sein Vater ihm früher immer wieder gesagt, um ihn zu ermuntern, abenteuerlich zu leben.
»Abenteuer in einem Ostblockland, unter der Diktatur des Proletariats?« Gabriel lachte. »Und wie macht man das?«
Sein Vater blieb ihm die Antwort schuldig, mahnte ihn aber regelmäßig mit den gleichen Worten, nicht in den eingefahrenen Gleisen zu bleiben. Das Thema schien für ihn erledigt, als Gabriel geheiratet hatte; er hieß Angelika herzlich in der Familie willkommen und verwöhnte seine Enkelkinder.
Vielleicht nahm er an, es sei zu spät für mich, dachte Gabriel, während er sich mit der Tasche umständlich durch die Drehtür des Hotel Carlton drängte. Wahrscheinlich hatte er es sich nicht einmal selbst eingestanden, aber er hatte mich aufgegeben. Die Partei hatte auch gedacht, die Falle sei nun zugeschnappt, deswegen haben sie mich zu den Kongressen in Amsterdam und Zürich fahren lassen, drei kleine Kinder und eine Frau saßen ja als Geiseln zu Hause.
Er war so in seinen inneren Monolog vertieft, dass er an der Garderobe vorbeieilte und erst an der Schwelle des Kaffeehauses merkte, dass er immer noch den Mantel und die Tasche trug.
Stumm wartete die Garderobiere mit den weißen Haaren, bis er seinen Schal in die Manteltasche gestopft und die Tasche über die Theke geschoben hatte. Er machte eine rasche Bewegung, um ihr zu helfen, als sie das schwere Gepäckstück mit beiden Händen nahm, aber sie hatte sich bereits gebückt und es verstaut. Sie schien sehr alt zu sein, wirkte älter als seine Mutter kurz vor ihrem Tod und genauso klein, zerbrechlich und resigniert. Er lächelte sie an, als sie ihm das gelbe Ticket mit der aufgedruckten Nummer gab, doch sie hielt den Blick gesenkt und kehrte gleich zu ihrem Stuhl zurück.
Josef war noch nicht da, saß an keinem der spärlich besetzten Tische, also wählte Gabriel eine Ecke, von der aus er den ganzen Raum und den Eingang überblicken konnte.
Jedes Mal, wenn er das Café des Hotel Carlton besuchte, kam es ihm schäbiger, verrauchter und verlassener vor. Sein Onkel bestand darauf, dass sie sich hier trafen, und wenn er mit ihm zusammen war, gelang es ihm durchaus, den Raum mit seinen Augen zu sehen und die Wände heller, die Möbel und Lüster glänzender und die Bedienung höflicher zu finden. Sein Vater und Josef hatten hier jahrelang die Samstagnachmittage verbracht, und ihre endlosen Gespräche über Gott und die Welt, ihre Begrüßungen der anderen Stammgäste und die Scherze, die sie mit den alten Kellnern austauschten, hatten irgendwo im Raum ihre Spuren hinterlassen, sichtbar nur für Alte und Eingeweihte.
Ein Mann betrat das Café, blieb wie suchend vor dem Eingang stehen, und Gabriel merkte sofort, dass er aus dem Westen kam. Amüsiert fragte er sich, warum er sich so sicher war; aus der Nähe hätten ihn der Stoff seines Anzugs und die Schuhe verraten, aber aus der Entfernung sah er nur eine rundliche Gestalt und ein schwammiges Profil.
Der Mann drehte das Gesicht zu Gabriel, lächelte plötzlich und nickte ihm zu.
Ich kenne ihn. Das darf nicht wahr sein, ich kenne ihn.
Mechanisch erhob er sich, während der Mann mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam.
»Mr Siget, what a surprise meeting you here!«
»A surprise indeed«, stotterte Gabriel und brachte ein Lächeln zustande, während er versuchte, sich an den Namen des Fremden zu erinnern. Er schüttelte die angebotene Hand und war zum ersten Mal froh, dass kein Kellner sich blicken ließ und die übrigen Gäste gleichgültig und taub schienen.
»Sind Sie beruflich hier oder machen Sie Urlaub?« Gabriel erinnerte sich, dass er einen halben Nachmittag auf dem Kongress in Zürich neben ihm gesessen und in der Pause einige Minuten lang mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ein Namensschild getragen, aber Gabriels sonst hervorragendes Gedächtnis versagte. Hatte er beim Mittagessen nicht am gleichen Tisch gesessen?
Der Kollege ließ sich mit der Antwort Zeit; er knöpfte seine Anzugweste auf, steckte lässig die Hände in die Hosentaschen und blickte erwartungsvoll auf die freien Stühle. »Ja, ich habe einen kleinen Abstecher aus Wien gemacht.«
Unmöglich. Niemand konnte einfach einen kleinen Abstecher aus Wien nach Bratislava machen, auch wenn die beiden Städte nur durch sechzig Kilometer voneinander getrennt waren. Es dauerte Wochen, um ein Visum zu erhalten, und wer kam schon Ende Februar auf Urlaub in diese Stadt? Minusgrade, ununterbrochener eisiger Wind, kurze Tage und lange, langweilige Nächte.
»Wohnen Sie hier im Hotel Carlton?«
Wenn er sich nur daran erinnern könnte, wie der Mann hieß und ob er Amerikaner oder Kanadier war, seinem Akzent nach war er auf keinen Fall Engländer.
»Nein, im Hotel Devín. Es wurde mir von einem Wiener Kollegen empfohlen, wegen des herrlichen Blicks auf die Donau. Ich habe ein Zimmer im vierten Stock bekommen.«
Während er sprach - eine Spur zu laut -, studierte Gabriel sein rundliches, sorgfältig rasiertes Gesicht mit dem Doppelkinn, den Koteletten und den kleinen, tief liegenden Augen aus der Nähe. Etwas stimmte nicht an diesem Zufall, etwas störte ihn an dieser Begegnung, an diesem übertrieben freundlichen Tonfall, und er erwartete beklommen, dass plötzlich etwas Unangenehmes passieren würde.
»Bleiben Sie lange in der Stadt?«
»Eine Woche. Nein, acht Tage.« Sein Gegenüber wurde übergangslos ernst. »Da fällt mir ein, dass ich Sie vielleicht aufhalte, Herr Siget.«
»Ich warte auf . ich habe eine Verabredung.« Erst jetzt merkte Gabriel, dass Josef am Eingang stand - eine magere, immer noch elegante Erscheinung - und mit einem Kellner sprach.
»Nun, dann störe ich nicht länger.« Der Mann lächelte wieder und entblößte dabei seine großen Zähne. »Ich würde Sie gern morgen Abend ins Restaurant im Devín einladen. Haben Sie...
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