Schweitzer Fachinformationen
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Reitersmann
Wenn weder Mond noch Stern vom Himmel lacht,
es draußen stürmt und braust,
jagt Mal ums Mal aus finstrer Nacht
ein Reitersmann vorbei am Haus.
Obwohl es erst vier Uhr am Nachmittag war, dämmerte es draußen schon, und ein so heftiger Wind wehte, dass sich die Bäume auf dem College-Gelände zur Seite neigten und ein paar Äste über die Fensterscheibe von Janet Moores Büro schabten. Hatten die Turbulenzen da draußen den Reiter in ihr Bewusstsein galoppieren lassen, oder lag es an dem Schweigen des Studenten, der ihr missmutig gegenübersaß? Die Zeilen stammten aus einem Kindergedicht, jenem, das Robbie jeden Abend vor dem Schlafengehen Marcus, ihrem Sohn, vorlas, und sie verfolgten sie wie eine schaurige Kindheitserinnerung, obwohl sie das Gedicht erst vor ungefähr einem Jahrzehnt als Doktorandin zum ersten Mal gehört hatte. Die Strophen hielten sie noch lange, nachdem Robbie zu ihr ins Bett gekrochen und eingeschlafen war, wach - in finstrer Nacht -, und manchmal schreckte sie nachts auf, und die Verse geisterten ihr durch den Kopf. Waren sie ihr in einem Traum erschienen, der sich wie in einer Endlosschleife stets aufs Neue wiederholte? In letzter Zeit tauchte der Reiter auch tagsüber in ihren Gedanken auf. Als sie neulich im Wald hinter dem College joggte, war ihr bewusst geworden, dass sie im Rhythmus dieses ungebetenen, unerbittlichen jambischen Versmaßes lief - Wenn weder Mond noch Stern vom Himmel lacht -, als wäre sie selbst ein Pferd. Und dann schien es ihr mit einem Mal, als liefe sie nicht durch den Wald, sondern über einen endlosen Friedhof, und sie hatte ein vertrautes Ziehen in der Brust gespürt.
Eben noch war sie wütend gewesen und hatte sich dem Gefühl, im Recht zu sein, hingegeben - schlichte, unzweideutige Emotionen, auf die sie ein Anrecht zu haben glaubte. Es machte sie wütend, dass die Studenten in ihren Seminaren eher zum Betrügen neigten als in denen ihrer männlichen Kollegen oder dazu, zu spät zu kommen, offen ihre Autorität anzuzweifeln und ihr am Ende eines Semesters mittelmäßige Beurteilungen zu geben. Und, schlimmer noch, ihre überhöhte Erwartungshaltung an sie war ihnen gar nicht bewusst. Würde man die Studenten fragen, ob sie gegenüber weiblichen Professoren voreingenommen seien, würde keiner von ihnen mit Ja antworten. Ein Lügendetektor würde sie alle auffliegen lassen, so viel war sicher.
Und das schloss mit hoher Wahrscheinlichkeit James Cox ein, der ihr jetzt gegenübersaß, den einen Fuß (der unbesockt in einem Bootsschuh steckte) über das andere Bein (in khakifarbener Hose) geschlagen, noch immer mit selbstgefälliger Miene, wenngleich ihm allmählich dämmern musste, dass sie ihn überführt hatte. Er besah sich, oder tat zumindest so, die beiden getippten Seiten, die sie ihm gegeben hatte - die eine mit seinem Namen in der oberen rechten Ecke, die andere, die vier Jahre zuvor jemand anders abgegeben hatte -, mit gespieltem Erstaunen, als wäre die Ähnlichkeit zwischen den beiden Texten ein verdammter Zufall, in der Tat höchst erstaunlich, so als ob plötzlich Tausende Frösche von einem wolkenlosen Himmel purzeln würden.
Aus dem Zimmer nebenan hörte sie, wie Tony Hope, ihr bester Freund an der Fakultät, seine Bürotür hinter sich zufallen ließ. Sie hatte ihm vorhin von dem Plagiatsvorfall berichtet, mit dem sie es aktuell zu tun hatte, und er hatte ihr angeboten, ein bisschen vor ihrer Tür herumzulungern, nur für alle Fälle, wie er meinte. Neuerdings war kein Lehrer vor Anschuldigungen gefeit. Fühlten sie sich in die Enge getrieben, beschuldigten die Studentinnen bisweilen männliche Professoren, sie sexuell belästigt zu haben, und männliche Studenten konnten, wenn sie von weiblichen Dozenten in die Zange genommen wurden, ziemlich streitlustig werden. Aber James Cox war, nicht weiter verwunderlich, zu spät gekommen, und Tony hatte sich bereits mit seinen Oberseminarstudenten im Hub Pub verabredet. Als er jetzt mit hochgezogenen Augenbrauen vor ihrer halb offen stehenden Bürotür stehen blieb, bedeutete sie ihm, alles sei in Ordnung und er solle ruhig gehen. Vermutlich war es das auch.
Tony zuckte die Schultern und imitierte dann einen reitenden Jockey, was ihr wie immer einen Schauder über den Rücken jagte. Zu Beginn dieses Semesters hatte sie den Fehler begangen, ihm von dem Reitersmann zu erzählen, davon, dass Marcus partout nicht einschlafen wollte, ehe Robbie ihm nicht das Gedicht vorgelesen hatte, und wie Robbie - sich offenbar nicht der Tatsache bewusst, wie sehr diese Verse sie aufwühlten - stets anschließend zuwendungsbedürftig und auf Sex hoffend in ihrem Schlafzimmer erschien. Hin und wieder mimte er sogar den Reiter aus diesem Gedicht, setzte sich im Bett rittlings auf sie und deklamierte pathetisch - Wenn weder Mond noch Stern vom Himmel lacht. Doch weiter kam er nie, bis sie im Flüsterton zischte: »Lass das!«, denn sie wollte nicht, dass er Marcus aufweckte, war aber auch wütend, weil er nicht begriff, wie gruselig dieses Szenario für sie war und dass es sich so gar nicht als Vorspiel eignete.
So gut es sich auch angefühlt hatte, jemandem davon zu erzählen, so war Tony Hope mitnichten die richtige Person dafür gewesen. Dabei hätte sie doch voraussehen müssen, dass er die Geschichte ins Lächerliche ziehen würde, und als sie am darauffolgenden Nachmittag nach ihrem letzten Seminar auf den Innenhof hinaustrat und jemand ihren Namen rief und sie sich umdrehte, stand Tony breitbeinig auf der Eingangsstufe der Bibliothek, in Jockey-Pose, mit gebeugten Knien, die Arme angewinkelt, unsichtbare Zügel in den nach vorn ausgestreckten Händen, mit dem Hintern rhythmisch auf und ab wippend. Im Lauf des Semesters war diese kleine Darbietung für ihn zu einer Art flexibel einsetzbaren Metapher geworden, die mal dies oder das bedeuten konnte - dass es Zeit war, wieder in den Sattel zu steigen und die nächste Unterrichtsstunde zu beginnen oder Essen in der Mensa zu fassen oder, wie jetzt gerade, es für heute gut sein zu lassen und sich ins Privatleben zu stürzen, Bis morgen, Schätzchen.
Als sie am Ende des Flurs die Flügeltür zufallen hörte, wandte sich Janet wieder ihrem Studenten zu, der mit einem Mal ein ganz anderes Gebaren an den Tag legte. Von geheucheltem Erstaunen keine Spur mehr. Wie ein abgekämpfter Boxer in der letzten Runde, der kaum mehr die Kraft hatte zu erkennen, dass die Niederlage unvermeidlich war, saß er jetzt zusammengesunken auf seinem Stuhl. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke, und hätte er auch nur eine Sekunde länger standgehalten, hätte vermutlich Janet als Erste weggesehen, doch der über die Fensterscheibe schabende Ast hatte seine Aufmerksamkeit erregt, und er sah hinaus auf die Blätterwirbel, die über den windigen Hof raschelten.
Hatte er schon öfter jemanden betrogen?, fragte sie sich. Hatte er es sich in seinem noch jungen Leben bereits zur Gewohnheit gemacht, andere hinters Licht zu führen? Aber selbst wenn, dann spielte es keine Rolle; er hatte sie jetzt getäuscht, in ihrem Seminar, und sie hatte ihn dabei erwischt, nachdem sie sämtliche Hausarbeiten der letzten vier Jahre durchforstet und den von ihm kopierten Essay gefunden hatte. Mehrere Stunden hatte sie das gekostet, Zeit, die zu vergeuden sie sich eigentlich nicht leisten konnte, schon gar nicht zwei Tage vor Thanksgiving. Im Wissen, welchen Ärger sie sich womöglich einhandelte, hätte sie die Angelegenheit beinahe auf sich beruhen lassen. Auch war sie sich nicht hundertprozentig sicher gewesen. Cox' Essay kam ihr irgendwie bekannt vor, aber, so dachte sie, es war auch möglich, dass er sie nur an einen mit einem ähnlichen Thema und einer ähnlichen These erinnerte. Und selbst wenn sie recht hatte, was brächte ihr das? Den Beweis, dass sie ein gutes Gedächtnis hatte? Das wusste sie bereits. Eine Rechtfertigung für ihre Abneigung gegenüber diesem Studenten? Dafür hatte sie bereits Dutzende Gründe. Saß er nicht schon das ganze Semester über zwischen mürrischer Unaufmerksamkeit und starrsinniger Verweigerung schwankend in ihren Seminaren, um sie dann draußen im Flur mit halbherzigen Entschuldigungen zu belästigen oder ihr zu versichern, er habe nicht die Absicht gehabt, sie im Unterricht zu nerven? Aber Sie sind nun mal eine verdammte Nervensäge! Das lag ihr schon seit September auf der Zunge. Tony Hope hätte nicht lange herumgefackelt und es laut ausgesprochen.
Überhaupt wäre er ganz anders mit dieser Situation umgegangen. Wenn Tony mit akademischer Unehrlichkeit konfrontiert war, ging er beherzt dagegen an - in Janets Augen sogar verwegen. Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, einen Studenten ohne handfeste Beweise zur Rede zu stellen, während Tony - zu faul, um Beweise zu sammeln, wie er freimütig einräumte - einfach sein Pokergesicht aufsetzte und zu zocken begann, als hätte er das absolute Siegerblatt in der Hand. Er hatte ihr empfohlen, den Verdächtigen freiheraus mit zwei Fragen zu konfrontieren: Ist das Ihre eigene Arbeit? Und: Wären Sie in der Lage, den Essay unter meiner Aufsicht zu reproduzieren? Wobei sich die zweite, wie Tony behauptet hatte, so gut wie immer erübrigte, weil der Delinquent in der Regel bereits bei der ersten Frage die Segel streiche. Außerdem erfordere es Rückgrat, um auf die zweite mit Ja zu antworten, was den meisten Studenten in den ersten Semestern fehle. Nur die abgebrühtesten, versiertesten Schwindler schlüpften durch sein engmaschiges Netz. Tony unterschied sich auch insofern von ihr, als dass er Unehrlichkeit niemals persönlich nahm, weswegen sie ihn, stutzig...
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