Schweitzer Fachinformationen
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Der Tag ist grau und kalt. Nieselregen fällt. In seinem Licht schwebt der Pulverdampf der ersten Silvesterböller. Auf hohen Buchen, die zwischen der feuchten Luft und dem blauen Dunst aufragen, sitzen Raben. Tief unter den Ästen, auf denen die Vögel hocken, drängen sich Autos über eine Kreuzung. An deren Rand steht ein Gebilde aus Bronze und Granit. Märkische Findlinge halten es in erhabener Höhe. Es überragt vorbeieilende Fußgänger - kleiner sollen sie sich fühlen vor der Figur, die an einen Menschen erinnert. Vor den Steinen blühen die Reste einer herbstlichen Blumenrabatte. Eine flache Barriere aus geschmiedetem Stahl umrahmt dieses kleine gärtnerische Ensemble, an dem der Frost schon genagt hat. An den Flanken der Anlage stehen Parkbänke. Sie sind leer. Am Tag vor Silvester ist kein Wetter, um sich an einer Kreuzung auf Bänke zu setzen. Wozu sollte man hier auch sitzen, unter der auf Steinen thronenden Bronzefigur?
Das Gebilde aus tonnenschwerer Bronze, Granit und Feldsteinen soll uns den Dichter Theodor Fontane nahebringen. Mag sein, dass wir ihm mit Ehrfurcht entgegentreten sollen. Mag sein, dass wir uns klein fühlen sollen vor dem Werk eines Poeten. Mag sein, dass wir staunen sollen: Bis hierher ist der Schriftsteller gewandert. Wieder und wieder. Doch woher kam er? Wo eigentlich liegt Neuruppin, die Kleinstadt mit seinen dreißigtausend Einwohnern? Irgendwo im Osten Deutschlands. Nördlich von Berlin, aber noch nicht in Mecklenburg. Wer weiß schon, wie man dorthin gelangt. Und warum sollte man?
Das Denkmal stammt aus der Kaiserzeit der Deutschen. Aus jenen Jahren, die das zwanzigste Jahrhundert einläuten. Errichtet 1907, also vor dem Ersten Weltkrieg. Vor dem Sterben der Millionen. Noch bevor die roten und braunen Mächte um die Vorherrschaft in der Welt streiten. Noch bevor die Worte Schoah und Holocaust Wirklichkeit werden, noch bevor Namen wie Hitler oder Stalin die Deutschen betäuben sollten. Auschwitz ist 1907 eine nahezu unbekannte Stadt im Norden der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn und damit Teil einer europäischen Großmacht. Habsburg - mächtiger als Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen, versinkt 1918 im Mahlstrom der Zeit.
Doch was hat Fontane mit all diesem zerstörerischen Chaos zu tun? Er ist in die Zeit vor diesem Wahnsinn verwickelt, ist in dessen Vorzeit hineingeboren. Er war dabei, als die Deutschen 1871 ihre Nation gründeten. Den Streit um die Nationalhymne erlebte er als Zeitzeuge. Die Entscheidung fiel auf «Heil dir im Siegerkranz». Das Lied der Deutschen mit seinem später zu streitbarem Ruhm gelangten Vers «Deutschland, Deutschland über alles» erschien dem deutschen Kaiser zu republikanisch, zu modern. Dieses Tauziehen umgab Theodor Fontane hautnah als Journalisten und Schriftsteller. Ihn selbst betraf die damalige Zerrissenheit der Deutschen auf der Suche nach einer Ahnung vom Vaterland. Noch war die deutsche Nation nichts anderes als ein Traum von Einigkeit und Recht und Freiheit.
Zeitig bemühte Fontane sich um eine Nähe zu Hoffmann von Fallersleben, der die nationale Sehnsucht zwischen Nordsee und Alpen sowie Ostpreußen und dem Rhein in Verse verwandelte. Von der «Hymne der Deutschen», 1841 erstmals gedruckt und in Hamburg öffentlich gesungen, war Fontane begeistert. Doch Fallersleben «erntete» für seinen Text seine Entlassung als Professor an der Breslauer Universität und verlor anschließend als politisch Verfemter seine preußische Staatsbürgerschaft. Fontane nennt Fallersleben 1842 in einem seiner frühen Gedichte im Stil von Friedrich Schiller einen «Sonnenaar», einen kühnen Sonnenadler. Diese Verse sind die Replik auf ein kleines Fest in Berlin zu Ehren des von der preußischen Geheimpolizei bespitzelten Lyrikers. Auch Fontane geriet so in den Verdacht, Träger umstürzlerischer Gedanken zu sein. Bis zu seinem Lebensende misstraute man in deutschen Regierungskreisen dem, der da in Bronze auf einer Granitbank an einer Straße vor Neuruppin selbstversunken sitzt. Dabei hat Fontane so viel von der wahren Größe Preußens erzählt, von der Poesie des Adels und den erst auf den zweiten Blick sichtbaren Wundern der Mark.
Die Einheit Deutschlands ist die große Sehnsucht des jungen Fontane. Doch Frankreich duldet diese Bewegung im Nachbarland nicht. Eine weitere europäische Großmacht soll unter der Führung Preußens in Europa nicht entstehen. Da fühlt sich der Nachfahre französischer Glaubensflüchtlinge, denn so einer ist Fontane, hin und her gerissen wie so viele andere Deutsche. Unter ihnen bricht eine Debatte aus: Soll Preußen gegen Frankreich in den Krieg ziehen, um so seine staatliche Einigung zu erzwingen? Es wird der letzte Krieg sein, für den Fontane als Fürsprecher eintritt. Über diesen und die anderen Kriege seiner Zeit hat er geschrieben, ist als Kriegsberichterstatter unterwegs gewesen, hat nur durch Zufall überlebt. Ein französisches Militärgericht wollte seine Hinrichtung befehlen. In dem gefangen genommenen Journalisten aus Preußen sah man einen Spion. Lebensrettende Hilfe leistete Otto von Bismarck und nutzte dazu alle ihm zur Verfügung stehenden diplomatischen Kanäle. Der spätere Reichskanzler und der Dichter sind sich nie persönlich begegnet. Voller Achtung und in tiefem Groll haben beide voneinander gesprochen. Fontane gab mancher seiner literarischen Figuren Züge des Reichsgründers und debattierte so dessen zutiefst widersprüchliches Wesen. Verehrung und Groll stehen dicht beieinander.
Das Denkmal in Neuruppin. Die Bronze aus der Kaiserzeit prägte maßgeblich das populäre Bild Theodor Fontanes
Was wissen wir, seine Leser, von dieser verwirrenden Biographie? Von seinem Verzweifeln, von seiner Sehnsucht nach dem Leben, von seiner Schreibsucht, von seiner immer wieder enttäuschten Hoffnung, als Dichter der Deutschen gesehen zu werden? Goethe hat er gelesen wie kaum ein anderer, doch er tat es heimlich. Er empfand sich als zu klein, als zu ungebildet, um sich mit dem Dichtergenie zu messen. Und wie ein Kind unter der Bettdecke heimlich mit der Taschenlampe liest, so näherte sich Fontane ganz im Verborgenen dem deutschen Genius. Aber erst im Alter gibt er dies zu: in einem Gedicht. Darin verhüllt sich der Apothekerlehrling Theodor Fontane als Verkäufer eines Lebensmittelgeschäfts in Berlin-Marzahn und nennt sich «Fritz Katzfuß». Dieser bekennt sich unmissverständlich zu Goethe und formuliert ohne Ironie: «Du mein Ideal, mein Vorbild.» Kraft und Leben habe er aus dessen Büchern bezogen und auch Selbstsicherheit. Etwas eitel glaubt Fontane sogar, dem Weimarer Dichter äußerlich ähnlich zu sein: «All genau dasselbe, / Nur andres Haar und - keine Sommersprossen.» Eitel war Fontane. Sehr sogar. Sein die Oberlippe überragender Schnauzbart hatte seinen zunehmend zahnlosen Mund zu verbergen. Er wollte als schöner Mann gesehen werden. Egozentrik sagte man ihm nach, auch erotische Schwächen.
An der rechten Seite des Fontane-Denkmals ist eine Inschrift angebracht. Sie besteht aus vier Wörtern: «Dem Dichter der Mark». Und schon beginnen die Missverständnisse. Als Dichter einer Landschaft oder Region verstand Fontane sich nie. Als Preuße sicherlich. Vor allem aber als ein Deutscher mit französischem Namen. Die Welt grübelt heute noch immer, in welcher politischen Ecke sie diesen deutschsprachigen Autor und sein Werk ansiedeln kann. Fontane, ein blinder Preußenverehrer? Fontane, ein Reaktionär? Fontane, ein Feminist? Wer auf eindeutige Antworten hofft, wird enttäuscht werden. Hunderte Germanisten auf allen Kontinenten sind ihm auf der Spur. Eine rein deutsche Angelegenheit ist diese literarische Erkundung schon lange nicht mehr.
Berührende Romane über ungewöhnliche Frauen hat Theodor Fontane geschrieben. Sie sind übersetzt in die großen Sprachen der Welt. Doch es herrscht viel Ratlosigkeit. Was soll man denken über jemanden, der im Deutschland des Nationalsozialismus, in der Sowjetunion und in den USA gleichermaßen verehrt wurde und wird? Dessen Werk in großen Teilen inzwischen in chinesischer Sprache vorliegt? Fontane erzählt in seinem Roman «Effi Briest» von einem Chinesen, der als Diener eines Kapitäns in dem fiktiven Ostseebad Kessin an Land ging und dort auf mysteriöse Weise nach einer Hochzeit verstarb. Doch der Chinese wird nicht auf einem christlichen Friedhof, sondern zwischen den Dünen bestattet. Seitdem spukt er angeblich in Kessin und bevölkert auch Effis Albträume. Ein Grund, den Roman in die chinesische Sprache zu übertragen, ist das sicher nicht. Es ist Fontanes zeitloser Blick auf die Zusammenhänge der Welt und das Leben der Menschen, der in allen Sprachen der Welt auf neugierige Leser trifft.
Der Fontane-Kult begann nach dem Tod des Dichters 1898. Diese Zeit sich vorzustellen fällt schwer. Alles, was uns heute an technischen Hilfsmitteln zur Verfügung steht, müssen wir uns wegdenken. Die großen und schillernd leuchtenden Filmpaläste, das Radio oder das Fernsehen - all diese medialen Selbstverständlichkeiten der Moderne sind noch nicht erfunden. Der Verkauf gedruckter Zeitungen beginnt gerade erst zu boomen. Die ersten Telefonleitungen werden verlegt. Befindlichkeiten tauschen Verwandte und Freunde noch per Postkarte oder Brief aus. Wer fehlerfrei zu schreiben vermag, gilt als gebildet und ist in der Lage, soziale Grenzen zu überwinden. Wer über Geld verfügt, reist mit dem Zug durch Deutschland oder Europa. Für viele ein unerreichbarer Traum: eine Schiffsreise nach Amerika. Die «Titanic» wird seinerzeit konstruiert und 1912 als das größte Schiff der damaligen Welt...
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